Sechsundzwanzigstes Capitel.

[296] Hinter diesen Eisengittern stand ich am nächsten Morgen und schaute melancholisch durch das offene Fenster. Seltsam, ich hätte den Abend zuvor nicht gedacht, daß diese Gitter in mir noch eine unangenehme Empfindung hervorrufen könnten, und doch war es der Fall. Sie mahnten mich ernst an das, was ich in den letzten Wochen so gut wie vergessen hatte, mahnten mich daran, daß ich trotz alledem ein Gefangener war! »Es bleibt beim Alten,« hatte gestern der Director gesagt, als ich mich von ihm verabschiedete, und Alle hatten sie gewetteifert, den letzten Tag, den ich als Gast unter ihrem Dach weilte, zu einem Familienfeste zu machen – aber, so oder so, es war doch nicht das Alte. Das Frühstück hatte mir heute Morgen nicht geschmeckt wie die Tage vorher, wo ich es unter den hohen Bäumen des stillen Gartens in Gesellschaft von Frau von Zehren und Paula eingenommen, und wenn ich auch, sobald ich wollte, in den Garten, der freundlich zu mir heraufgrüßte, hinabgehen konnte – ich mußte doch nach einer gewissen Zeit hierher zurückkehren.

Hierher!

Ich sah mich in der Zelle um und bemerkte jetzt erst, wie sie sich bemüht hatten, mich vergessen zu machen, wo ich war. Da hing das Bild der Sixtinischen Madonna mit dem Knaben, das mir während meiner Krankheit so lieb geworden war, meinem Bette gegenüber, gerade wie es in Paula's Zimmer gehangen hatte. Da standen auf der Commode dieselben beiden Vasen aus Terracotta und in jeder ein paar frische Rosen. Da war der Lehnstuhl – derselbe Stuhl, in welchem ich also nicht, wie Doctor Snellius prophezeit, zum letzten Male gesessen hatte – und auf der Lehne lag eine gehäkelte Decke, an der ich gestern Abend noch Paula hatte arbeiten sehen. Da hing dieselbe Etagere mit denselben schon eingebundenen Büchern: Goethe's »Faust«, Schillers, Lessings Werke, deren Lectüre mir Paula so oft dringend empfohlen und in die ich doch kaum noch hineingesehen – ach! sie hatten gethan, was sie konnten, mir mein Gefängniß so behaglich, so freundlich als möglich zu machen; aber bewies nicht gerade die Mühe, die sie sich gegeben, daß es ein Gefängniß war,[297] daß die Episode meiner Scheinfreiheit abgeschlossen? Jawohl, man war gut, unendlich gut gegen mich gewesen, unter der freundlich lächelnden Maske der Samariter-Barmherzigkeit gegen einen Todtkranken, die man beiseite legen mußte, sobald ein Pharisäer des Weges kam und scheelen Blicks auf das rührende Schauspiel sah. Nein, nein! ich war und blieb ein Gefangener, mochte man mir nun meine Ketten mit Rosen schmücken oder nicht!

Daß ich sie nicht hatte zerbrechen können! Zwar, wie ich es angefangen, war es unmöglich gewesen; aber wer hatte es mich so plump anfangen heißen? Weshalb war ich nicht für mich geblieben, hatte ruhig der eigenen Kraft, der eigenen Klugheit vertraut und irgend einem glücklichen Zufalle, der doch über kurz oder lang sich dargeboten haben würde. Jetzt, nachdem es so gekommen, nachdem ich diesen Menschen so viel Dank schuldig geworden, nachdem ich sie so lieb gewonnen, war ich doppelt und dreifach ein Gefangener. Ich hatte für das süße Linsengericht der Freundschaft und Liebe das heiligste, das erste, unveräußerliche Recht, das mit dem Menschen geboren wird, und das die Athemluft seiner Seele ist – das Recht der Freiheit verkauft. Sieben Jahre, sieben lange, lange Jahre!

