4. Glockenblume

[50] 3. Mai 1834


Ich hasse eigentlich keinen Menschen auf Gottes ganzer grüner Erde – aber da ist ein junger Mann, der mir nachgerade zuwider wird, wie die ärgste meiner Sünden. Er ist ein Begegner, deren fast jeder einen hat, so wie ich ihn; ob aber der andern ihre auch so emsig und unermüdlich sind, daran zweifle ich. Gehe ich in den Prater, so sitzt er auf einer Bank, fliege ich von da ins Belveder, so geht er schon am Rennwege herein. Wenn Dir etwa in den Pyrenäen ein langer Herr vorfällt, der kein Halstuch umhat, und schlechthin den Mylord spielt, der ist es und kein anderer. Es ist mir, als suche er mich ordentlich. Entweder ist er der ewige Jude, oder jener Reisende, dessen Name überall steht, oder, weil dieser gestorben sein soll, sein Geist. Es wäre das vernünftigste, wir grüßten uns gegenseitig höflich.

Ich hätte mich weniger über ihn aufgehalten – aber am ersten Mai, da ich mit Lothar von Dornbach den so schönen Weg nach Haimbach machte und eben dort ankam,[50] war er auch da, jedoch zum Glücke gerade im Begriffe, in den Wagen zu steigen zu einer Dame, die schon darinnen saß und – stelle Dir vor – mein Griechenbild aus der St. Annenkirche war. Es saß noch die alte, schöne Frau bei ihr, ihre gewöhnliche Begleiterin, und dann eine junge, schlanke Gestalt, die aber einen ganzen Wolkenbruch von Schleiern über dem Gesichte hatte. Wie kommt er nun zu dieser?

Daß wir alle Wirtsleute fragten, wer die Abfahrenden wären, war sehr natürlich; daß es aber niemand wußte, ärgerlich.

Wir blieben fast den ganzen Nachmittag in dem lieblichen Tale, und als ich, wie zur Spielerei, die Wirtsfrau, ein mitteljähriges, gutmütiges Gesicht, in meine Mappe zeichnete, so lächelte sie unbeholfen verschämt und meinte, wenn ich und der andere Herr in unsere Bücher da Gesichter und Leute abmalten, so hätten wir um zwei Stunden früher kommen sollen, als noch die zwei jungen Fräulein da waren, die wären der Mühe wert gewesen; denn von allen Stadtjungfern sei noch keine so schöne da gewesen, wie Milch und Blut, und so freundlich wie zwei Engel – auch der junge Herr sei sanft und stille, wie die andern alle nicht, die aus der Stadt kommen (außer uns beiden, die wir auch recht gutherzig aussähen) und die alte Frau habe so viele Freude über die jungen Leute, daß sie immer lächle. Die gute Wirtsfrau wurde zutraulich, und freute sich, daß sie ihr Gesicht in dem schönen, großen Buche habe neben den schönen Fräulein und vornehmen Herren, die wohl alle noch darin wären – dabei sah sie neugierig die Mappen an, daß ich sie ihr endlich aufschlug, und ihr Erstaunen auf das höchste trieb, als sie ihr eigenes Haus fand, und die Bäume um dasselbe in netten Farben und die Berge und den Himmel mit leibhaftigen Lämmerwolken (wie sie sie nannte) und noch dazu Leute, die unter dem Apfelbaume frühstückten –[51] dann auf andern Blättern ihren Hund, dann den Knecht mit dem Schimmel, den blinden Zitherspieler, den Bach mit dem Stege usw. Das hätte sie nie geglaubt, meinte sie; denn in diese Bücher mit dem schneeweißen Papiere paßten eher die prächtigen Stadthäuser und schöne Spaziergänger und Reiter und Wagenzüge. Schade, da wären noch leere Blätter genug, und auf einem würde die Gesellschaft dieser schönen Fräulein recht gut Platz gehabt haben, und aus dem Fenster der Gaststube hätten wir es recht leicht abmalen können, wie sie an dem weißen Tische mitten auf der Wiese frühstückten und scherzten. Sie wundere sich nur, daß heute, als am ersten Mai, jemand da herausgekommen sei, da ja alles bei dem Frühlingsfeste im Prater sein werde. Wir lachten und sagten, daß es uns selber hinreichend freuen würde, wenn wir die zwei Engel konterfeien konnten. »Wer weiß es«, versetzte die Wirtin; »Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Menschen.«

»Jawohl,« lachte Lothar, »wir wollen sogar zuversichtlich hoffen, daß gerade diese zwei Engel, welche am ersten Mai anno domini 1834 in Haimbach frühstückten, dereinst noch unsere Frauen werden, und wieder eines schönen Tages in unsrer Gesellschaft frühstücken werden. Was meinen Sie dazu, Herr Kollege?«

»Topp«, rief ich; »aber mir muß die Unverschleierte bleiben.«

»Die andere ist noch schöner«, rief die Wirtin.

