3. Das Lindenhäuschen

[147] Es geht die Sage, daß, wenn in der Schweiz ein tauiger, sonnenheller, lauer Wintertag über der weichen, klafterdicken Schneehülle der Berge steht, und nun oben ein Glöckchen tönt, ein Maultier schnauft, oder ein Bröselein fällt – sich ein zartes Flöckchen von der Schneehülle löset und um einen Zoll tiefer rieselt. Der weiche, nasse Flaum, den es unterwegs küsset, legt sich um dasselbe an, es wird ein Knöllchen und muß nun tiefer nieder als einen Zoll. Das Knöllchen hüpft einige Handbreit weiter auf der Dachsenkung des Berges hinab. Ehe man drei mal die Augen schließen und öffnen kann, springt schon ein riesenhaftes Haupt über die Bergesstufen hinab, von unzähligen Knöllchen umhüpft, die es schleudert und wieder zu springenden Häuptern macht. Dann schießts in großen Bögen. Längs der ganzen Bergwand wird es lebendig und dröhnt. Das Krachen, welches man sodann herauf hört, als ob viele tausend Späne zerbrochen würden, ist der zerschmetterte Wald, das leise Ächzen sind die geschobenen Felsen – dann kommt ein wehendes Sausen, dann ein dumpfer Knall und Schlag – – dann Totenstille – nur daß ein feiner, weißer Staub in der Entfernung gegen das reine Himmelsblau empor zieht, ein kühles Lüftchen vom Tal aus gegen die Wange des Wanderers schlägt, der hoch oben auf dem Saumwege zieht, und daß das Echo einen tiefen Donner durch alle[147] fernen Berge rollt. Dann ist es aus, die Sonne glänzt, der blaue Himmel lächelt freundlich, der Wanderer aber schlägt ein Kreuz und denkt schauernd an das Geheimnis, das jetzt tief unten in dem Tale begraben ist.

So wie die Sage das Beginnen des Schneesturzes erzählt, ist es oft mit den Anfängen eines ganzen Geschickes der Menschen.

Als Hugo der sonderbaren Bitte des alten Mannes folgte und in die Kirche von Sankt Peter ging, als er mit dem Manne geredet hatte und sich dann auf dem Heimwege befand, hielt er das Geschehene für das unbedeutendste Ereignis seines Lebens, ja er hielt es für gar kein Ereignis, und hatte gewiß nicht gedacht, daß das Ding der Anfangspunkt eines Geschickes sei, das bestimmt war, seinem Leben eine ganz andere Gestalt zu geben, als es sonst wahrscheinlich gehabt haben würde.

Jetzt, da er dachte, daß er vielleicht mit seiner Unbekannten in eine nähere Verbindung kommen würde, erkannte er schon die Wichtigkeit, die jener Zufall auf sein künftiges Leben ausüben könnte.

Die acht Tage, welche sie sich bedungen hatte, waren vorüber gegangen, und es war der Tag gekommen, an welchem er vor dem Kirchentore harren sollte. Als die Glocke zehn Uhr schlug, stand er schon an dem Tore. Kurz darauf begannen drinnen die frommen Orgeltöne, und es mischte sich der ruhige Gesang der Kirche unter sie. Ein Glöcklein klang etwas später – es klang wie jenes Morgenglöcklein, da er vom Vaterhause scheiden mußte. Als nach dem Ende der Messe der Gesang des Dreimal Heilig anfing, erinnerte er ihn an den Gesang der Gemeinde, der an Sonntagnachmittagen gerne in der Kirche im Gebirge ertönte, zu welcher das Haus seines Vaters gehörte, und zu welcher sie immer gingen, ihre Andacht zu verrichten.

