3. Kleinwinziger Zentunkel

[48] 29. April 1834


Ein Tagebuch ist eigentlich nur für den Führer desselben ansprechend, und ich müßte Dich schlecht lieben, mein Titus, wenn ich Dich erbarmungslos durch alle Tage meines Kalenders schleppte. Als wir an jenem Abende auf dem Rigi, mitten unter kalten Reisebeispielen von Engländern, beide zwar so arm wie Kirchenmäuse, aber toll und lustig genug, Abschiedsfeste feierten und in unsrer Lyrik erst unsre Namen tauschen wollten, dann aber dieses sogar zu dürftig fanden, sondern versprachen, unser ganzes künftiges Leben auszuwechseln, das heißt uns gegenseitige gewissenhafte Tagebücher zu senden – als alles dies vorfiel, konnte es doch unmöglich so gemeint sein, daß ich Dir jeden kahlen Tag übermache, der mich in dieser Hauptstadt überfällt, welche Hauptstadt mir oft kleinstädtisch genug und abgeschabt vorkommt gegen die freie, gewaltige Residenzstadt der Natur, insonderheit, da mir Deine Pyrenäenreise ganze Prachteindrücke übersendet. Du bist wohl noch der alte Narr, und ein hiesiger Freund oder, besser gesagt, nur ein Bekannter, den ich unlängst erwarb, Anselm Ruffo, sagte, ich sei auch ein großer, aber unschädlicher, das heißt für andere, mir selber aber beständig im Lichte. Es kann sein, und wenn Du eine stichhaltige Beschreibung eines Narren auftreibst, so sende sie schleunigst; dann läßt sich die Sache eher entscheiden – bisher wußte ich keine. Bleibe fürerst nur der liebe, gute, treue und schönheitsbegeisterte Narr, als welchen ich Dich kenne, und ich will Dich einige millionenmal mehr lieben, als die andern gescheiten Leute. Sende fleißig Pyrenäentage und zürne nicht, wenn Dir unser Lyoner Spediteur von mir ein Päckchen sendet, in denen nicht jeder Tag ein Gesicht zeigt – es hat eben nicht jeder eines.

Disson war während der Zeit wieder bei mir, und wir gefielen[48] uns so, daß wir nicht nur volle drei Stunden verplauderten, sondern auf den ersten Mai, falls es meine Gesundheit zuläßt, einen Spaziergang von einem ganzen Tage verabredeten.

Ich habe richtig jenes Mädchen in der Annenkirche wieder gesehen; sie geht täglich um zehn Uhr dahin in Begleitung einer alten Frau, die ich für ihre Mutter halte. Du würdest Dich wundern, ganz eigen ist der ruhige, große, fromme Blick der blauen Augen.

Sie wäre, wie ich anfangs scherzte, in der Tat ein antikes Modell. Als ich sie der Gasse entlang schreiten sah und ihr nachblickte, dachte ich: so müßte ein altgriechisches Marmorbild ausgesehen haben, das wandeln könnte und Augen gehabt hätte. Da kamen mir allerlei Spintisierungen über sie: ich möchte sie einmal beten sehen; aber nicht in der Kirche, wo sie die Augen mit den Wimpern kalt verhüllt, sondern wenn sie in ihrem Zimmer einsam Gott dankt oder um Abwendung eines entsetzlichen Wehes bittet; – oder ich möchte sie in Liebesfreude schwärmen sehen oder im Schmerze das Auge aufschlagen – oder tanzen – oder eine Gebirgspartie machen – lachen – ihren Vogel kosen – eine kleine Schwester belehren; oder wenn sie Tee bietet; wenn ihr etwas sehr komisch erscheint – und so weiter – und so weiter.

Aston will Bilder aus Wiens Umgebungen von mir, und findet sie immer sehr schön, wenn ich ihm auch noch so sehr (nach meiner alten Untugend, wie Du sie nennst) die Fehler darin aufdecke – – aber siehe, Titus, ich muß es ja tun, sonst meinen fürwahr die Leute, ich sehe die Fehler nicht ein und wolle mich nicht bessern – – also er findet die Bilder immer schön, und wir sind in voller Arbeit – ich mit Malen und er mit Anordnungen, die ich immer nicht befolge. Im August wird eine Alpenreise gemacht, und vielleicht berede ich Lothar auch dazu, wenn nämlich der Verlauf der Bekanntschaft mit ihm so[49] glücklich fortgeht, wie der Anfang ist. Wir wollen den Großglockner besteigen. Zum Schlusse noch eins: Du hast dreißig Dukaten angewiesen; ich habe sie erhalten. Es hat sich hierbei die Lächerlichkeit ereignet, daß mein Kontingent, nämlich die Hälfte meiner diesmonatlichen Einkünfte, welche Dir gebührt, gerade eben so viel beträgt. Laß uns also in Zukunft lieber Gegenrechnungen machen und bloß die Überschüsse senden. Ich glaube wir erfüllen so unsern Bruder- und Teilungsvertrag auch und mit weniger Umständen.

Lebe wohl und bleib mein treues Bruderherz.

Das heutige Tagebuchblatt ist nur dieser Brief an Dich; aber ich dachte auch nichts als Dich. Lebe wohl!

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 1, Wiesbaden 1959, S. 48-50.
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