In der Friedlismühle

[33] Sie wanderten, eines hinter dem andern, auf dem schmalen Wiesenpfade durch ein samtnes Bödeli wie eine lustige Blumenschnur auf einem schwarzgrünen Teppich; zuvorderst Gesima, dann Hansli, hernach Gerold, zuhinterst der Landjäger Weber, immer der Hintermann größer als der Vordermann, wie die Orgelpfeifen. Gesima versuchte mit Frägeln ein Gespräch anzubahnen: wie lange sie Ferien gehabt hätten und ob es schön gewesen sei in Sentisbrugg und ähnliches, erzielte jedoch keine Antwort. Darauf kehrte sie sich um und bot ihnen Schokolade an; das war nun verführerisch, doch die Kadetten blieben stark und schüttelten die Köpfe.

Dieses Betragen mißfiel dem Landjäger Weber. Sie sollten doch nicht so stumm und bockig einherstiefeln, mahnte er, sondern galant sein und ihrer anmutigen Gefährtin etwas Artiges sagen.

»Wir sind nicht galant«, riefen sie patzig.

Drüben auf der Landstraße, aus einem großen, einzelstehenden Hause, worauf mit gewaltmäßigen Buchstaben geschrieben stand ›Amadeus Stämpfli, Leuenwirt‹, quiekte eine blutleere Tanzmusik: eine Klarinette, eine Trompete und eine Brummgeige. Gesichter zeigten sich an den Fenstern. »He, Weber, wohin?« »Mach Feierabend!« »Komm tanzen, die Eva ist da.«

Jetzt defilierte der Landjäger übers Gras nach vorn und hielt den Kindern eine Ansprache. Sie hätten jetzt nur noch zehn Minuten bis zur Friedlismühle, verkündete er ihnen, und könnten selbst mit dem besten Willen den Weg nicht verfehlen. Wenn sie aus der Klus auf die Landstraße kämen, brauchten sie bloß rechts zu kehren und der Landstraße zu folgen, so würden sie[34] mit der Nase an die Friedlismühle stoßen. Nach diesem Spruche bog er in die Weiden, übersprang das Bächlein, schlich über die Fahrstraße und verschwand in dem gastlichen Rachen des Leuen.

Kaum war er außer Sicht, so schritten die tapfern Kadetten stracks zum Angriff.

Gerold zerrte dem Mädchen das schwarzweiße Barett, das sie schwebend auf dem Hinterhaupte trug, über die Stirn mit der barschen Bemerkung, ein Hut gehöre auf den Kopf, nicht dahinter. Zugleich mit der Mütze wanderte jedoch ein Lockenbusch über die Schläfe, welcher nun krausemause über die Augen wehte, weshalb er jetzt zu einer mühseligen Abhilfe genötigt war, indem er jedes Härchen einzeln unter den Rand des Barettes zurückdrängte. Wenn er aber eines glücklich untergebracht hatte, kamen an einem andern Orte sechs neue boshaft zum Vorschein, so daß er mit dem Coiffieren gar nicht fertig wurde.

Während er sich noch damit abplagte, rückte Hansli auf den Plan. Sie solle ihm die Alpen hersagen, heischte er protzig. Gesima faßte den Horizont ins Auge und zählte ohne Zaudern: »Jungfrau, Eiger, Mönch, Schreckhorn, Wetterhörner, Finsteraarhorn, Blümlisalp.« Und was sie benannte, bezeichnete sie zugleich mit dem Finger.

Hansli sah scharf nach, ob sie nicht etwa pfusche. Als jedoch jede Zacke ihren zugehörigen Namen erhalten hatte, urteilte er gnädig: »Gut, mein Kind, du kannst deine Geographie! Jetzt wollen wir indessen erfahren, wie es mit der Multiplikation steht. – Aufgepaßt! Wieviel macht zwölf mal sieben?« trat jedoch verblüfft zur Seite, da sie das Exempel schneller im reinen hatte als er selber.