Der Gesang wurde endlich aus, und in der Kirche geschah[148] der Segen. Aber ehe nach Beendigung des Gottesdienstes der erste Mensch aus dem Tore heraus trat, fahr ein Wagen rasch vor dasselbe vor und hielt. Hugo schaute hin, und sah, daß jenes grau gekleidete Mädchen, welches der schwarzen Gestalt immer aus der Kirche gefolgt war, ganz allein darinnen saß und ihm winkte, hinzu zu kommen. Er ging zu dem Fenster des Wagens hinzu, welches von dem Mädchen herab gelassen worden war, und das Mädchen sagte ihm, daß ihn ihre Gebieterin bitten lasse, in diesen Wagen einzusteigen. Hugo tat es, und als er auf dem Kissen Platz genommen hatte, fuhr der Wagen fort. Das Mädchen zog nun aus dem Beutel, den es am Arme hängen hatte, einen Brief hervor und sagte, diesen hätte ihr ihre Gebieterin gegeben, damit sie ihm denselben einhandige und er ihn während des Fahrens lesen möge. Hugo riß schnell das Siegel auf, entfaltete das Papier, und eine sehr schöne, fließende Frauenhandschrift trat seinen Augen entgegen. Die Worte aber, welche diese Frauenhandschrift enthielt, lauteten folgender Maßen: ›Ich lasse Sie recht gerne in mein Haus eintreten, wie Sie gebeten haben, so wie ich recht gerne Ihren Gruß und Ihre sanften Aufmerksamkeiten vor der Kirche und in jener Gasse angenommen habe. Aber eine Bitte muß ich tun, ehe Sie mein Haus betreten, welche Sie gewiß erfüllen werden, da Sie so sind, wie ich Sie mir gleich, da ich Sie das erste Mal sah, vorgestellt habe. Es walten über meinem Schicksale einige Schwierigkeiten, deren Herr ich nicht bin, wenigstens jetzt noch nicht bin, fragen Sie mich daher nicht, wer ich bin, woher ich gekommen sei, und in welchen Verhältnissen ich lebe. Prüfen sie in meinen Gesprächen und in meinem Umgange meine Seele und mein Wesen, ob diese für sich genug tun oder nicht. Darnach richten Sie Ihren Entschluß für die Zukunft. Ich werde mich nicht verstellen – man konnte es auch nicht; denn wenn man[149] auch die Seele durch die Lüge einer großen Tatsache verfälschte, so blickt sie doch aus tausend kleinen, die vor dem Beobachter vorfallen, heraus und zeigt sich, wie sie ist. Wenn Sie mir die Freude machen, in meine Wohnung zu treten, so sehe ich das als ein Zeichen an, daß Sie meine Bitte zu erfüllen gesonnen sind. Sollten Sie aber Ihren Grundsätzen zu Folge diese Bitte nicht erfüllen können, so machen Sie mir lieber den Schmerz, daß ich Sie heute nicht und in alle Zukunft nicht mehr sehe; denn aus Ihren Fragen würde sehr viel Kummer und sehr viele Traurigkeit hervor gehen. Dann lebe ich fort, wie ich bisher gelebt habe. Ich werde Ihnen, wenn Sie kommen, einstens schon alles enthüllen, wie es meine Pflicht und meine Verbindlichkeit ist. Ich sende Ihnen viele sehr schöne Grüße. Cöleste.‹

Hugo faltete das Papier wieder zusammen, zog seine Brieftasche hervor und legte das Schreiben hinein.

Das Mädchen, welches mit ihm fuhr, beobachtete ihn eine Weile, dann sagte es: »Haben Sie den Brief gelesen?«

»Ja«, antwortere Hugo.

»Dann hat mir meine Gebieterin aufgetragen, Sie zu fragen, ob wir zu ihr fahren sollen, oder ob Sie an irgendeiner andern Stelle aus diesem Wagen zu steigen wünschen.«

»Wir fahren zu ihr«, antwortete Hugo.

»Dann braucht der Kutscher keine weitere Weisung,« sagte das Mädchen, »er weiß schon, wohin er lenken soll.«

Mit diesen Worten lehnte sie sich wieder in den Wagen zurück, und die beiden Miteinanderfahrenden redeten von nun an keine Silbe mehr zu einander.

Der Wagen rollte indessen sehr rasch dahin und war bereits, wie Hugo bemerkte, in der Hauptstraße einer der Vorstädte, ziemlich weit von der Stadt entfernt.[150]

Endlich schwangen sich die Pferde von der Straße ab und fahren durch das Tor eines Gartens hinein, wie sie in den entfernten Teilen der Vorstädte noch häufig zwischen den Häusern liegen. In dem Garten ging ein breiter, langer Sandweg zurück, auf dem man die Räder nicht rollen hörte, und führte einem weißen, schönen Häuschen zu, welches zu beiden Seiten und rückwärts mit großen, dichten Linden umgeben war und nur mit der Stirne über die andern niedern Gebüsche des Gartens auf die Straße der Vorstadt hinaus sah. Vor dem Tore dieses Hauses hielt der Wagen. Das Mädchen stieg aus, Hugo folgte, und der Wagen fuhr wieder davon. Das Mädchen führte nun Hugo eine kurze, breite Treppe hinauf, schloß zwei Türen auf und geleitete ihn in die einzige Wohnung, welche das Häuschen im ersten Geschosse enthielt. Es waren vier Zimmer in der Reihe, und ihre Türen waren durch und durch offen. Im zweiten derselben stand sie, die ihn erwartete – es schien, als hätte sie ihm entgegen gehen wollen, von hier aus aber nicht weiter den Mut gehabt – sie stand an einem marmornen Spiegeltische, der an einem Pfeiler war, und hielt sich daran mit der einen Hand. Hugo hatte sie nur immer in dem alten schwarzen Kleide gesehen, heute aber war sie leicht und mit den Kleidern der Jugend angetan: er erschrak ein wenig; denn so schön und so schlank und so groß hatte er sie nicht gedacht. Von dem grauen Seidenkleide, das sie umfloß, blickten die weißen Hände und das lichte Antlitz sanft hervor. In den dunkelbraunen Haaren, welche besonders reich waren, trug sie gar nichts; aber diese Haare waren selber ein Schmuck, sie waren unbeschreiblich rein und glänzend, und die feinen Züge und die großen Augen sahen darunter wie ein süßer Himmel heraus. Sie war sehr rot geworden, als er eintrat.