Ich schritt in meiner Zelle auf und ab. Zum ersten Male seit meiner Krankheit fühlte ich wieder etwas von der alten Kraft; es war ein Bruchtheil nur, aber doch genug, um mir auch einen Theil der alten schweifenden Laune, der alten Unbändigkeit wiederzugeben. Wie mußte es nun erst sein, wenn ich mich wieder ganz fühlte, der ich war? Mußte mich nicht dieser Zustand, wo mich nichts halten sollte als ich mich selbst, rasend machen? Wäre es nicht besser gewesen, man hätte mir die alte Sclaverei gelassen und den Traum, doch noch einmal die Bande zerreißen zu können, selbst wenn dieser Traum nie in Erfüllung ging?

»Da ist ein junger Mensch, der uns zu sprechen wünscht,« meldete der Wachtmeister. Seit meiner Krankheit, wo »wir« so viel zusammen durchgemacht hatten, sprach er manchmal in demselben Pluralis mit mir, dessen er alle würdigte, die sich seiner Meinung nach ein volles Anrecht an sein ehrliches Herz erworben hatten, zum Beispiel der Director und sämmtliche Mitglieder der Familie des Directors, den Doctor einbegriffen.[298]

»Was ist das für ein Mensch?« fragte ich, während ein freudiger Schrecken mich durchzuckte. Ich hatte, ich weiß nicht wie, diesen seltenen Besuch – so lange ich gefangen saß, war es das erste Mal, daß mich Jemand zu sprechen verlangte – mit den Gedanken, die eben durch meine Seele gingen, in Verbindung gebracht.

»Man sieht aus wie ein Schiffer,« erwiederte der Wachtmeister, »und sagt, man habe Nachrichten von unserm verstorbenen Bruder.«

Dies klang äußerst unwahrscheinlich. Mein Bruder Fritz war schon seit fünf Jahren todt; er war in einer stürmischen Nacht von der Fockmast-Raae über Bord gefallen und ertrunken. Das Schiff war später wohlbehalten zurückgekehrt; es schwebte kein Geheimniß irgend einer Art über meines Bruders Tod; wenn mir Jemand jetzt Nachrichten von seinem Ende brachte, mußte es damit eine andere Bewandtniß haben.

»Und darf ich ihn sprechen, Süßmilch?« fragte ich in möglichst gleichgiltigem Tone, während mir das Herz bis in den Hals schlug.

»Wir können sprechen, wen wir wollen.«

»So lassen Sie ihn herein, Süßmilch, und hören Sie, lieber Süßmilch, wenn es ein Schiffer ist, so trinkt er gewiß gern einen Schluck; vielleicht könnten Sie mir etwas der Art verschaffen?«

Welche überflüssige Mühe sich und Anderen ein Mensch mit bösem Gewissen macht! Ich mußte nothwendig lügen, was mir immer sauer ankam, um den Alten los zu werden, und der ehrliche Süßmilch, der nicht daran dachte, bei meiner Zusammenkunft mit dem Unbekannten zugegen sein zu wollen, mußte zwei Treppen hinab in die Küche.

»Aber wir selbst dürfen keinen Tropfen nicht trinken,« sagte der Alte verwarnend.

»Seien Sie unbesorgt!«

Er ging, nachdem er vorher die vierschrötige Gestalt eines mir gänzlich unbekannten, schwarzbraunen Mannes in Schiffertracht zur Thür hineincomplimentirt.

Ich starrte den Fremden, dessen Aussehen und Benehmen, milde ausgedrückt, höchst ungewöhnlich waren, sprachlos an, erschrak aber ernstlich, als derselbe, sobald sich die Thür hinter dem Wachtmeister geschlossen, ohne ein Wort zu sprechen, aus seinem breitrandigen Hut einen eben solchen Hut herausschleuderte,[299] mit der Hast eines vollkommen Verrückten, aber auch mit der Gewandtheit eines Circus-Clowns sich die Kleider vom Leibe zu reißen begann, und alsbald – o Wunder! – in genau derselben Tracht, die nun in ihren verschiedenen Bestandtheilen zu seinen Füßen lag, vor mir stand, während ein triumphirendes Lächeln zwei Reihen der allerweißesten Zähne zeigte. –

