34.

[262] London, den 20. November 1882


Ein sehr verständiger, gestern aus Madras hier angekommener Herr hat mir in zweistündiger Unterhaltung erzählt, was ich hier in ein paar Zeilen zusammendränge:

»Das Finstere, das aus unbekannten Ursachen den englischen Volkscharakter verdüstert, hat sich derartig in die Herzen eingenistet, daß am Ende der Welt, in Madras, ein Engländer, der ein paar Tage Urlaub erlangen kann, schleunigst das reiche und blühende Madras verläßt und sich in der kleinen französischen Kolonie Pondicherry zu erholen sucht, die ohne Reichtum und Handelsverkehr unter der patriarchalischen Verwaltung von Dupuy gedeiht. In Madras trinkt man Burgunder, die Flasche zu sechsunddreißig Franken; die Armut der Franzosen in Pondicherry ist schuld, daß dort in der besten Gesellschaft große Gläser Wasser als Erfrischung herumgereicht werden. Aber man lacht dort.«

Augenblicklich herrscht in England mehr Freiheit als in Preußen. Das Klima ist das gleiche wie in Königsberg, Berlin und Warschau, Städten, die ihre Trübseligkeit schon von weitem zu erkennen geben. Die arbeitenden Klassen haben dort weniger und trinken ebensowenig Wein wie in England, gehen aber schlechter gekleidet.

Ich sehe nur einen Unterschied: in den Ländern, wo[262] Frohsinn herrscht, liest man weniger in der Bibel und huldigt mehr der Liebe.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 262-263.
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