Hugo hielt seinen Hut in der Hand, verbeugte sich vor[151] ihr, und sagte gar nichts. Sie sprach auch nicht – und so standen sie einige Augenblicke. Dann fragte sie ihn, ob er nicht in ihr Arbeitszimmer mit ihr gehen wolle. Er ging mit ihr. In dem Zimmer stand ein Stichrahmen am Fenster, in der Ecke war ein Schreibtisch, dann waren die andern Geräte, die gewöhnlich in solchen Zimmern zu sein pflegen, kleine Tischchen, Schemel und dergleichen, an der Rückwand stand ein Sofa mit den dazu gehörigen Sesseln, und davor ein großer Tisch. Der Boden war mit schönen Teppichen belegt. Draußen wiegten sich die grünen Baumzweige der Linden, es spielten Sonnenstrahlen herein, daß gesprenkelter Schatten auf den Teppichen war. Sie setzte sich auf das Sofa und lud ihn zum Niedersitzen ein. Er legte seinen Hut auf eines der Tischchen und setzte sich auf einen Sessel vor den Tisch.

Sie sprachen nun von gewöhnlichen Dingen. Hugo sagte, daß sehr viele Menschen auf dem Wege seien, um das Freie zu gewinnen, um dort einen Teil des Tages zuzubringen, der gar so schön sei. Sie lobte die Linden, die vor ihren Fenstern standen, und sagte, daß sie an so heitern Sommertagen, wie der heutige, einen äußerst angenehmen Geruch herein duften. Wenn aber große Hitze herrsche, dann zeigen sie erst ihre Trefflichkeit, weil sie Schatten und, beinahe möchte man sagen, ein kühles, erquickendes Lüftchen herein senden.

Nachdem sie eine Weile so gesessen waren, stand Hugo auf, um sich zu empfehlen. Sie begleitete ihn durch die zwei Zimmer – denn das Arbeitszimmer war das dritte und als sie in das letzte Zimmer hinaus gekommen waren, fragte er sie, ob er die Freude haben könne, sie wieder einmal besuchen zu dürfen. Sie sagte, daß er jeden dritten Tag um die vierte Nachmittagsstunde kommen dürfe, und daß sie sich freuen werde, wenn er komme; nur möchte er jetzt nicht mehr vor der Kirche[152] oder in jener Gasse mit ihr zusammen treffen, wo er sie bisher gesehen und auch ein paar Male mit ihr gesprochen habe. Hugo sagte, daß er ihre Worte befolgen werde, verbeugte sich und ging fort. In den Vorzimmern, welche ihm das Mädchen aufgeschlossen hatte, das er sonst immer in grauen Kleidern der Gebieterin aus der Kirche folgen gesehen hatte, saß an einer Arbeit dasselbe Mädchen, war aber heute nicht grau, sondern in die gewöhnlichen bunten Kleider ihrer Gattung gekleidet. Es stand auf, da Hugo das Zimmer betrat, öffnete wieder die Schlösser, um ihn hinaus zu geleiten. Unten im Erdgeschosse sah Hugo neben dem Ausgangstore ein Stübchen, dessen Tür zur oberen Hälfte aus Glas bestand. Daraus sah das Gesicht eines Türstehers heraus, und dieser machte, da Hugo heraus ging, demselben eine Verbeugung und lüftete den Hut. Hugo hatte beim Hereingehen auf jene Stelle nicht hin gesehen.

Draußen standen die Häuser in zwei Reihen dahin und bildeten die Straße. Staub wogte in ihnen, und die beinahe steilrecht herein fallenden Mittagsstrahlen der Sonne beschienen ihn. Die Menschen wandelten in der Straße hin und zurück, wie sie von ihren Geschäften gezogen wurden. Hugo ging nach Hause und saß in seinem Zimmer nieder. Da die Stunde schlug, in welcher er gewöhnlich zu seinem Mittagessen zu gehen pflegte, stand er auf und ging in das Gastbaus, wie er es bisher alle Tage getan hatte. Nachmittag saß er bei seinen Arbeiten, und am Abende ging er auf den Anhöhen um die Stadt spazieren, wie er bisher auch immer getan hatte.