Ich meinte, das sei nicht möglich, und halte mich an das Gewisse.

»Gut,« sagte Lothar, »von heute binnen drei Jahren, Frau Wirtin, rüsten Sie ein wackeres Frühstück und Mittagsmahl; denn wir werden den ganzen Tag mit den zwei Engeln, unsern lieben, rechtschaffenen Ehefrauen, in Haimbach zubringen. Ich nehme in Gottes Namen die Verschleierte, da ich keine von beiden von Angesicht[52] kenne und mich ganz auf den Geschmack unserer Frau Wirtin verlasse.«

»Und ich dagegen«, fiel ich ein, »will diese besagte Frau Wirtin zum Andenken an diesen Tag recht sauber auf schneeweißes Papier malen und in einem schmucken Goldrahmen mitbringen.«

Ei, das wäre für sie alte Frau viel zu viel Ehre, vermeinte sie, und übrigens könnte ich so etwas leicht versprechen, ohne deswegen mein Farbenzeug aufmachen zu dürfen, da zwei solche lustige Herren gewiß ohne dies schon jeder eine Fräulein Liebste in der Stadt haben würden, die schon unter den schönen Gesichtern des Buches sein werde.

Wir sahen uns beide an, und lachten: denn wahrhaftig, keiner hatte nicht im geringsten ein derlei Wesen aufzuweisen. – Übrigens fingen wir zwei dann selber an, die Sache weiter auszumalen, und dichteten den zwei Huldinnen eine unaussprechliche Sehnsucht nach uns an, stießen die Gläser an, ließen sie hoch leben und entwarfen Plane, ihnen den Ehestand zu versüßen.

Nach Tische wurde gezeichnet.

Spät erst, als schon das Abendrot an allen Bergen hing und im jungen Buchengrün von Laub zu Laub neben uns hüpfte, gingen wir selig durch die Loudonischen Anlagen nach Hadersdorf, wo wir übernachteten, weil wir am andern Tage Tiergartenpartieen malen wollten, wozu uns Lothar die Erlaubnis ausgewirkt hatte. Noch beim Einschlafen neckten wir uns mit den Vorzügen unserer neuen Liebchen ein gut Stück in die Nacht hinein, und spintisierten über den Engländer, der ein Anbeter zu sein drohe.

Wir schliefen fest, und zeichneten am zweiten Mai tüchtig darauf los, und rückten meilenweit in gegenseitige Bekanntschaft und Freundschaft hinein.

Ich hätte die Sache gar nicht erwähnt und sie gewiß heute[53] schon vergessen, wenn ich sie eben vergessen hätte. Aber in meiner närrischen Phantasie nimmt die Holde ordentlich eine rührende Miene an, bloß weil wir so lange von ihr geredet haben, weil ich sie Dir gar beschrieben und weil sie lustiger Weise nicht ein Sterbenswörtchen davon weiß. Aber in der Tat, so ist unsre Einbildung, und meine erst vollends: wenn wir einen Menschen in nahen Verhältnissen mit uns dichten, so wird er uns fast lieb, besonders wenn er ein schönes Mädchen ist, und wir eben fünfundzwanzig Jahre alt werden. Ich gehöre da zu den Narren, die so sehr aus dem Häuschen sind, daß sie am Ende die Sache auch gar noch glauben. Neulich zum Beispiel geschah es, daß ich einem armen Teufel durch mäßiges Lob zu einer Bedienstung helfen sollte – anfangs lobte ich auch gewissenhaft und empfahl ordentlich aber endlich ging ich immer weiter, bis er ein gänzliches Genie war. Ich erstaunte in der Tat, wie ich so viel Talent und Kraft bisher so wenig beachtet haben konnte. Er bekam auch den Dienst und mich als Freund und Gönner dazu. Meiner einstigen Geliebten wird dieser Zug von mir zu Statten kommen, – aber da sehe ich schon, daß Du verstockt sein wirst und kaum die Hälfte glaubst, wenn ich sie Dir vormale – – aber siehe, Titus, glaube, was Du willst – – was kann denn am Ende der arme Mensch von einem andern Nebenmenschen abmalen, sich selbst vorstellen, – lieben oder hassen – als das Bild, das er sich von ihm zu machen versteht, da das Ich des andern so wüstenweit von ihm getrennt ist, wie kaum Weltsysteme, die wir doch durch Gläser aus ihrem Himmel ziehen?