Nun nahm Gerold, der inzwischen zerstreut nach den Schneebergen gegafft hatte, das Verhör auf. Wie hoch das Finsteraarhorn sei, prüfte er.

»Wenn du oben bist, kannst dus sehen.«[35]

Empört über diese ungebührliche Antwort, runzelte er drohend die Stirn und ballte die Faust. »Der kommt zeitlebens nie aufs Finsteraarhorn«, höhnte Hansli, »höchstens aufs Faulhorn.« Jetzt wendete Gerold seine drohende Stellung gegen den Bruder. Da klang in der Ferne ein Vesperglöcklein, auf- und abflackernd wie der zitternde Silberblitz eines Bächleins zwischen den Erlen. Sofort intonierte der Kanonier mit dröhnender Stimme: »Goldne Abendsonne.« Flugs fiel Hansli ein, Gesima stimmte ebenfalls zu, und so zogen sie alle drei singend aus der Klus auf die Landstraße, Gesima jetzt in der Mitte, die Buben zu beiden Seiten.

Ein haushoher Lastwagen, mit sechs normännischen Nilpferden bespannt, knarrte schwerfällig vor ihnen her, der Fuhrmann in gebückter Haltung neben den Tieren einherkeuchend, als ob er ihnen müßte schleppen helfen. Er gab den Kindern seine Befriedigung über ihren lieblichen Gesang kund, welcher dem Herzen wahrhaft wohltue, erlaubte sich dagegen über ihre Erscheinung eine freche Bemerkung. Sie sähen nebeneinander aus, meinte er, und machte ein geistreiches Gesicht, wie die Schaufeldame zwischen dem Herzkönig und dem Ecksteinbuben.

»Und dem Schwarzpeter davor«, ergänzte Gesima spitzig. Der Fuhrmann belobte das Mädchen wegen ihrer Schlagfertigkeit und erkundigte sich nach ihrem Namen. Mit dieser Frage entfachte er jedoch Zank. Nämlich die Knaben behaupteten, Gesima wäre ein häßlicher Name, wogegen Gesima einwandte, was häßliche Namen betreffe, so seien jedenfalls Gerold und Hansli häßliche Namen, denn wenn sie schöne Namen hätten, würden sie Artur und Oskar heißen.

Er möchte indessen durchaus nicht etwa der Anlaß sein, verwahrte sich der Fuhrmann, daß sie ihren Gesang seinetwegen unterbrächen; im Gegenteil, falls sie nichts dawider hätten, wolle er gerne mithelfen, so gut oder so schlecht er es verstände.

Die Kinder erklärten den Zuschuß eines Basses für annehmbar, und nach kurzer Verständigung sangen sie alle vier mit[36] vereinten Kräften: »Es zieht mich in die Ferne.« Der Fuhrmann grölte greulich, allein das verdroß ihn nicht. »Falsch!« strafte Hansli jedesmal, wenn er einen Fehler machte. Später suchten sie wieder ein anderes Lied zusammen und so fort, indem jeder aus seinem Gedächtnis hervorklaubte, was zum gemeinschaftlichen Konzert taugen mochte.

So oft ein Quartett verklungen war, umkreiste der Fuhrmann einmal seinen Wagen, um den Rossen ein melancholisches »Hü« zuzurufen und ihnen mit dem Peitschenstock den Takt anzudeuten; hernach gesellte er sich wieder zu seinen Kameraden, um sich das Losungswort zu einer neuen Nummer zu holen. Bisweilen ließ er auch die Pferde ein wenig ausschnaufen, während er sich an den Rädern zu schaffen machte. Man könne nie wissen, entschuldigte er das Versäumnis, ob man je wieder einmal zusammenkäme und wie viele von ihnen das nächste Jahr um diese Zeit noch am Leben seien. Aber er fürchte, es gäbe morgen ander Wetter. Es gefalle ihm nicht, wenn man die Alpen gar so schön sehe, daß man meine, man könne sie mit den Händen greifen wie einen Zuckerstock, und der Himmel sei ihm auch viel zu bunt, gerade wie wenn ein Flachmaler seinen Farbentopf darüber geworfen hätte.