Als die drei Tage vorüber waren, ging er am letzten derselben, da eben die vierte Nachmittagsstunde schlug, in der wohlbekannten Vorstadtstraße dahin. Er kam zudem Garten, und das weiße Häuschen schimmerte ihm aus den Linden wie ein schönes Geheimnis entgegen. Er öffnete das Gartengitter, das heute eingeklinkt, nicht wie[153] damals, wie er hereinfuhr, geöffnet war, tat es hinter sich zu und ging den bekannten Sandweg entlang. Der Garten hatte nur Grasplätze und Zierbäume, keine Blumen oder Obst tragende Bäume oder Gesträuche. In dem Stübchen unter dem Torwege sah er denselben Türsteher aus dem obern Teile der Glastür heraus sehen. Er war ein schon sehr betagter Mann. Hugo ging die Treppe hinan, klingelte an der äußern Tür der Wohnung, und dasselbe Mädchen, welches sonst immer da war, öffnete ihm auch heute und geleitete ihn zu der Gebieterin hinein. Diese war ihm bis in das äußerste Zimmer entgegen gekommen und führte ihn dann, wie das erste Mal, in ihr Arbeitsgemach zurück. Sie war heute wieder nicht in ihr Schwarz, in dem er sie kennen gelernt hatte, gekleidet, sondern, wie das erste Mal mit grauer Seide, war sie heute mit dunkelgrüner angetan. Jedes der Kleider war sehr einfach, aber sehr edel gehalten. Im Stoffe reich, spannten sie um die Hüften und flossen dann in ruhigen Falten hinab. So wie das vorige Mal hatte sie auch heute gar keinen Schmuck an sich, nicht einmal einen Ring an einem Finger – das Kleid schloß an dem Halse, dann war das Haupt mit den gescheitelten braunen Haaren und den glanzvollen großen Augen, mit denen sie ihn ansah, als er hereingetreten war. Hugo war nun in dem Zimmer – heute hatte er schon mehr Macht gehabt, die andern Zimmer, durch die er gekommen war, zu betrachten. Sie waren ohne Prunk, fast möchte man sagen, zu dünne, aber sehr vornehm eingerichtet. Er legte seinen Hut ab und setzte sich auf denselben Sessel wie das erste Mal. Sie saß in den Kissen des Sofas und sah auf ihn hin. Sie fragte ihn, ob er, seit sie sich nicht gesehen haben, immer wohl gewesen sei, und ob er ihrer gedacht habe. Er antwortete, daß er wohl sei, und daß er nicht nur ihrer gedacht, sondern daß er fast sonst nichts gedacht habe als sie. Sie war bei seinem Eintreten wie das[154] erste Mal errötet, und bei diesen Worten errötete sie noch mehr.

Sie hatte ihn das vorige Mal gar nicht um seinen Namen oder etwa um andere Verhältnisse gefragt, sie tat es auch heute nicht. Er aber erzählte ihr freiwillig, daß er ein fernes Haus auf sehr schöner grüner Halde habe, um die hohe Berge mit ehrwürdigen Häuptern stehen – er erzählte ihr von seiner Jugend, die er so vereinsamt verlebt habe, und in der er so glücklich gewesen sei, er erzählte ihr von seinem Vater, der ihn unterrichtet und mehr geliebt habe, als er verdiente, er erzählte ihr von dem Abschiede von diesem Vater, von dem Tode desselben, und von dem Schmerze, dem er sich über diesen Tod hingegeben habe. Von der Mutter könne er ihr wenig erzählen, er habe sie kaum gekannt, aber der Vater habe öfter von ihr gesagt, wie sie gut gewesen, und wie sie für sein Glück viel zu frühe gestorben sei – aus diesen Reden habe er sie auch lieben gelernt, und sei manchmal, nicht bloß mit dem Vater, sondern auch allein zu dem Hügel Erde hin gegangen, unter dem ihre Glieder ruhten. Er erzählte ihr dann ferner, wie er in diese Stadt gekommen sei, wie er sich hier eingerichtet habe, womit er sich beschäftige, und was seine Absichten für die Zukunft seien. Von der Veranlassung, durch die er sie kennen gelernt, so wie überhaupt von dem, was darauf gefolgt ist, sagte er kein Wort.

Sie hörte ihm aufmerksam zu, hatte die Augen auf seine redenden Lippen geheftet, und in dem Angesichte war etwas wie Rührung, oder beinahe wie Wehmut gezeichnet. Sie sagte ihm, sie könne ihn aus ihrem Herzen versichern, daß sie eben so einsam, vielleicht noch viel einsamer auf dieser Erde sei als er. Sie habe bisher niemanden gehabt, der eine anhängende Neigung gegen sie bewiesen habe, außer Dienstboten, die ihr gut gewesen seien, ihm war ein Vater zur Seite gestanden, an den, wenn er ihn[155] auch verloren habe, er sich erinnern könne. Sie habe nie jemanden gehabt. Jetzt kenne sie nur ihn. Sie habe ihn beim ersten Sehen gleich als gut erkannt, und als verschieden von allen andern. Und wie sie bemerkt habe, daß er auf sie schaue – und wie er vor der Kirchentür gestanden sei, und wie sie erkannt habe, daß er nur darum da stehe, daß er einen Blick auf sie tun könne, so sei die außerordentlichste Freude in ihr Herz gekommen. Sie habe schwere, schwere Schicksale erlitten.

Beim Abschiede bat sie Hugo, sie möchte ihm ihre Hand reichen. Sie hatte schon damals, als er ihr in der einsamen Gasse das verlorne Blättchen darreichte, keine Handschuhe gehabt, später, da sie ihm aus dem schwarzen Ärmel hervor zum ersten Male die Hand gab, hatte sie auch keine, und eben so hatte sie die beiden Male keine, da er sie besuchte. Sie reichte ihm die Hand, und wie er dieselbe in seine beiden faßte, herzlich drückte und zum Kusse an seine Lippen führte, rannen reichliche Tränen über ihre Wangen herab.