Lasse mich dem Gedanken nachhängen.

Seit der ersten Kindheit, wie viel tausend verschwimmende Gestalten von kleinen Gedanken, Ahnungen, dann halbgeborne Dichtungen, Träume, Ideen, Kleinode von Empfindungen, mögen das lange Leben eines Menschen[54] durchwandeln, ohne daß Kunde davon wird! Man denke nur an das innere, namenlose Gewimmel des erwachenden Jünglings – an die langen träumenden, erinnernden, wortkargen Tage des einschlummernden Greises – an die Liebestage der schamvollen Jungfrau, an die innere, unausgesprochene Traumwelt phantasiereicher Weiber überhaupt, die durchgängig mehr mit Empfindungen handeln, ohne immer das Glöckchen derselben zur Hand zu haben, was wir hingegen häufiger können und tun. In dem reichsten wie ärmsten Menschen geht eine Bibliothek von Dichtungen zu Grabe, die nie erschienen sind – nur aus den drei Stanzen, die er herausgab, machen wir ein Urteil zusammen und sagen, seht, das ist der Dichter. Und glückselig der, der ein Ohr hat, auch nur die drei Stanzen recht zu hören und sich ein schönes Bild zu machen – so hat er dann eine schöne Welt: es gibt aber Leute, die aus den wenigen Farbenkörnern, die dem andern entspringen, nur Fratzen bilden und diese bedaure ich – sie sagen freilich, sie kennen die Welt, aber es ist nicht wahr, sie bekennen nur wider Willen ihr kleines Innere, und haben noch dazu eine Zerrwelt. – – Vor dem Hohlspiegel unsrer Sinne hängt nur das Luftbild einer Welt, die wahre hat Gott allein.

Titus! Dieser Gedanke hat mich ernst gemacht!! Als wir auf dem Rigi, umgeben von dem Abendglühen der Alpen, standen und Abschied nahmen, als mein Mund an Deinem brannte, als wir uns an die Brust drückten, daß wir meinten, sie müsse knirschen – was hatten wir von einander, und wie nahe waren wir uns?

Ein Sirius sandte zwei einsame Strahlen, und diese wurden auf einem andern Sirius gesehen – aber es waren zwei Weltkörper, und eine Wucht von Leben trugen sie ungekannt durch ihren öden Weltraum.

Oft und oft, wenn ich die ewigen Sterne sah, diese glänzenden Tropfen, von dem äußeren, großen Weltenozeane[55] auf das innere, blaue Glöcklein hereingespritzt, das man über uns Infusionstierchen gedeckt hat – wenn ich sie sah und mir auf ihnen dachte dieses Unmaß von Kräften und Wirkungen, die zu sehen und zu lieben ich hienieden ewig ausgeschlossen bin; so fühlte ich mich fürchterlich einsam auf der Insel ›Erde‹ – – und sind denn nicht die Herzen eben so einsam in der Insel ›Körper‹? Können sie einander mehr zusenden, als manchen Strahl, der noch dazu nicht immer so freundlich funkelt, als der von den schönen Sternen? Wie jene Herzen des Himmels durch ein einziges, ungeheures Band verbunden sind, durch die Schwerkraft, sollten auch die Herzen der Erde verbunden sein durch ein einziges, ungeheures Band – die Liebe – – aber sind sie es immer??

Noch sind Kriege, noch ist Reichtum und Armut.

Was hat denn der unergründliche Werkmeister vor mit dem Goldkorne, Mensch, das er an einen wüsten Felsen klebt, dem gegenüber der glänzende Sand einer endlosen Küste schimmert, der Saum eines unentdeckten Weltteils? und wenn dereinst ein Nachen hinüberträgt, wird da nicht etwa wieder eine neue, schönere Küste herüberschimmern? –

Ich weiß nur das eine, Titus, daß ich alle Menschen, die eine Welle dieses Meeres an mein Herz trägt, für dies kurze Dasein lieben und schonen will, so sehr es nur ein Mensch vermag – ich muß es tun, daß nur etwas, etwas von dem Ungeheuren geschehe, wozu mich dieses Herz treibt. – Ich werde oft getäuscht sein, aber ich werde wieder Liebe geben, auch wenn ich nicht Liebe glaube nicht aus Schwäche werde ich es tun, sondern aus Pflicht. Haß und Zank zu hegen oder zu erwidern ist Schwäche, – sie übersehen und mit Liebe zurückzuzahlen ist Stärke. Es ist tief in der Nacht, lebe wohl, guter, geliebter Mensch.[56]

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 1, Wiesbaden 1959, S. 50-57.
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