Die Fledermäuse segelten schon um die Dächer, als die Kinder mit dem Fuhrmann bei der Friedlismühle anlangten. Auf der stattlichen Freitreppe standen die Wirtsleute übereinander postiert, wie die Altersstufen in einem Bilderbogen. Mit erhobenen Armen riefen sie den Ankommenden entgegen, wohin sie wollten, bei Nacht und Dunkel. Und auf die Antwort, der Statthalter hätte ihnen gesagt, der Wagen des Herrn Landammann warte auf sie bei der Friedlismühle, kam der Bescheid: »Davon hat der Kutscher nicht das mindeste gewußt, kein Mensch hat ihm deutlich gesagt, was er machen soll; ein halbes Stündchen hat[37] er noch hier gewartet, für alle Fälle, dann ist er eben heimgefahren, in der Meinung, ihr würdet heute nacht noch in Schönthal bleiben.«

»Das gleicht wieder dem Statthalter!« tönte ein Ruf.

»Nun, da laß ich einfach schnell anspannen und die Kinder nach Schönthal zurückbringen. Oder, noch besser, ich fahre selber.«

Unterdessen hatte sich jedoch eine stattliche, ungewöhnlich große Jungfer an die Buben herangemacht. »Hat euch niemand in Sentisbrugg einen Auftrag nach der Friedlismühle gegeben?« flüsterte sie.

»Freilich«, sagte Gerold, »ich solle sagen, es sei alles in Ordnung.«

»Hast du etwa Briefe?« rief sie gierig.

»Ja«, antwortete er und kramte die Briefe hervor.

Trotz der Dunkelheit erbrach die Jungfer einen Umschlag mit fiebernden Fingern und fing an zu lesen. Plötzlich beging sie einen Freudensprung »Juchhu« und lief wie ein Windhund zurück die Treppe hinan, um die Briefe vorzuzeigen.

Jetzt änderten sich mit einem Male der Text und die Tonart. Sie könnten ja, hieß es, schließlich auch hier übernachten und morgen mit der Achtuhrpost nach Bischofshardt weiterreisen, sie seien ja hier gut aufgehoben und müßten morgen nicht so früh aufstehen, als wenn sie wieder rückwärts führen und von Schönthal die Post nähmen. Abgesehen von der unnützen Aufregung, die sie daheim verursachen würden, wenn sie in der Nacht plötzlich wieder in Schönthal ankämen. Es dauere doch immerhin eine kleine halbe Stunde, bis der Wagen angespannt wäre. Zur völligen Beruhigung könne man ja einen Knecht nach Schönthal schicken und den Herrn Balsiger und den Statthalter davon verständigen. Oder ob sie vielleicht etwas dagegen hätten, hier zu übernachten? An freundschaftlicher Fürsorge würde man es ihnen jedenfalls nicht fehlen lassen.[38]

Mit einem bedenklichen Fragezeichen im Gesicht wandte sich Gesima nach den Kadetten, ihnen stillschweigend die Antwort zuweisend. Hansli, dem die Aussicht auf unverhoffte Abenteuer das Herz verjüngte, stupfte den Bruder heimlich mit der Faust in den Rücken, einladende Grimassen schneidend. Auch Gerold mochte lieber in der Friedlismühle als in Schönthal übernachten, schon deshalb, weil ihm vor der gewalttätigen Freundschaft seines Götti Statthalter graute. Aber wieviel es denn kosten würde, erkundigte er sich bange, sie hätten nämlich jeder nur einen Fünffrankentaler bei sich.