Wie das erste Mal führte ihn das Mädchen durch die Vorzimmer hinaus, er ging die Treppe hinab, sah den alten Türsteher, ging über den Sandweg des Gartens hervor und schritt durch das Eisengitter auf die Straße hinaus. Der Gegensatz des Alltäglichen mit dem, was er so eben erlebt hatte, drängte sich ihm auch heute auf. Sie war wieder sehr schön gewesen, und in dem schlanken, zarten, dunkelgrünen seidenen Kleide, das die kleinen Fältchen auf dem Busen hatte, sehr edel. Es war ihm wie ein Rätsel, daß sich die Pracht dieser Glieder aus der unheimlichen Kleiderwolke gelöset habe, und daß sie vielleicht sein werden könne.

Er kam, wie es verabredet worden war, am dritten Tage nach diesem Besuche wieder. Es war wie die beiden Male. Das Eisengitter war eingeklinkt, er öffnete es, ging über den Sandweg, sah den Pförtner sitzen, ging über die[156] Treppe empor, fand das gewöhnliche Mädchen in den Vorzimmern, trat von diesen in die Wohnung ein und fand dort sie. Sie empfing ihn jedes Mal, wie zu anfangs, mit derselben Befangenheit. Ihre Kleider, wie sie auch wechselten, waren immer sehr rein, sehr schön und sehr einfach. Vorzüglich liebte sie Seide. Jedes Kleid schloß sich am Halse. Dann war, wie wir oben sagten, das Haupt mit den großen, glänzenden Augen. Ihr Sinn für Reinheit erstreckte sich auch auf den Körper; denn das Haar, das sie einfach geordnet als einzige Zierde um das Antlitz trug, war so gänzlich rein gehalten, wie man es sehr selten finden wird. Auch die Hände und das Stückchen Arm, das etwa sichtbar wurde, waren rein und klar. Sie trug nie Handschuhe, an keinem Finger einen Ring, an dem schönen Arme, der sich, wenn die Ärmel weit waren, am Knöchel zeigte, kein Armband, und auf dem ganzen Körper kein Stückchen Schmuck. Unter dem langen Schoße des Kleides, wie sie häufig die vornehme ren Stände haben, sah die Spitze eines sehr kleinen Fußes hervor.

Sie saßen, wenn Hugo kam, beisammen und sprachen. Sie lernten sich immer mehr kennen – und sie, die auf der Gasse eigentlich schon viel bekannter gewesen waren, waren im Zimmer viel schüchterner, viel fremder, und mußten das Geschäft gegenseitigen Erkennens beginnen. Wenn er fort ging, standen sie wohl im zweiten Zimmer, wo er sie zum ersten Male hier gesehen hatte, und wo der Marmortisch ist, eine Weile bei einander stille, hielten sich an den Händen und wünschten sich dann eine recht freundliche gute Nacht.

Sie sprachen von verschiedenen Ereignissen des Tages. Am liebsten fragte sie ihn, was er in der Zeit, als sie ihn nicht gesehen, getan habe. Er erzählte ihr mit der Un- befangenheit, die die Natur seines Wandels ihm eingab, wie er gelebt habe, wohin er gegangen sei, und was er in[157] seiner Stube an seinen Arbeiten vollbracht habe. Sie horchte ihm bei diesen Schilderungen recht gerne, weil er vielleicht bei ihnen am reinsten und klarsten erschien. Einmal sagte sie ihm, sie habe ihn auf seinem Pferde gesehen, wie er durch die Stadt gegen das Freie hinaus geritten sei. Er errötete heftig bei dieser Eröffnung; denn obwohl er sie in der Kirche und in jener einsamen Gasse gesehen und auch gesprochen hatte, hatte er dieses fast vergessen, und konnte sich sie nur in dem Lindenhäuschen, nicht in der Stadt vorstellen, wie sie etwa gehe oder fahre. Wenn sie so von seinen Arbeiten oder, wie man sie besser nennt, von seinen Vorübungen sprachen, gerieten sie nicht selten auf die Begebenheiten, die eben in jener Zeit vorfielen. Sie fragte ihn um seine Meinung, er setzte sie auseinander, und sie stimmten immer in ihren Ansichten überein. Vorzüglich hegte sie den Glauben und den Wunsch, daß die deutschen Waffen einmal sich vereinen, sich mit andern verstärken, schnell den Sieg und die Entscheidung erringen und den goldenen, sehnlich erwarteten Frieden herbei bringen möchten. Er sagte dann, daß er nicht bloß den Wunsch habe, sondern daß das ein Ereignis sei, welches ganz gewiß eintreten müsse, daher er seine Lebensrichtung auf dasselbe allein genommen habe. Was sie sonst über die Dinge der Welt und der Menschen, über die Natur und ihre Schönheit sprachen, lautete bei beiden gleich oder ähnlich.