»Klaus!« rief ich in freudigem Erschrecken, »Klaus!«

Das weiße Gebiß wurde bis zu den letzten Backenzähnen sichtbar. Er ergriff meine ausgestreckten Hände, erinnerte sich aber sogleich, daß dergleichen Freundschaftsbezeigungen nicht zur Rolle gehörten, und flüsterte hastig: »Nur schnell hinein, es paßt – eingelegte Falten, die von selbst aufgehen – nur schnell, ehe er wiederkommt.«

»Und Du, Klaus?«

»Ich bleibe hier.«

»Anstatt meiner?«

»Ja.«

»Aber man würde das doch bestenfalls nach fünf Minuten entdecken.«

»So haben Sie Zeit gehabt, herauszukommen und Herauskommen und Fortkommen ist doch bei Ihnen Eins.«

»Aber denkst Du, daß sie Dir das so ungestraft hingehen lassen werden?«

»Sie können mich doch höchstens anstatt Ihrer einsperren, und das sollte nicht lange dauern. Mit den Schlössern würde ich bald fertig, und hier – er zeigte eine Uhrfedersäge, die er aus seinem dichten Haare zog – damit feile ich Ihnen das Gitter da in einer Viertelstunde durch.«

»Klaus, das Alles kommt nicht aus Deinem Kopfe!«

»Nein, aus Christel ihrem; aber ich bitte Sie, machen Sie schnell.«

Ich schleuderte den Schifferanzug, der noch immer auf der Erde lag, mit dem Fuße unter das Bett, denn ich hörte den Wachtmeister den Corridor heraufkommen. Er klopfte an die Thür und reichte mir, als ich öffnete, eine Flasche Branntwein und ein Glas.

»Aber nicht wahr, wir sind kein Bär und trinken keinen Tropfen nicht?«

Klaus blickte höchst verwundert drein, als er den gefürchteten Aufseher sich in einen so bescheidenen Aufwärter verwandeln sah.[300]

Ich schloß die Thür wieder, dann fiel ich dem guten Klaus um den Hals. Die Thränen standen mir in den Augen.

»Guter, lieber Klaus,« rief ich, »Du und Deine Christel, Ihr seid die besten Menschen von der Welt; aber ich kann Euer großmüthiges Opfer nicht annehmen, würde es unter keinen Umständen und keiner Bedingung angenommen haben, und jetzt ist vollends nicht die Rede davon. Ich könnte jeden Augenblick von hier fort, wenn ich wollte; aber ich will nicht, Klaus, ich will nicht.«

Hier umarmte ich Klaus auf's neue und ließ den Thränen, die ich vorhin zurückgehalten, freien Lauf. Es war mir, als wüßte ich jetzt zum ersten Male, daß ich ein Gefangener sei, jetzt, wo ich es ausgesprochen, daß ich es sein wolle, wo ich mich selbst dazu gemacht. Klaus, der natürlich keine Ahnung von dem hatte, was in mir vorging, suchte mich noch immer, indem er ängstliche Blicke nach der Thür warf, mit leisen Worten zu bereden, ihn anstatt meiner sitzen zu lassen; er wette seinen Kopf dagegen, daß er in vierundzwanzig Stunden heraus sei.

»Klaus, Klaus!« rief ich, indem ich ihn auf die dicken Wangen klopfte, »Du willst mich betrügen. Gestehe es, Du hast selbst nicht daran gedacht, so bald loszukommen.«

»Nun ja,« erwiederte er sehr beschämt, »aber meine Frau meinte –«

»Deine Frau, Klaus, Deine Frau!«

»Wir sind ja seit acht Wochen verheirathet.«

Ich drückte Klaus in den Lehnstuhl, setzte mich vor ihn und bat ihn, mir zu erzählen. Es sei die größte Wohlthat, die er mir erweisen könne, wenn er mir sage, daß es ihm gut gehe; mir gehe es auch keineswegs so schlecht, wie er sich in seiner treuen Freundesseele vorgestellt habe, und dabei gab ich ihm in kurzen Worten einen Abriß meiner Abenteuer im Gefängnisse, meines Fluchtversuches, meiner Krankheit, meiner Freundschaft mit dem Director und seiner Familie.