Der Friedlismühlewirt lachte: »Ein Fünffrankentaler? Was meint ihr denn? Glaubt ihr, die Friedlismühle sei eine Räuberhöhle? Übrigens kostet es für euch gar nichts; ihr gehört ja jetzt sozusagen zur Familie, und ich betrachte euch alle drei zusammen als meinen lieben Besuch.«

Und ehe sie eigentlich eingewilligt hatten, wurden sie als Zustimmende behandelt und die Treppe hinauf geleitet. »Ihr dürft mich ›Therese‹ nennen«, raunte die große Jungfer vertraulich, »oder auch ›Tante‹, wenn ihr lieber wollt.«

»Lieber Therese.«

Der Friedliswirt in Person komplimentierte Gesima, die kostbare Kantonsprinzessin, wie einen Lotteriegewinst ins feine Gastzimmer. Die Kadetten dagegen baten sich die Gunst aus, sich in der Bauernstube niederzulassen; wegen des Tabakqualms, wegen des lauten, rauhen Stimmenlärms, wegen der scharrenden Stiefel; das wäre männlicher, kräftiger, behaupteten sie. Dort wurden sie dann von Therese in eine besondere, ausgezeichnete Ecke gesetzt und persönlich von ihr bedient. Und wie! Forellen! – Und immer wollte sie etwas Neues von Onkel Dolf wissen, was für ein Gesicht er zuletzt gemacht habe, und so weiter, mehr als sie selber wußten. Nachdem sie endlich alles ausgeforscht hatte, was herauszuziehen war, begab sie sich zu Gesima ins Herrenzimmer hinüber, kehrte aber von Zeit zu Zeit wieder zu ihnen[39] in die Bauernstube zurück, gleichsam als lebendiger Bindestrich zwischen dem Mädchen und den Buben.

Allmählich begannen die hinter dem Schoppen lagernden Bauern an den Kadetten mit Fragen zu stochern, woher sie kämen, wohin sie wollten, wie sie hießen, und so weiter. Ob ihre Urgroßmutter, die alte Gottebas Salome von Sentisbrugg, immer noch am Leben sei, erkundigte sich ein dürrer, hagebuchener Armenpfleger, während er sich mit den knöchernen Fingern hinter den Ohren kraute wie ein Kakadu. Und als sie dies mit großer Entrüstung als selbstverständlich bejahten, munkelte er: »So selbstverständlich ist das nicht; es ist schon manches Fröschlein kopfüber in den Schönthaler Wasserfall gehupft, seit das schöne Salomeli von Sentisbrugg mit dem jungen Schulmeister von Buchsingen auf der Burghöhe um die Wette gelaufen ist und dazu gesungen hat: ›Holderipantoffel, holderi, der Himmel ghört dem Herrgott, und d'Welt ist mi.‹ Wenn ihr eurer Urgroßmutter das nächste Mal guten Tag sagen wollt, um nachzufragen, ob es ihr jetzt mit ihren Beinen besser gehe, so müßt ihr sie hinter der Kirche aufsuchen, unter einem Rosmarinsträuchlein.«

Dagegen protestierten die Kadetten mit zornigem Knurren.

»Wie alt mag sie denn jetzt sein?« tönte eine Frage.

»Jedenfalls hoch in den Achtzigen, näher dem neunzigsten.«

»Die alte Bas Salome von Sentisbrugg?« ergänzte ein anderer. »Die ist ja Matthäi am letzten. Der Marti, der Postillon, hat es heut abend berichtet.«

»Das ist nicht wahr«, krähte Hansli, »wir haben ja heute noch mit ihr gesprochen.«

Einer Entgegnung wehrte Therese mit einem abmahnenden ›Bst‹, indem sie nach den Buben deutete; und rücksichtsvoll verstummte das Gespräch.

Der Fuhrmann aber nahm seinen Schoppen in die Hand und ließ sich mit den Worten: »Setz dich, liebe Emmeline«, neben[40] den Kadetten nieder. »Wo habt ihr denn eure feine Gesponsin gelassen? Gesima, oder wie sie heißt?«