Obwohl er, seinem Versprechen getreu, nie um ihre Verhältnisse fragen zu wollen, sich auch die Frage nicht erlaubte, ob er denn nicht öfter als nur jeden dritten Tag kommen dürfe, weil er diese Frage für eine verlarvte andere hielt, die das Wesen ihrer Verhältnisse berührte: so konnte er es sich doch nicht versagen, als sie wieder einmal Abschied nehmend bei einander standen, sich an den Händen hielten und sie ihn bat: »Kommen Sie doch nach drei Tagen wieder« – die Worte auszusprechen, daß es[158] ihm eine sehr große Freude, ein Glück sein würde, wenn er nicht bloß in drei Tagen sondern öfter, ja täglich ihr Angesicht sehen und ihre Worte hören könnte.

»So kommen Sie alle Tage,« sagte sie mit eben so sichtlicher Freude, mit der er es anhörte, »ach, es ist ja mir auch ein Glück, daß ich Sie sehe und Ihre Worte höre. Aber kommen Sie täglich erst um vier Uhr, richten Sie Ihre Beschäftigungen so ein, wenn es nämlich geht, daß es sein kann.«

»Es kann sein,« sagte Hugo, »ich komme gerne, recht gerne.«

Und er kam nun täglich. So wie der vierte Glockenschlag nachmittags von den Türmen fiel, ging er in der Straße der Vorstadt, öffnete das Gitter, und das weiße Häuschen schaute freundlich grüßend aus den dunklen Linden herüber.

Ihr Umgang wurde immer inniger und traulicher.

Was sich ihre Angesichter versprochen hatten, da sie sich noch vor der Kirche und dann in jener einsamen, breiten Gasse angeschaut hatten, das war in Erfüllung gegangen. Aus beiden Herzen brach die Liebe hervor. Sie sagten es einander unverhohlen, waren freudig, als wenn eine Last von ihnen genommen wäre, und waren selig in diesem Gefühle und in sei nen kleinen unbedeutenden Äußerungen.

Es breitete sich von nun an eine heitere Freude, ein inneres Glück über sie aus, und beide folgten recht gerne dem sanften Zuge dieser Tage.

Dennoch war es zuweilen, wenn Hugo fröhlich von seiner Zukunft sprach und offen sein unbefangenes Herz hinlegte, daß sie traurig wurde, daß sie wehmütig drein sah, und mehr als ein Mal von ihm mit Tränen in den Augen angetroffen wurde. Er schrieb dieses der Unklarheit ihres Verhältnisses zu, und forschte nicht. Sie hatte alles, was sich nur immer in seinem Leben zugetragen[159] hatte, von ihm erfahren, er aber wußte von ihr nichts. In solchen Tagen gab er ihr nur treuere, innigere Beweise seiner Liebe, wodurch sie gewöhnlich nur noch mehr erschüttert wurde.

Er hielt auch sein Versprechen, daß er nie um ihre Schicksale fragen wolle, getreulich. Er entließ kein Wort und keine Anspielung auf diese Dinge. Er hätte wohl irgendwo in der Stadt fragen können, wem das Häuschen gehöre, das in dieser und jener Vorstadt in dem Garten, wo die vielen Linden sind, stehe, er hätte dann den Eigentümer aufsuchen und ihn fragen können, wer das weibliche Wesen sei, das sein Haus bewohne, oder wenigstens, in welchen Verhältnissen sie hier stehe – er hätte durch ihre Leute oder andere hinter die Sache zu kommen suchen können, sie hat ihn in jenem Briefe nicht gebeten, es nicht zu tun; sie hat es ihm nicht zugetraut, und darum tat er es auch nicht. So wie es nicht in ihrem Charakter lag, auf diesen Fall zu denken, so lag es nicht in dem seinen, ihn zu benützen, wenn er auch darauf dachte. Unter seinen Bekannten sagte er auch keinem einzigen etwas von seinen Besuchen in dem weißen Häuschen, er erfuhr daher von dieser Seite ebenfalls nichts, und so war er an dem letzten Tage, nachdem er schon bedeutend lange zu ihr gekommen war, über ihre äußeren Verhältnisse eben so unwissend, wie er es an dem ersten Tage gewesen war.

Aber ihre inneren kannte er besser. Wie sie es einstens versprochen hatte, so geschah es. Ihre Seele lag in den vielen Gesprächen, die sie hielten, ohne Rückhalt und meistens unwillkürlich vor ihm – und diese Seele war seinem Sinne ganz recht. Er kam sehr gerne zu ihr, ward sehr gerne empfangen und blieb täglich länger. Beide wurden sie nach und nach immer seliger gegen einander gezogen. Sie neigte ihr süßes Angesicht zu ihm, und es zitterte Freude darin, so wie Freude in ihm zitterte.[160] Wenn er durch die zarte Seide ihre Glieder fühlte, die er sich sonst kaum anzusehen getraut hatte, so floß es wie ein Wunder durch sein Leben.

Er fragte jetzt, da sie in dieser Lage mit einander waren, nicht, wie einstens in der einsamen Gasse, ob sie seine Gattin werden wolle, weil er seines Versprechens eingedenk war, und weil er dachte, sie werde schon einmal alles, alles enthüllen, wie sie es ja versprochen habe.