»Du siehst,« schloß ich, »ich bin in jeder Beziehung gut aufgehoben, und nun muß ich durchaus wissen, wie es Dir, wie es Euch ergangen ist, und wie Ihr so schnell Mann und Frau geworden seid. Zweiundzwanzig Jahre, Klaus, und schon verheirathet! Wie weit wirst Du es noch bringen? Und Deine Christel hat Dich weggelassen? Klaus, Klaus, das gefällt mir nicht.«[301]

Ich lachte ihn an, und Klaus, der nun endlich doch begriffen hatte, daß aus der Entführung nichts werden könne, lachte auch, aber nicht aus freiem Herzen.

»Ja, das ist es eben,« sagte er, »was für ein Gesicht wird sie machen, wenn ich ohne Sie zurückkomme!«

»Ohne Dich, Klaus!« sagte ich, »ich brauche es mir jetzt nicht mehr gefallen zu lassen, daß Du unsere alte Bruderschaft verleugnest; ich nehme sonst an, Du wolltest mit einem Gefangenen nicht auf Du und Du stehen. Also, sie wird ein Gesicht machen, wenn Du ohne mich zurückkommst?«

»Ja,« erwiederte Klaus, »und was für ein Gesicht! Wir sind so glücklich, aber immer sagt Eines oder das Andere: und er muß sitzen! und dann war es vorbei mit dem Glück, besonders weil Christel doch eigentlich schuld ist, daß Sie – daß Du hier bist; denn wenn sie Dich an dem Morgen in Zanowitz –«

»Klaus!« unterbrach ich ihn, »weißt Du denn, daß ich eine Zeit lang glaubte, Deine Christel habe selbst die Anzeige gemacht, um von Deinem Vater loszukommen?«

»Nein,« sagte Klaus, »das hat sie, Gott sei Dank, nicht gethan, obgleich sie mehr als Einmal ganz verzweifelt gewesen ist und sich das Leben hat nehmen wollen.«

Er wischte sich mit der Hand über die Stirn; es war ein trauriges Thema, das ich da berührt hatte. Wir saßen uns ein paar Augenblicke schweigend gegenüber, endlich fing Klaus wieder an:

»Ein Gutes hat es freilich gehabt: ›er‹ – Klaus hatte sich bereits seiner Christel Ausdrucksweise angewöhnt, die ›ihn‹ nie bei Namen nannte – ›er mußte natürlich seine Vormundschaft Christels niederlegen, und, als ein Bescholtener, hatte er auch, was mich anbetraf, nicht mehr viel dreinzureden. Tante Julchen in Zanowitz, bei der Christel seit der Zeit geblieben ist, hat die Ausstattung gemacht, und so hätten wir leben können wie die Engel, wenn –‹ und Klaus schüttelte mit einem wehmüthigen Blicke auf mich seinen dicken Kopf.«

»Und Du bist noch immer in Berlin, in des Commerzienrathes Maschinenfabrik?« fragte ich, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

»Nun natürlich!« sagte er, »ich bin sogar schon avancirt – zum Werkführer in meiner Abtheilung.«[302]

»Und da verdienst Du tüchtig Geld?«

»Daß wir gar nicht wissen, wo damit bleiben.«

»Denn Christel ist eine excellente Haushälterin –«

»Und wascht und plättet, daß es in unserer ganzen Wohnung immerzu nach Seife und Plätteisen riecht.«

Klaus zeigte seine Zähne; ich drückte ihm zum Zeichen meiner Theilnahme an seinem Glücke die Hand, obgleich ich für die von ihm bewunderten Gerüche niemals sehr eingenommen gewesen war; aber nur noch dringender als vorhin wünschte ich jetzt zu wissen, wie dies glückliche junge Paar es über das Herz gebracht hatte, sein Glück so grausam auf's Spiel zu setzen.