»Auf der andern Seite, im Gastzimmer.«

»Wartet nur, bis sie einmal tausend Wochen alt ist, da würdet ihr gerne jeder einen Fünfliber zahlen, wenn ihr noch einmal mit ihr zusammen abends nach Sonnenuntergang in die Friedlismühle spazieren dürftet. Mag leicht sein, einer oder der andere von euch nagt sich dannzumal die Fingernägel bis zum Ellenbogen ab, aus Reue darüber, daß ihr stundenlang in der Wirtsstube gesessen seid, statt mit ihr im Herrenzimmer. Ja, die hats hinter den Ohren, die weiß, wo Bartel den Most holt, die wird euch schon einmal zeigen, was Trumpf ist, darauf könnt ihr euch heilig verlassen.« Hierauf begann er zu seufzen: »Es ist ein eigen Ding um das Weibervolk. Zuerst, fünfzehn Jahre lang, sieht sie kein Mensch an; dann plötzlich haben sie ein Herrgottslämpchen am Hals hangen, daß sie glitzern wie Johanneswürmchen, und man meint, sie seien die leibhaftigen Engel. Und schließlich, wenn der Docht ausgebrannt ist, hat man eine Hexe im Haus, daß man froh ist, wenn man draußen in der Welt herumhaudern darf, bei harter Arbeit und saurem Wein in Regen und Schnee, lieber als daheim hinter der warmen Suppe.« Im Anschluß daran begann er nach einer Pause über das menschliche Leben zu philosophieren. »Es mahnt mich immer an den Sentisbrugger Hauenstein: man gibt sich des Teufels Mühe, um hinaufzugelangen, und kaum ist man oben, so geht es wieder hinunter und noch viel böser und ruinöser. Zuletzt kommen wir doch alle miteinander bei der nämlichen Herberge an: beim Wirtshaus ›zu den stillen Männlein‹.«

Bei diesen Worten stand der Armenpfleger unwirsch auf, zahlte seine Zeche und stapfte mit steifem Gangwerk aus der Stube.

»Wohin mit den Kälbern, Xaverli?« grüßte der Fuhrmann durch das offene Fenster auf die Straße.[41]

»Nach Bischofshardt zum Metzger. Der Landammann spendiert dem Kantonsrat auf den Sonntag ein Essen.«

Der Xaverli ließ seinen Viehwagen einen Augenblick halten, und sämtliche Kälber begannen zu blöken. Die breiten Lichtmassen, welche aus dem Gasthof auf die Straße quollen, beschienen die großen runden Menschenaugen der lechzenden Tiere, und man konnte sehen, wie sie ihre gespenstisch bleichen Köpfe verdrehten, um dem Xaverli die Hand zu schlecken. Dann rasselten die Räder weiter, und das Blöken verstummte.

Eine lange Zeit wurde kein Wort mehr geredet. Plötzlich hieß es: »Habt ihr ihn gesehen? gerade diesen Augenblick ist er an der Mauer vorübergeschlichen, heim zu.«

»Wer?«

»Der Narrenstudent.«

»Was tut er eigentlich den ganzen Tag im Walde?«

Und jetzt ging es über den Narrenstudenten los, nicht gehässig, aber spöttisch, überlegen und empört. Wie er sich lächerlich kleide, anders als alle andern Menschen, mit einem Regenschirm gegen die Sonne, mit Handschuhen und waschleinenen Unterhosen, wie ein Mädchen, mit einer Brille auf der Nase, wie ein alter Mann, zum Lesen sogar mit zwei Brillen aufeinander, – wie er sich im Hardtwalde in der Nähe des Althäusli ein Hüttchen zum Faulenzen zusammengevattert habe, mit Büchern und Heften und allerlei Schnickschnack. Auf der Falkenfluh habe man ihn einmal dabei überrascht, wie er die Welt zwischen den Beinen angeguckt habe, den Kopf zuunterst, angeblich, weil auf diese Weise die Farben glänzender herauskämen.