Das einzige, was sie äußerte, bestand darin, daß sie schon ein paar Male gesagt hatte, er dürfe sie nie, unter gar keiner Bedingung verlassen, worauf er immer geantwortet hatte, was ihr denn beikomme, das werde nie, nie geschehen. Solches sei ihm fremder, als sich nur immer Feuer und Wasser fliehen können.

Einmal, da sie wieder, während große Zärtlichkeit in ihrem Angesichte schimmerte, dasselbe verlangt hatte, sagte er: »Eine Bedingung gibt es doch.«

»Welche?« fragte sie.

»Diese kann ja nie eintreten«, sagte er gütig. »Ich möchte sie doch wissen«, fragte sie.

»Wenn ich Untreue erführe«, antwortete er.

»Nein, diese wird nicht eintreten«, sagte sie. – –

Oft, wie die Zeit so dahin floß, war es Hugo, als müsse nun ein Gutes, Frommes, Seliges kommen – – aber es kam nicht. Ein trauriges Herz Cölestens lag oft vor seiner Seele, und eine Unheimlichkeit dauerte fort, obgleich sie ihm mit ihrem ganzen Wesen ergeben war, und er ihr ganzes Wesen in sein tiefstes Herz aufgenommen hatte.

Auch andere Dinge fing er an zu bemerken. Wenn ihn in der Nacht die Unstätigkeit trieb und er an ihrem Hause vorüberging, sah er nie ein Licht in den Fen stern. Wenn er sie besuchte, sah er, daß in ihrer Wohnung immer alles auf dem alten Platze liege, und daß die Stickerei am Rahmen nicht vorrücke. Oft war eine Luft in den Zimmern, nicht wie die der Wohnlichkeit, sondern wie in[161] verschlossenen Räumen. Wenn er im Laufe des Tages, etwa vormittags, da er nicht arbeiten konnte, vorbei ging oder ritt, sah er nie Rauch aus dem Schornsteine steigen, so wie er sich nicht erinnern konnte, je Küchenfeuer gesehen oder bemerkt zu haben. Daß er immer nur das Mädchen, welches sonst in grauer Kleidung der Gebieterin aus der Kirche gefolgt war, und im Stübchen unter dem Torwege nur den alten Mann gesehen habe, war ihm schon früher aufgefallen, allein er dachte damals, die andern Leute und die andern zur Häuslichkeit gehörenden Räume werden schon in einem andern Teile der Wohnung sein. Jetzt fiel ihm dieses wieder ein.

Eines Abends, da er zu lange geblieben war und spät in der Nacht unter einem gewitterzerrissenen Himmel nach Hause ging – schrie es in ihm auf: »Das ist die Liebe nicht, das ist nicht ihr reiner, goldner, seliger Strahl, wie er immer vorgeschwebt, daß er aus einem Engelsherzen brechen werde und das andere verklären – – nein – nein, das ist er nicht.«

Er hörte in einem der nächtlichen Häuser einen Finken schlagen. Das Tier mußte eingesperrt, vielleicht geblendet sein und daher die Nacht, weil es sehr stille und gewitterwarm war, nicht kennen. Hugo mußte bei diesen Tönen an das alte Haus auf der Bergeshalde denken, wo diese Vögel am Glanze des Tages freudig auf freien Bäumen geschlagen hatten – und vor dem alten Hause mußte er sich den grauen, unschuldigen Vater stehend denken. – Er ging schneller in den Gassen, daß seine Tritte hallten. Obwohl es schon tief im Herbste war, so richtete sich doch ein seltsam verspätetes Gewitter am Himmel zusammen. Seine stillen schwarzen Wolken hingen so tief, daß sie sich fast in die Türme der Stadt drückten. In den Häusern waren keine Lichter, kein Wanderer ging, und von den Uhren der Kirchen fielen einzelne Glockenschläge, die die Stunde schlugen.[162]

Als Hugo nach Hause gekommen war, saß er an dem Tische nieder, und ein Strom von Tränen floß aus seinen Augen.

Viele Wochen waren bis jetzt vergangen gewesen, seit denen er täglich das außerordentlich schöne Weib in dem weißen Häuschen besucht hatte, das ihm unschuldig, treu, willenlos, wie ein liebliches Kind, hingegeben war. An dem Tage aber, als das Gewitter in der Nacht seinen Regen über die Stadt geschüttet hatte und nun eine kühle, reinliche Luft an dem Himmel stand, ging er zum ersten Male nicht zu ihr, obgleich sie ihn erwarten mußte.

Am zweiten und dritten Tage ging er auch nicht.