»Ich sagte Dir ja schon,« erwiederte Klaus, »es war kein rechtes Glück. Wo wir gingen und standen und, waren wir recht vergnügt, am allermeisten, immer kam uns der Gedanke: wenn er doch einmal dabei sein könnte! und heute vor vier Wochen bei der Bierkaltschale – na, da ging es nicht länger.«

»Bei der Bierkaltschale?« fragte ich verwundert.

»Weil Du Dir des Sommers immer Bierkaltschale in der Schmiede machen ließest, wenn Du Dir einmal recht was zugute thun wolltest, weißt Du noch? Christel hat Dir so oft welche gemacht. Nun, als wir vor vier Wochen zum ersten Male Kaltschale aßen – sie haben in Berlin ein herrliches Bier dazu, noch viel besser als unseres, das immer ein wenig bitter war – ja, und ich mir's schmecken lasse, legt Christel plötzlich den Löffel hin, fängt an zu heulen und ich weiß gleich, was es giebt und fange auch an, und wir essen und heulen immerzu, und als wir fertig sind, sagen wir aus einem Munde: So geht es nicht länger! Nun, und da haben wir denn die Köpfe zusammengesteckt –«

»Wie an dem Abende, als ich Euch auf der Haide begegnete, he, Klaus?«

»Und haben's endlich herausgebracht,« fuhr Klaus fort, der über meine indiscrete Bemerkung roth geworden sein würde, wenn das bei seiner Gesichtsfarbe möglich gewesen wäre, – »das heißt: Christel hat's herausgebracht; sie hatte gerade so eine Geschichte gelesen, blos, daß der Gefangene ein Königssohn und sein Befreier ein Ritter war, der sich in einen Priester verkleidet hatte; nun, das ging nun schon nicht, aber Seemann, sagte Christel, das müßte gehen, denn hier[303] im Arbeitshause säße gewiß manche Theerjacke, und es würden also auch welche zum Besuch kommen. Ueberdies, sagte Christel, wäre in einem Hafenorte Seemannstracht die beste Verkleidung. Kurz, wir übten es uns ein –«

»Uebtet es Euch ein?«

»Nun ja, es war gar nicht leicht; wir haben wohl eine Woche lang, wenn ich Abends von der Arbeit kam, Probe gehabt, bis Christel zuletzt sagte, nun ginge es zur Noth.«

»Es ging famos, Klaus!«

»Ja, aber was hat es nun geholfen?« sagte Klaus mit einem wehmüthigen Blicke unter das Bett, »und daß ich mir die Ohren habe aufbohren lassen, um die Ringe da hineinzubekommen? und daß mir Christel jeden Morgen das Gesicht mit Speck eingerieben hat –«

»Mit Speck?«

»Ich müsse aussehen wie Einer, der von drüben kommt,« sagte Christel, »und da ist nichts besser als Speck und hernach die Gluth von einem Schmelzofen drauf.«

»Du siehst aus wie ein Mulatte, Klaus!«

»Das sagte Christel auch; aber was hilft es nun, und wenn ich wie ein Neger aussähe, da Du doch einmal nicht fortwillst!«

»Das hilfst es, Klaus!« rief ich, indem ich dem treuen Menschen von neuem um den Hals fiel, »daß Du, daß Ihr mir die glücklichste Stunde bereitet habt; ja, Klaus, eine so glückliche Stunde, wie ich sie wahrhaftig nicht gehabt hätte, wäre ich Deinem großmüthigen Anerbieten gefolgt. Gott segne Euch, Klaus, für Eure Liebe, und wenn ich erst wieder frei und ein reicher Mann bin, dann will ich's Euch wieder heimzahlen mit allen Zinsen. Und nun, Du guter Kerl, mußt Du fort; ich soll in dieser Stunde zum Director kommen. Und hörst Du, Klaus, Du reisest gleich zurück, ohne Dich eine Minute länger als nöthig aufzuhalten, und noch Eines, Klaus, wenn das Aelteste ein Junge wird –«

»So heißt er Georg, das haben wir schon längst ausgemacht,« sagte Klaus und zeigte die letzten Backenzähne.