»Laßt den Narrenstudenten in Frieden«, mahnte Therese, »er tut ja keinem Menschen etwas zuleid.«

»Aber ein Volksfeind ist er, der den gemeinen Mann verachtet und niemand ein freundliches Wort gönnt. Sein Vater, der Statthalter, wenn er vorübergeht, wünscht jedem einen guten Tag und erkundigt sich, wie das Korn und die Kartoffeln stehen; der[42] Narrenstudent, o je –, der kann nicht einmal Hafer und Roggen voneinander unterscheiden.«

»Es ist keineswegs gesagt«, versetzte Therese, »daß das die besten Volksfreunde sind, die jeden Menschen anlächeln und dem Volk mit Schmeicheleien schöntun.«

»Item, er ist ein Sonderling. Und er kann von Glück sagen, daß er einen so braven, allgemein geachteten, hochmögenden Mann zum Vater hat.«

»Der Niedereulenbacher Sizilienverein hat ihn einmal in den Fingern gehabt.«

»Warum?«

»Die ›Rose von Tannenheim‹ in den Spott gezogen, wo sie mit vielen Kosten gegeben haben, sogar mit einem Passivsaldo von mehr als hundert Franken.«

»Der Sentisbrugger Turnverein auch.«

»Was hatte er mit dem?«

»Sie haben ein Stabturnen aufgeführt, im Sentisbrugger Gemeinderatssaal, und er hat ihnen nachgesagt, sie wären eitler als das affigste Weibsbild. – Ohne den schönen Dolf wäre es ihm damals schlimm gegangen; und ich wollte ihm noch heute nicht raten, allein in der Dunkelheit ums Sentisbrugger Schulhaus zu streichen. Sonst läßt man ihn allgemein in Frieden, man hat sich alsgemach an seine Narrheiten gewöhnt; höchstens, daß ihm etwa in der Dämmerung ein Stein nachfliegt.«

Ob dieser Schilderung keimte in Gerold, der mit gläubiger Andacht dem Femgericht zuhörte, der Wunsch, der Zufall möge ihm den Ruhm vorbehalten, den kantonalen Lindwurm zu züchtigen. Das wäre, dachte er, gerade ein hübscher Heldenanfang für einen elfjährigen Siegfried, nicht zu leicht und wieder nicht zu schwer, denn was da Brillen trug, getraute er sich, über den Haufen zu schlagen, groß oder klein, unbesehen.

»Laßts nur gut sein«, bemerkte ein kleines, feistes, mit einer Botentasche behangenes Männlein, »den Narrenstudenten fischt[43] man eines Morgens aus der Aar.« Das sagte er so zuversichtlich und bedeutsam, als ob er mehr wisse, als er sagen wolle.

»Das möchte ich denn doch nicht behaupten«, mäßigte ein anderer; »aber abgesehen davon, treibt ers ohnehin nicht lange. Er hat die Institution seiner Mutter; alle ihre Geschwister sind an der Schwindsucht gestorben, und sie selber spinnt auch keinen langen Faden mehr.«

»Kein Wunder, bei dem täglichen Verdruß mit ihrem Mann wegen des Sohnes.«

»Ich liebe nicht, wenn bei mir anderer Leute Familienverhältnisse hergenommen werden«, tadelte jetzt die laute Stimme des Friedliswirtes, welcher unbeachtet durch die Küchentür hereingetreten war. Darauf wandte er sich zu den Kindern: ob sie nicht ihrer Reisegefährtin gute Nacht sagen wollten, sie gehe jetzt zu Bett.

»Nein«, trotzten sie.