Am vierten, da die gewöhnliche Stunde schlug, ging er doch gegen das Gittertor zu. Es war, wie sonst, nur eingeklinkt, er ging hindurch, ging über den Sandweg und kam zu dem Hause. Aber der erste Blick zeigte ihm, daß alles geändert sei. Das Haustor war gewöhnlich geschlossen, und nur ein in dasselbe geschnittener kleinerer Flügel war zum Öffnen gewesen – heute stand das ganze Tor offen. Die Fenster des Stübchens, in welchem immer der Türsteher gesessen war, standen ebenfalls offen, und das Stübchen war leer. Hugo ging nun über die Treppe hinauf, die Flügel der Türen in die Vorzimmer waren offen, und durch die, die in die Wohnung führten, kam er leicht hindurch, weil sie dem ersten Drucke nachgaben – aber in den Vorzimmern war keine Dienerin noch irgendein Geräte gewesen – und die Wohnung stand leer. Auf der Treppe hatte er Staub und Kehricht gefunden, durch die Zimmer, in denen er jetzt stand, wehte die Luft des Himmels; denn die Fenster waren offen, und die Wände, an denen sonst die Geräte, der Marmortisch, der Spiegel und anderes gewesen waren, standen nackt. – Hugo meinte, er müsse sich einen Augenblick die Augen zuhalten, bis dieses Blendwerk vorüber sei. Aber es[163] dauerte fort, und die Wohnung sah ihn immer mit derselben Unwirtlichkeit an. Er ging durch alle Räume, er sah jetzt auch die Küche und die anderen zum Hauswesen gehörenden Fächer. Aber die Küche war leer, der Herd kalt, und in den Fächern standen kaum einige der gewöhnlichen Gestelle. Er lief nun die Treppe hinab, um in dem Erdgeschosse nachzusehen; aber hier war es auch wie oben. In dem ganzen leeren Hause war nicht ein einziger Mensch. Hugo ging nun in den Garten. Auf den Wegen lag das von dem Winde des letzten Gewitters herabgeschüttelte, sich schon herbstlich färbende Laub, und daneben standen die bereits gelb und rötlich schillernden Gesträuche – aber es war auch im Garten kein einziger Mensch. – Hugo blieb nun nichts übrig, als auf dem breiten bekannten Sandwege, in welchem er heute Räderspuren sah, zurück zu gehen und durch das Eisengitter hindurch das Freie zu suchen.

Er tat es auch und fragte noch in mehreren Nebenhäusern rechts und links, ob sie nichts von dem Sachverhalte des weißen Häuschens wüßten. Allein sie wußten nichts. Nur den Namen und die Wohnung des Eigentümers des Häuschens konnten sie ihm angeben. Er gedachte nun wohl seines Versprechens, nicht nach den Verhältnissen Cölestens forschen zu wollen, aber unter den gegebenen Umständen hielt er Forschen für erlaubt, ja vielleicht für geboten, da er ihr selber durch sein Ausbleiben den Weg der Eröffnung abgeschnitten hatte. Er nahm sofort einen Wagen, fuhr zu dem Eigentümer des Häuschens und legte ihm Fragen über das weibliche Wesen vor, das in seinem Hause gewohnt habe.

Der Mann sagte, er wisse wohl, daß eine Dame sein Gartenhaus bewohnt habe, aber gestern seien von dem Haushofmeister derselben, den man Dionys genannt habe, die Gerätschaften fortgebracht worden. Heute habe er die Fenster und Türen öffnen lassen, damit die[164] Wohnung auslüfte, dann denke er sie wieder zu vermieten. Sonst wisse er nichts, Dionys habe gestern den Rest der Miete bezahlt.

»Seit wann ist das Häuschen an die Dame vermietet gewesen?« fragte Hugo.

»Seit dem Frühlinge«, antwortete der Eigentümer.

Hugo fahr nach diesen Erkundigungen nach Hause und verbrachte den Rest des Tages in seiner Stube. Am andern Morgen um zehn Uhr ging er in die Kirche von Sankt Peter. Aber die schwarze Gestalt kniete nicht, wie gewöhnlich, an dem Altare. Die Messe wurde aus, alle gingen fort – sie war nicht da gewesen. Den nächsten Tag ging er wieder in die Kirche, er wartete nach der Messe in der einsamen breiten Gasse – aber er sah sie nicht. Dies tat er nun mehrere Wochen hindurch, ohne seinen Zweck zu erreichen. Er war unterdessen auch wieder einmal in dem Garten gewesen, in welchem das Lindenhäuschen stand – aber es wohnten jetzt bereits fremde Leute darinnen. Unter allen seinen Bekannten und unter andern Leuten forschte er herum, allein er hatte sein Geheimnis so gut bewahrt, und von der andern Seite war es so gut bewahrt worden, daß niemand auch nicht die entfernteste Ahnung von der Bedeutung des Häuschens hatte.

Hugo meinte, es könne gar nicht anders möglich sein, er müsse das schöne, geliebte, durch so lange Zeit her täglich geschaute Angesicht wo sehen!

Aber er sah es nicht.

Nachdem schon das Forschen Monate gedauert hatte, nachdem schon der Winter seine Flocken und seine Eisdecke auf die Stadt herab geworfen hatte, gab er seine Bemühungen auf. Er saß in seinem Zimmer und hielt das schöne, müde Haupt in seinen beiden Händen.[165]

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 2, Wiesbaden 1959, S. 147-166.
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Fräulein Else

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Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

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Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

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