Elfte Scene

[43] Die Vorigen ohne Therese.


PFARRER. Verzeihen Sie, liebes Fräulein Mariechen, wenn wir Sie noch einmal als kleines Mädchen behandeln und Sie bitten, uns noch für einen Augenblick allein zu lassen.[43]

MARIE. Mir ist so angst bei dem allen, Herr Pfarrer. Bittend. Papa?

SCHWARTZE verstört auffahrend. Was, mein Kind?

MARIE. Papa! – Papa, du weißt, wer diese Dame ist?

SCHWARTZE. Ich? Nein – ich vermute es nur.

MARIE aufschreiend. Magdalena – Magda – Magda ist hier! Auf die Knie fallend. Ach, du verzeihst ihr!

SCHWARTZE. Steh auf, mein Kind. Deine Schwester steht hoch über meinem bißchen Verzeihung.

PFARRER. Aber – über Ihrer Liebe steht sie nicht.

MARIE. Magda ist da! Mein Gott, Magda ist da! Weint am Halse der Mutter.

FRANZISKA. Holt mir denn keiner ein Glas Wasser? Ich bin ja so bewegt.[44]

PFARRER. Haben Sie einen Entschluß gefaßt? Schwartze bleibt unbeweglich. Soll das heißen, Sie lassen sie ihrer Wege gehn, ohne sie –?

SCHWARTZE. Es wird wohl so sein.

PFARRER. Ei, wenn Sie in Ihrer Sterbestunde mit einemmale das Verlangen nach Ihrer verlorenen Tochter packt? Wenn Sie sich dann sagen müssen: Sie hat vor meiner Schwelle gestanden, und ich hab ihr nicht zugerufen: Komm herein!

SCHWARTZE gequält und halb besiegt. Was wollen Sie von mir? Soll ich mich demütigen vor meinem weggelaufenen Kinde?

PFARRER. Nein, das sollen Sie nicht ... Ich – ich – werde – zu ihr gehn.

SCHWARTZE. Sie? Pfarrer, Sie?

PFARRER. Ich habe heute nachmittag vor ihrem Hotel gewartet, um mich zu überzeugen, ob sich Fräulein Franziska nicht geirrt habe. Um dreiviertel vier ist sie aus dem Tor getreten und in den Wagen gestiegen.

MARIE. Sie haben sie gesehn?[45]

FRAU SCHWARTZE. Wie hat sie ausgesehn? Was hat sie angehabt?

PFARRER. Die Aufführung hat um vier Uhr begonnen und muß nächstens zu Ende sein. Ich werde sie also im Hotel erwarten und werde ihr sagen, daß sie hier – daß sie hier offene Arme findet ... Das darf ich doch?

MARIE. Ja, ja, nicht wahr, Papa, ja?

FRAU SCHWARTZE. Bedenke doch, wer deine Tochter –

SCHWARTZE. Können Sie mir schwören, daß sich kein schwächlicher und eitler Gedanke in Ihr Handeln einmischt? ... Daß Sie, was Sie thun, im Namen unseres Herrn und Heilandes thun?

PFARRER. Das kann ich, so wahr er mir helfe.

SCHWARTZE. Dann geschehe Gottes Wille! Marie stößt einen Freudenschrei aus.

PFARRER streckt ihm die Hand entgegen.

SCHWARTZE ihn festhaltend, leiser. Der Gang wird Ihnen schwer. – Ich weiß! Ihre verlorene Jugend – Ihr Stolz –[46]

PFARRER. Ach, lieber Herr Oberstlieutenant, ich hab so die Idee: der Stolz ist ein recht armseliges Ding. Es lohnt wirklich nicht, ihn immerzu im Munde zu führen. Da ist ein alter Vater, dem bring ich seine Tochter – und da ist eine irrende Seele – na, der bring ich eben die Heimat. Ich denke, das ist ganz genug. – Adieu so lang. Ab.

MARIE will sich jubelnd und weinend dem Vater an die Brust werfen.


Der Vorhang fällt.


Quelle:
Hermann Sudermann: Heimat. Stuttgart 61893, S. 43-47.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Heimat
Heimat
Heimat
Heimat; Schauspiel in vier Akten