Nachträglich dauerte jedoch den Gerold die schnöde Weigerung; es tat ihm geradezu weh, so dauerte es ihn, und schnell eilte er hinaus, um Gesima womöglich noch einzuholen. Sie stieg eben die Treppe hinauf, hinter zwei kerzentragenden Mägden. Eins zwei war er ihr nach, und zur Einleitung, er wußte selbst nicht warum, packte er sie mit vollem Griff am Schopf und zog ihr den Kopf hinten herüber. Sie streckte regungslos die Pfötchen von sich, wie eine Katze, die man aufhebt, ließ das Mäulchen tief hangen und schaute ihn mit großen Augen an, von denen man fast nur das Weiße sah. Ein Zuck, und sie wäre auf dem Boden gewesen; allein er wollte ihr ja kein Leid antun, bewahre; deshalb gab er sie sofort wieder frei, worauf sie mit geschwinden Sätzen die Treppe hinauf flüchtete. Nun reute es ihn aber wieder, daß er sie am Schopf gepackt hatte, statt ihr freundlich gute Nacht zu wünschen, wie seine Absicht gewesen war. Darum sprang er ihr nach, und da sie sich in ihrer Angst in den Winkel eines blinden Ganges verirrt hatte, versperrte er ihr mit seinem Körper die Ausflucht. Hier gedachte er zum Zeichen seiner Reue ihr etwas[44] zu schenken, fand jedoch nichts Schenkenswertes in seiner Tasche als ein rosenfarbiges Papier; das überreichte er ihr. »Ich danke«, flüsterte sie und machte einen hübschen Knicks. Zeit seines Lebens hatte noch kein Mensch »ich danke« zu ihm gesagt, und das verwirrte ihn so, daß er sie geistesabwesend angaffte. Seine Verblüffung benützte sie hurtig, indem sie aalgleich an ihm vorbeiglitt und sich zu den umkehrenden Mägden rettete. »Gute Nacht«, rief er ihr gutmütig nach, erhielt jedoch keine Antwort. Darauf schlich er wieder in die Wirtsstube, nicht ganz zufrieden mit sich selber.

»Ihr geht jetzt, denk ich, auch besser zu Bett«, meinte Therese, »die Augen fallen euch ja zu vor Schläfrigkeit.«

»Durchaus nicht schläfrig«, bestritten sie eifrig, und um nicht zwangsweise zu Bett gebracht zu werden, eilten sie flugs durch den Hausgang die Freitreppe hinunter, um die Hausecke. Es war finstre Nacht, mit Sternen am Himmel, aber warm, fast heiß; ein Käuzchen wimmerte von einer nahen, unsichtbaren Bergwand, und die Grillen verführten einen unsinnigen Lärm. Bei ihrem Streifzug gerieten sie von ungefähr in einen gewaltigen Wagenschauer, der mit Fuhrwerken jeder Art vollgepfropft war. Hier erkletterten sie den Bock einer ungeheuren Riesenkutsche, knöpften das Schutzleder, das ihnen bis an den Hals reichte, auf beiden Seiten zu, so daß sie da saßen wie zum Rasieren, und schnupperten wollüstig den Duft der Lederwichse.

»Sie liegt jetzt im Sterben«, hörten sie draußen auf der Landstraße einen Vorüberziehenden melden, »sie röchelt schon.«

»Was ist das, ›röcheln‹?« fragte Hansli leise den Bruder.

»Ich weiß nicht genau, etwas Ähnliches wie schnarchen.«

»Kannst du röcheln?«

»Röcheln kann man erst, wenn man stirbt.«

»Tut eigentlich das Sterben weh?«

»Natürlich, warum würden sonst alle weinen, wenn jemand stirbt.«[45]

»Und das Heiraten?«

»Jedenfalls viel weniger; sie machen ja alle bei einer Hochzeit lustige Gesichter. Und gesetzt auch den Fall, so bleibt doch immer ein großer Unterschied: mit dem Sterben ist alles aus, während das Heiraten vorübergeht.«

Hierauf gab es eine kleine Pause. Dann begann Hansli von neuem: »Gibt es auch wohlriechende Tiere?«

»Eine einfältige Frage!« verwies Gerold strenge, denn er wußte die Antwort nicht.

Jetzt abermals eine kurze Pause. »Warum«, fragte Hansli wieder, »warum sieht man eigentlich niemals einen Großvater über einen Schemel springen oder auf dem Dach herumklettern, oder eine Großmutter in einen Bottich schlüpfen?«

Diesmal begnügte sich Gerold mit einem schläfrigen Knurren statt der Antwort.