Ich hatte Klaus zur Thür hinausgeschoben und ging noch in voller Aufregung über das eben Erlebte im Zimmer auf und ab, als mir plötzlich der Anzug wieder einfiel, den ich vorhin unter das Bett geschoben, und den wir in der Aufregung nachträglich ganz und gar vergessen hatten. Ich[304] zog ihn jetzt hervor und konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Jacke von grobem Tuch anzuprobiren. Es war, wie Klaus gesagt. An den Aermeln, an dem Rücken, an den Schößen waren Nähte so geschickt eingelegt, daß ich nur tüchtig daran zu zupfen brauchte, so fielen sie heraus, und obgleich ich einen Kopf größer und ein paar Zoll breiter in den Schultern war als Klaus, saß mir das Kleidungsstück doch als wäre es eigens für mich gemacht. Nicht anders war es mit der Weste, den Beinkleidern; es war Alles so vollkommen, daß ich es bequem über meine Kleidung ziehen konnte, wozu allerdings der Umstand, daß ich jetzt so viel magerer als sonst, beitragen mochte.

Eben war ich mit der Maskerade fertig, da klopfte es an die Thür. Es konnte nur der Wachtmeister, oder der Doctor sein, der um diese Zeit zu kommen pflegte. Ich setzte mich an den Tisch mit dem Rücken nach der Thür zu und rief: »Herein!«

Es war der Wachtmeister.

Er steckte den Kopf herein und fing an: »Wir möchten heute Morgen erst um elf Uhr zum Herrn Rittmeister kommen, weil –« unterbrach sich aber, da es ihm sonderbar erscheinen mochte, daß der fremde Seemann so still dasaß und ich mich nicht zeigte. Er kam ganz herein und fragte: »Wo sind wir denn?«

»Zum Teufel!« antwortete ich, ohne mich umzuwenden, und das breite Platt, mit welchem sich Klaus sehr geschickt introducirt hatte – auch das war ein Theil seiner Rolle gewesen – so gut ich konnte, nachahmend.

»Man mache keine schlechten Witze,« sagte der Alte.

»Und nun komm ich an die Reihe!« rief ich, aufspringend und an dem erschrockenen Wachtmeister vorüber zur Thür hinauseilend, die ich zuschlug und den Schlüssel umdrehte.

Da lag der lange Corridor vor mir, kein Mensch war zu sehen. Es war eine Kleinigkeit, die Treppen hinab auf den Wirthschaftshof zu gelangen, von dem Wirthschaftshof durch eine Seitenpforte, die, wie ich wußte, um diese Zeit nie verschlossen war, auf eine Nebengasse. Mich nach Klaus Herberge hinzufragen, konnte nicht schwer halten; vielleicht war ich noch vor ihm da – in zehn Minuten hatten wir die Stadt verlassen – und –[305]

»Guten Morgen, Herr Süßmilch, wie befinden wir uns,« fragte ich, die Thür wieder öffnend.

Der Wachtmeister stand noch auf derselben Stelle und hatte, wenn man aus seinem ehrlichen, verblüfften Gesichte schließen durfte, bis jetzt keineswegs begriffen, um was es sich handelte. Ich zog den breitrandigen Hut, machte ihm, mit dem rechten Fuß hinten ausschlagend, einen tiefen Bückling und sagte: »Habe die Ehre, mich wieder unter dero hochverehrliche Aufsicht zu stellen.«

»Da soll man doch aber einen Zahnstocher für ein Scheunenthor ansehen,« rief der Alte, dem endlich eine Ahnung des wahren Sachverhaltes aufdämmerte. »Dieser Schellfisch von einem braungeräucherten Flunder! Sollte man da nicht gleich zu einem Bär mit sieben Sinnen werden!«

»Still,« rief ich, »ich höre den Doctor kommen! Kein Wort, lieber Süßmilch,« und ich schob den Alten zur Thür hinaus, durch die gleich darauf Doctor Snellius eilig, wie es seine Gewohnheit, mit dem Hute in der Hand eintrat.

Er stutzte, blickte mich an, sah sich im Zimmer um, blickte mich wieder an und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus.

Ich streifte im Nu die Seemannshülle ab, die ich unter das Bett schob und rief zur Thür hinaus hinter ihm her in meiner natürlichen Stimme: »Warum gehen Sie denn wieder weg, Doctor?«

Er kehrte sofort um, kam in das Zimmer, setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber und starrte mich durch seine runden Brillengläser unverwandt an; mir kam es vor, als ob er blaß aussehe: ich fürchtete, daß ich den Scherz zu weit getrieben und den cholerischen Mann ernstlich beleidigt habe.

»Doctor,« begann ich –

»Es ist mir eben etwas sehr Seltsames passirt,« unterbrach er mich, immer mit demselben starren Blick.

»Was haben Sie, Doctor?« fragte ich, bestürzt über sein Aussehen und über den ungewöhnlich sanften Ton, in welchem er sprach.

»Ich habe jetzt nichts, aber eben habe ich eine höchst merkwürdige Hallucination gehabt.«

»Was haben Sie gehabt?«

»Eine Hallucination, eine vollkommen ausgebildete Hallucination. Denken Sie sich, lieber Freund, als ich vorhin in Ihr Zimmer trete, sehe ich einen Matrosen vor mir stehen,[306] von ungefähr derselben Größe, wie Sie, vielleicht einen oder anderthalb Zoll kleiner, aber ebenso breit in den Schultern; grobe Seemannsjacke, graue Beinkleider, breiten Strohhut, wie ihn die Westindienfahrer zu tragen pflegen, mit genau – nein: nicht genau, aber doch ungefähr Ihren Zügen: – ich sah die Gestalt so deutlich, wie ich Sie hier jetzt sehe – sie konnte nicht deutlicher sein! Die Täuschung war so vollkommen, daß ich glaubte, man habe Ihnen ein anderes Zimmer angewiesen, und hinausging, um Süßmilch, der mir eben auf dem Corridor begegnet war, zu fragen: wie er darauf gekommen sei, unser gesündestes Zimmer dem ersten besten neuen Ankömmling zu geben? Lächeln Sie nicht, lieber Freund; die Sache ist nicht lächerlich, wenigstens nicht für mich. Es ist das erste Mal, daß mir dergleichen begegnet ist, obgleich ich bei meinen fortwährenden Kopfcongestionen darauf wohl hätte gefaßt sein können. Ich weiß, daß ich am Gehirnschlage sterben werde, und wenn ich es nicht gewußt hätte, so wüßte ich es jetzt.«

Er nahm die Uhr und faßte nach seinem Puls: »Wunderlich, mein Puls ist vollkommen normal, und ich habe mich heute den ganzen Morgen ganz ausnahmsweise wohl und heiter gefühlt.«

»Lieber Doctor,« sagte ich, »wer weiß, was Sie gesehen haben! Ihr gelehrten Leute habt ja immer so seltsame Einfälle; Gott weiß, aus was für einer Mücke Sie da einen wissenschaftlichen Elephanten machen.«

»Wissenschaftlicher Elephant ist gut,« sagte der Doctor; »man sollte einem unwissenschaftlichen Mammuth wie Ihnen dergleichen Ausdrücke gar nicht zutrauen; – sehr gut: aber im Uebrigen irren Sie. Das mag von Anderen gelten, nicht von mir; ich beobachte zu kaltblütig, um ganz schlecht beobachten zu können. Ich sagte Ihnen schon, mein Puls ist normal, durchaus normal, und sämmtliche Functionen sind in vollkommenster Ordnung; die Sache muß also einen tieferen physiologischen Grund haben, der sich für den Augenblick meiner Beobachtung entzieht, denn das psychologische Motiv –«

»Also ein psychologisches Motiv haben Sie wenigstens,« sagte ich, der ich die Unschicklichkeit beging, mich an den Scrupeln des gelehrten Freundes höchlichst zu ergötzen.

»Allerdings, und ich will es Ihnen mittheilen, auf die[307] Gefahr, Ihnen zu Ihrem schadenfrohen Grinsen noch mehr Stoff zu geben. Ich habe nämlich die ganze Nacht von Ihnen geträumt, Sie Mammuth, und zwar immer denselben Traum, wenn auch in den verschiedensten Formen, nämlich, daß Sie von hier ausbrachen oder ausbrechen wollten, oder ausgebrochen waren, indem Sie sich bald an einem Strick aus dem Fenster ließen, bald über die Dächer kletterten, bald von der Mauer sprangen, und was man denn einem Menschen von Ihren physischen und moralischen Qualitäten sonst noch für halsbrechende Experimente zutraut, und zwar waren Sie immer in anderer Kleidung, bald als Schornsteinfeger, bald als Maurer, bald als Seiltänzer und so weiter. Nun fragte ich mich beim Erwachen, was dieser Traum zu bedeuten habe, und ich sagte mir Folgendes: Der Georg Hartwig ist jetzt freilich wieder in seinem Gefängnisse, aber der Ausnahmezustand, in dem er sich hier befindet, und den du ihm in erster Linie von Herzen gönnst, dauert doch fort und ebenso die Gefahr, die in diesem – geben wir es zu – ordnungs- und reglementwidrigen Verhältnisse für unsern edlen Freund, den Director, liegt; denn, sagte ich mir, einem jeden Geschöpfe ist nur in dem Elemente wohl, für das es geboren ist. Der Frosch springt von dem goldenen Stuhle in den heimischen Sumpf und der Vogel entflieht, sobald er kann, und wenn du ihm das Gitter mit Zucker versilberst. Könnte es diesem Menschen, der, wenn Einer, sich nach Freiheit sehnen muß, nicht ebenso gehen? Könnte er nicht in einer schwachen Stunde vergessen, welche Rücksichten er Herrn von Zehren schuldig ist vergessen, daß der Mann eigentlich seine Stellung gewissermaßen um seinetwillen auf's Spiel setzt, und in dieser schwachen, vergeßlichen Stunde davonlaufen? Und wissen Sie, junges Mammuth, ich nahm mir vor, der ich auch einigen Antheil an Ihnen zu haben glaube, ganz in aller Stille und Freundschaft, Sie um Ihr Wort zu bitten, daß, wenn Ihnen eine solche Stunde kommt, Sie nur an Ihre Ehre und an nichts Anderes denken wollen. Sehen Sie, das nahm ich mir vor und diese Gedanken bewegte ich in meiner Seele, als ich den Corridor heraufkam, und war unschlüssig, weil ich dachte: das Wort wird er sich bereits selbst gegeben haben, und folglich ist es überflüssig, daß er es Dir noch giebt. Jetzt aber, nach dieser sonderbaren Fortsetzung meines Traumes in die Wirklichkeit – für mich nebenbei ein memento[308] mori – bitte ich Sie um Lebens und Sterbens willen, geben Sie mir Ihr Wort! Hm, hm, hm!«

Ich hatte längst aufgehört zu lachen und reichte jetzt dem guten Doctor, während er sich herabstimmte, gerührt die Hand und sagte: »Von ganzem Herzen gebe ich es Ihnen, wenn es auch wahr ist, daß ich es mir bereits selbst gegeben habe, und das ist noch keine zehn Minuten her. Und was die Hallucination anbetrifft, so beruhigen Sie sich darüber, Doctor; hier liegt Ihr memento mori!«

Ich zog bei diesen Worten den Schifferanzug unter dem Bette hervor, fuhr auch in die Jacke hinein und setzte den Hut auf, den Beweis noch zwingender zu machen.

»Also Sie haben doch fortgewollt;« sagte der Doctor, der als ein kluger Mann die Hallucination schleunig fallen ließ, um wenigstens den Traum zu retten.

»Nein,« sagte ich, »aber Andere haben mich versucht und ich habe mit ihnen gerungen, und diesen Mantel haben sie mir zurückgelassen.«

»Den Sie,« erwiederte Dr. Snellius nachdenklich, »als Opferspende an der Tempelwand aufhängen können; denn, wenn ich auch nicht weiß, wie dies geschehen ist, so viel sehe ich: Sie sind einer großen Gefahr entgangen; und jetzt – jetzt erst gehören Sie uns!«

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 296-309.
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