Hernach kam eine lange Pause der Zufriedenheit. Und da die Zufriedenheit währte, währte auch die Pause. Draußen auf der Straße murmelte der plätschernde Brunnen, stetig und ebenmäßig; aus weiter Ferne, von der Klus her humpelte der hustende Brummbaß der Tanzmusik vom Leuen, plump und drollig, als ob eine lebendig gewordene Runkelrübe schief um den Saal herumwalzte, die Wurzelspitze nach unten und der grüne Pflanzenschopf oben. Allmählich steckten sie einander an, der Brummbaß und der Brunnen, so daß man nicht wußte, welcher Ton diesem, welcher dem andern gehörte; die Brunnenröhre vervielfältigte sich, bekam hundert Leuenrachen, die Rachen klappten sämtlich auf und zu, im Takt des Brummbasses, schließlich blieben sie sperroffen stehen, stumm und versteinert. Jetzt erschienen dem schlummernden Gerold Traumgesichte.

Ihm schien, er stände vor der Freitreppe der Friedlismühle, aber statt ›Friedlismühle‹ stand über der Haustür geschrieben: ›Gasthof zu den stillen Männlein‹. Ein schauerlicher, tausendfältiger Lärm, übertönt von dem Donnergebrüll des Götti Statthalter[46] und dem Blöken angstvoller Kälber umtoste den stillen Gasthof, ähnlich dem Tosen der Schönthaler Fabrik. Jetzt kam ein unendlicher Zug von Schlachtopferkälbern die Stufen der Freitreppe heraufgestiegen, mit ihren großen traurigen Menschenaugen sich nach Gerold umschauend; oben auf der Treppe standen sie still, wackelten mit den Köpfen und Beinen im Takt des Brummbasses, dann stiegen sie auf der andern Seite die Treppe hinab. Aber mit einem Male waren es nicht mehr Kälber, sondern Menschen, die Großeltern, die Urgroßmutter, der Onkel Dolf und alle andern, die er lieb hatte. Und siehe da, er selber, Gerold, war mit in ihrer Reihe und schaute ihn von der Treppe herunter an, und der Hansli hinter ihm, der ihm mit den Fingern spöttische Zeichen über die Schultern gabelte. – Aber wer röchelt denn so? Erschrocken, mit schnarchendem Aufschrei fuhr er in die Höhe, stöhnend, die Augen geblendet von Lichtschein.

»Da also sind sie, die Ausreißer!« lachte die Stimme des Friedliswirtes, und eine laternenbewaffnete Scharwache umringte die Kutsche. Nun wurde das Nest ausgeräumt, der fest schlafende Hansli von der Therese auf die Arme geladen, Gerold taumelnd und schwankend vom Wirt abgeführt.

Unterwegs nach ihrem Schlafzimmer kamen sie an einem märchenhaften Himmelbett vorüber, mit Schleiern und Spitzen umhangen wie für ein Schneewittchen. Es lag auch wirklich so etwas Weißes darin, das setzte sich empor, rieb sich die Augen und schnellte dann mit einem kleinen Schrei unter die Decke. »Gute Nacht, Gesima«, lallte schlaftrunken Gerold.

Als er dann in das linde Gastbett verpflanzt war, wo Leib und Seele in köstliche Untiefen versanken, schlugen alsbald die Träume wieder über seinem Geist zusammen.

Ihm träumte, er säße am Weidenbächlein der Klus und schaute in das Wasser, das eilends einem Wasserfall zustrudelte. In einem Papierschifflein kam die Urgroßmutter das Bächlein herabgefahren,[47] aber ganz klein wie ein Kind, und nicht mehr krank, sondern frisch und fröhlich, jung und lieblich; im Vorüberfahren pflückte sie links und rechts Blumen vom Uferrand. »Guten Tag, Urgroßmutter«, grüßte er. Da spritzte sie ihm mit der Hand Wasser in die Augen. Und wie er die Augen wieder auftun konnte, war es nicht die Urgroßmutter gewesen, sondern Gesima, welche sich neckisch nach ihm umkehrte und ihn auslachte.

Quelle:
Carl Spitteler: Gesammelte Werke. 9 Bände und 2 Geleitbände, Band 4, Zürich1945–1958, S. 33-48.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon