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[165] Joijoi! Wassersnot! Joijoi! Wassersnot! Wassersnot!

Was heißt Wassersnot? Das bißchen Wasser wird man doch noch aushalten können. Das ist doch fast in jedem Frühling so gewesen.

Aber man hat erzählt, die Leute, die vom großen Strom herkommen, haben Vieh angebunden und Betten aufgeladen. In langer Reihe stehen die Wagen auf dem[165] Rußner Chausseedamm, und vor der langen Brücke sollen sie aufeinandergefahren sein und nicht mehr weiter können. Der Heydekrüger Markt sei übervoll, und nirgends mehr geb' es ein Obdach.

Die Erdme sagt zum Jons: »Sieh doch mal nach, was dran wahr ist.«

Der zieht die langen Stiefel an und planscht drauf los.

Der Hof steht unter Wasser. Das will am Ende nicht viel sagen. Der Knüppelweg steht auch unter Wasser, aber der Boden darunter ist noch steif gefroren. Man kann vom Fenster aus sehen, daß er fest hält. Wie der Jons marschiert, macht das Wasser spielende Wellchen über dem Fußgelenk. Sänke er ein, dann würde es spritzen.

Die Nachbarhäuser drüben stehen im grauen Nebel und scheinen so weit weg, daß man meinen könnte, sie seien aus einer anderen Welt.

Alles ist still, und kein Windchen rührt sich, und die Dächer tropfen.

Dann hebt im Stall die Rotbunte zu brüllen an. Die Kühe haben heute früh noch kein Heu gekriegt, und die Schweine quaksen.

Die Erdme sagt zu den beiden Marjellen: »Wir müssen abfüttern gehen.« Aber die wollen nicht 'ran, denn das Wasser ist naß.

So zieht sie sich also die Strümpfe aus, schnürt die Röcke hoch und geht auf Klotzkorken nach dem Hof.

Die Bretter, die bis zum Stall gelegt sind, schwimmen schon, und wenn man von einem zum anderen springt, dann knallt das Wasser nur so in die Höhe.

Aber man kommt doch noch hin.

Den Schweinen geht das Wasser schon an die Läufe. Sie sind unruhig und fressen nicht. Die Schwarzweiße hingegen hat Hunger. Die kommt aus der Niederung und kennt den Dienst. Aber die Rotbunte macht Sperenzchen. Die will trocken stehen. Brav ist natürlich das Pferdchen, obwohl ihm die nasse Streu kein Vergnügen bereitet. Die Erdme hilft, so gut sie kann, aber sie müßte den Stallboden[166] um einen Fuß höher legen, und dazu gehört sine Sommerarbeit von vierzehn Tagen.

Sie will sich von den Tieren nicht trennen, läuft von einem zum anderen und klopft ihnen beruhigend die Hälse. Mehr kann sie nicht tun.

Da hört sie vom Wohnhaus her schreien: »Mamma! Mamma!«

»Was ist?«

»Das Wasser ist in der Stube!«

Also zurück.

Jetzt wollen die Bretter schon nicht mehr halten. Tritt man darauf, so gleiten sie seitwärts, und man sieht sich im Wasser bis über die Waden. Aber man kommt doch noch immer zurück.

Richtig! Das Wasser steht in der Stube. Gar nicht wie ein Gast, der nicht hingehört. Hat sich ganz häuslich eingerichtet. Und man kann sich drin spiegeln.

Die Marjellen sehen sie vorwurfsvoll an und sagen: »Wo sollen wir nun sitzen?«

»Setzt euch auf den Tisch,« sagt die Erdme. Ihr sind die Beine wie Eis. Sie sucht einen Wollenlappen, um sie zu reiben, und öffnet den Kasten. Da ist das Wasser schon an den Kleidern hochgeklettert und hat alles verfeuchtet. So setzt sie sich auf die Ofenbank und hebt die Beine an der heißen Ziegelwand hoch, denn geheizt ist noch worden. Das wärmt sie wieder ein bißchen.

Die Marjellen haben sich richtig auf den Tisch gehuckt, wo das Frühstück noch 'rumsteht. Sie brechen sich Brotkampen ab und stupsen sie in die Schmalzschüssel. Zum Schmieren sind sie zu träge ...

Die Erdme will die Füße zur Erde sinken lassen, aber erschrocken zieht sie sie wieder zurück, denn das Wasser reicht auch hier schon bis über die Knöchel. Und von unter dem Bett her kommen Kartoffeln geschwommen und der Schmandtopf zum Buttern.

Den fischt sich die Urte glücklich auf, und da nun doch nicht gebuttert wird, so trinken sie ihn umzech aus, und jede freut sich an dem weißen Schnurrbart der anderen.[167]

»Mamma,« sagt die Katrike, »wenn wir hier 'raus müssen, wer wird uns dann abholen kommen?«

»Der König wird einen Prinzen schicken,« sagt die Erdme, die sich zu ärgern anfängt.

Und sie wollen sich schief lachen.

Aber da fällt ihnen ein, daß ihre Wichsschuhe in dem Kleiderschrank auf dem Boden stehen und notwendig naß werden müssen.

»Ach, Mamma,« sagt die Katrike, »du hast ja schon sowieso kalte Füße. Sei so gut und hol uns die Schuhe.«

»Holt sie euch selber,« sagt die Erdme, die immer noch zittert.

Darüber sind sie sehr ungehalten, aber da die Katrike am Mittwoch zum Unterricht muß, so gibt sie sich drein und schiebt mit dem Fuß einen Stuhl bis in die Gegend des Schrankes. Auf dem Sitz kniet sie nieder und öffnet die Schranktür. Die Schuhe schwimmen schon längst, und einer ist umgekippt, so daß beim Hochheben das Wasser im Bogen herausläuft.

Nun fangen sie an zu heulen, als ob jetzt erst ein Unglück geschehen ist. Wenn die eine Ahnung hätten, was ihnen bevorsteht!

Die Erdme fühlt sich immer ratloser werden.

»Paßt auf, ob der Vater kommt,« sagt sie zu den Marjellen.

Die kucken zum Fenster 'raus und sagen nach einer Weile: »Der Nachbar Witkuhn will das Vieh auf den Weg treiben, aber sie gehen nicht.«

»Ist es schon so weit?« denkt die Erdme, und das Herz steigt ihr hoch. Doch dann gibt sie sich einen Stoß und springt von der Ofenbank 'runter. Wie oft hat sie im eiskalten Grabenwasser gestanden, stundenlang – sie wird auch das aushalten können.

»Kommt mit in den Stall,« sagt sie.

Die beiden glauben nicht recht gehört zu haben. Quer durch die Überschwemmung – o pfui doch!

»Dann ersauft meinetwegen hier,« sagt sie.

Da leuchtet es ihnen schon eher ein.[168]

Draußen reicht das Wasser bereits bis an die Knie, und den Marjellen noch höher. Sie heulen und schimpfen, aber hinterher laufen sie doch.

Das Vieh ist ganz wie verrückt. Die Schweine drehen sich quiekend im Kreise, und die Kühe reißen ihr mit den Halftern die Hände wund. Nur das Pferdchen steht voll Ergebung und zittert.

Mein Gott, und der Vater kommt immer noch nicht!

Da plötzlich steht der Nachbar Witkuhn hinter ihr – naß bis gegen den Nabel.

»Ich hab' mein Vieh dem Smailus mitgegeben,« sagt er. »Die Schweine sind in den Graben geraten und werden ertrinken. Eure kriegt ihr schon nicht mehr heraus.«

»Was wird werden, Nachbar?« Sie ringt die Hände.

»Euer Heuboden hat Raum. Es ist das Beste, ihr schafft die Kühe hinauf.«

Die Erdme glaubt nicht recht gehört zu haben. Seit wann kann eine Kuh die Leiter hochklettern?

»Bringt Säge und Schaufeln,« sagt er. »Auch Mistgabeln bringt, ich werd's euch zeigen. Dann muß ich 'rüber, meine Frau auf den Boden tragen. Die liegt im Bett und kann sich nicht rühren.«

Säge und Schaufeln sind da. Auch zwei Mistgabeln.

»Draußen liegen Ziegel vom Bau her,« sagt er weiter, »die klaut aus dem Wasser und schafft sie herein.«

Und wie die Marjellen nicht wollen, da gibt er jeder einen Stoß gegen den Hintern. Das hilft. Nun bringen sie auf nassen Armen die Ziegel, und die Katrike schimpft, sie wird sich erkälten.

Der Nachbar Witkuhn breitet eine Schicht auf dem Estrich aus, gerade unter der Luke, und dann noch eine. Darauf stellt er die Rotbunte, die ihm willig folgt. Und dann fängt er Mist zu staken an, der Kuh immer unter die Hufe, so daß sie höher steigt, ob sie will oder nicht.

»So macht's weiter,« sagt er und schwingt sich hinauf durch die Luke. Deren Bretter sägt er ringsum entzwei und macht das Loch so groß, daß eine Kuh ohne Beschwerde hindurch kann.[169]

Die Rotbunte reicht mit dem Kopf schon gegen die Decke, aber unten weicht das Wasser die Mistschicht auf, so daß sie wegfließen will.

»Stemmt Bretter gegen!« sagt er. Die Marjellen tun's. Nun sie naß sind bis gegen den Hals hin, arbeiten sie kräftig. Denn das ist das einzige, was sie vor dem Erstarren bewahrt.

Die Schweine stehen auf den Hinterläufen und trippeln an der Wand entlang wie große Ratten im Käfig.

Wer wird sie heben können? Denn um stille zu halten, sind sie zu dumm.

»Manneskraft fehlt,« sagt der Nachbar. Dann, sich vor die Stirn fassend, stöhnt er leise: »Und sie liegt und kann sich nicht rühren.«

Man sieht, ihm schlägt das Gewissen, aber er bleibt. Es ist ja die Erdme, die ihn braucht.

Und wie die Rotbunte eben schon oben ist, da steht der Jons mit einem Male da – naß wie eine ertränkte Katze.

»Ich hatt' einen Kahn beschafft für euch,« sagt er, »da haben die anderen mich 'rausgeschmissen. Im Kampf ist der Kahn umgeschlagen, und ein Kind ist ertrunken. Von nun kommt keiner mehr zu Fuß bis an den Chausseedamm.«

Die Erdme befühlt ihn. Seine Glieder sind starr. Nur ein Rucken zeigt, daß noch Leben in ihnen ist.

»Nachbar,« sagt der Witkuhn, »die eine Kuh ist oben. Versuch's mit der anderen. Die Erdme weiß, wie. Das Pferd laß 'raus, das schwimmt zum Damm von alleine. Aber die Schweine müssen ersaufen.«

»Vielleicht krieg' ich sie auch noch 'rauf,« sagt der Jons.

»Unmöglich ist nichts,« sagt der Nachbar und planscht zur Tür.

»Wo willst du hin?« fragt der Jons.

»Meine Frau liegt im Bett und kann sich nicht rühren!«

»Dann bet ein Vaterunser für sie,« sagt der Jons. »Jenseits des Wegs ist jetzt Strömung. Durch die kannst du nicht durch. Und erklammen tust du auch.«[170]

»Ich muß!« sagt der Nachbar und geht. –

Sie tragen den Misthaufen ab. Dessen Stücke schwimmen nun 'rum. Auch die Schwarzweiße folgt willig auf die Ziegelerhöhung, doch der Mist will unter dem Wasser jetzt nicht mehr halten. Der Jons bricht die Raufen entzwei und nimmt den Schweinen die Tröge weg. So kommt Festigkeit in den Bau.

Die Schweine in ihrer Todesangst klettern jetzt an den Menschen hoch – man muß sie mit Mühe abwehren –, und auch das Pferdchen wird unruhig.

Jons führt es hinaus, und richtig! Nachdem es eine Weile lang in den Stall zurückgewollt hat, begibt es sich klug auf die Reise.

Sie schaufeln und staken und staken und schaufeln und nutzen jeden Eimer und jede Tonne, um selber so hoch wie möglich zu stehen.

Wie sie auch die Schwarzweiße oben haben, da liegt schon das eine der Schweine regungslos auf dem Wasser. Das andere, das immer noch quiekt, schieben sie den Mistberg hoch, so daß es halb erwürgt oben ankommt.

Essen fehlt. Trockene Kleider fehlen.

Der Jons kann nicht mehr. Er liegt im Heu und hat Krämpfe.

»Ich geh' ins Haus und hole, was nötig ist,« sagt die Erdme.

Die Marjellen schreien: »Du wirst ertrinken!« Aber sie macht sich nichts draus.

Das Wasser auf dem Hofe geht ihr bis an die Brust. Es steht nicht mehr still wie zuvor. Wirbel kreisen und führen Eisstücke mit sich, dicker als Torfziegel. Die kommen sicher vom Strome. Es muß also ein Dammbruch geschehen sein.

Aber die Luft ist ruhig. Es scheint frieren zu wollen über Nacht. Aus der Gegend der Chaussee kommt ein dumpfes Gebrause von Menschen und Tieren. Ab und zu ein Schrei wie aus Todesnot. Aber ringsum ist alles still. Wie längst gestorben ist alles.[171]

Im Hause reicht das Wasser schon bis gegen die Tischplatte. Die Stühle schwimmen. Die im Schranke verwahrten Kleider sind oben noch trocken. Nur das unterste Stück hängt ins Wasser.

Sie rafft, was sie raffen kann. Ein Glück ist's, daß dem Jons sein Schafpelz zum Trocknen noch auf dem Ofen liegt. Er wenigstens wird Wärme haben.

Zwei-, dreimal geht sie beladen hin und her, die Arme hochhaltend, und immer schwieriger werden die Wirbel.

Dann zieht sie sich aus, reibt sich mit Heu die Glieder warm und wühlt sich nackt in den Haufen. Und während die Marjellen kreischen und Jons im Fieber sich schüttelt, schläft sie ein und schläft die ganze Nacht durch wie ein Sack. –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Dämmerung ist rot, und auf dem Wasser glänzt eine dünne, blaßblaue Eisschicht, in die schneegraue Blöcke eingefroren sind.

Sie denkt an die Prophezeiung des alten Raubmörders. Wer jetzt noch gegen das Wasser an wollte, dem würde das haarscharfe Eis mit tausend Messern das Fleisch zerschneiden.

Nun hat sich alles erfüllt, womit der Alte ihr einstmals drohte. Nur daß sie nicht im Schornstein stecken. Freilich wären sie drüben im Hause geblieben, weiß Gott, wie es dann aussähe! Das, was dort Dach heißt, hätte sie niemals getragen. Die Pfosten stehen windschief, das Haus sieht aus wie eine Roggenhocke kurz vor dem Umfall. –

Sie steht auf und zieht sich an. – Die Röcke von gestern sind noch patschnaß, aber die mitgebrachten scheinen fast trocken.

Die Marjellen schlafen, und Jons in seinem Fieber redet Dummzeug. Die Kühe haben sich eingerichtet, und das Schwein will sein Frühstück.

Wie sie ordentlich auftritt, merkt sie, daß auch der Stall nicht mehr festhält. Und der war doch wie für die Ewigkeit gebaut.[172]

Wie geht's denn mit den Häusern ringsum? Heute ist klare Luft. Man sieht sie, als wäre man dicht davor. Beim Nachbar Witkuhn läuft das Wasser zur Bodenluke heraus. Ob er heimgekommen sein mag? Ob die Frau wohl noch lebt? Beim Nachbar Smailus hat der Schornstein das Dach durchschlagen, denn der bestand bis hoch oben aus Ziegeln.

Und dicht daneben? Was ist das? Da steht ja ein anderes Haus, das gestern nicht da war! – Wie kommt das dahin? Dafür ist die Kate des alten Raubmörders von ihrem Platze verschwunden.

Um Himmelswillen – das fremde Haus dicht neben dem Hof des Smailus, das ist sie ja!

Und sie steht auch da nicht einmal fest. Langsam, langsam treibt sie der Wasserdrang vor sich her. In jedem Augenblick verschiebt sich die Richtung gegen den Hof hin.

Oder ist es am Ende gar nicht das Wasser, das sie weiter bewegt? So viel Kraft kann das kaum haben, denn dann gäb' es ja keine Eisschicht. Und was bedeutet die Stange, die sich am hinteren Ende hebt und senkt?

Das ist gar keine Kate mehr, das ist ein Kahn. – Ein Kahn, der sich fortbewegt, ein Kahn, der gelenkt wird.

Und hat das alte Schreckgespenst nicht einst von einer Arche Noah gesprochen?

Das ist sie ja. Da kommt sie ja. Langsam kommt sie, aber sie kommt. Kommt sie nicht gar auf ihr Haus zu, oder fährt sie vorbei?

Erdme streckt die Arme zur Luke hinaus und schreit: »Hierher! Hierher!«

Die beiden Marjellen fahren hoch: »Mamma, was ist?«

»Schreit, schreit, schreit!«

Und alle drei schreien: »Hierher! Hierher! Hierher!«

Jetzt ist sie schon nah an dem Zufahrtsweg, dort, wo die Birken bis an die Kronen im Eise stehen.

Wahrhaftig, es ist ein richtiger Prahm mit hochstehenden Rändern. Die hat er all die Jahre mit Mist zugedeckt, damit die Nachbarn nichts ahnen.

»Hierher! Hierher!«[173]

Und jetzt hört man schon das Zerspellen des Eises, das sich am Holze hochschiebt und klingende Risse voraufwirft.

Und jetzt wird der Alte selber sichtbar. Die Lumpen eines Schafpelzes hängen an ihm herum. Er schwingt die Stange und lacht – lacht – lacht.

»Nachbar, hierher!«

»Jetzt bin ich mit einmal der Nachbar – hä? – Der geliebte Nachbar! Der wertvolle Nachbar – hä? Wenn wir jetzt eine Talka machen wollten, dann wär' ich euch nicht zu schlecht – hä?«

»Nachbar – vergiß und hilf!«

»Nichts wird vergessen! Keine Ehrenkränkung! Und kein Abseitsrücken! Jetzt wird spazierengefahren an allen vorbei, die ertrinken, und gelacht wird wie bei einer Hochzeit.«

»Nachbar – erbarm dich!«

»Hast du dich erbarmt? Ja, du hast dich erbarmt! Du hast mir einmal ein Stück Hochzeitsfladen hingeworfen. Hast es wohl längst vergessen. Aber ich nicht. Darum bist du eingeladen, Hochzeit zu feiern bei mir. – Du und was mit dir da drin ist.«

»Jons, steh auf!«

Der Jons ist wer weiß wo. Der träumt von Sommerwiesen und Heuaust. Und die Marjellen schreien, sie wollen nicht. Sie wollen lieber ertrinken als zu dem Raubmörder ins Haus.

Aber die Erdme fackelt nicht lang'. Sie kriegt die Urte zu packen und wirft sie dem Alten aufs Dach, so daß die Rohrschicht beinahe entzweiknallt. Und mit der Katrike macht sie's nicht anders.

Aber der Jons! Der Jons! »Jons, steh auf, wir müssen in die Wiesen!«

Und wahrhaftigen Gott, er steht auf. Er läßt sich auch den Pelz anziehen, mit dem er über Nacht bedeckt war.

Aber nun 'runter. Wie schafft man ihn 'runter? Denn auch ihn aufs Dach werfen – das geht nicht. Er würde abrutschen und ins Wasser stürzen.[174]

»Jons, spring! Nimm Vernunft an und spring!«

Aber das tut er nicht. Er muß ja in die Wiesen.

Da kommt sie auf den Gedanken, Heu durch die Luft zu werfen, so daß es das Rohrdach in Haufen bedeckt.

»Jons, sieh, da steht das Fuder! Spring 'rauf, sonst fahren wir ohne dich nach Haus.«

Heufuder! Das leuchtet ihm ein. Und – Gott sei gesegnet! Er springt. Bleibt in dem Rohrloch stecken, und da ist er geborgen!

Das Vieh kann natürlich nicht mitgeführt werden. Die Kühe haben Futter, aber das Schwein muß verhungern, wenn es sich nicht von dem Miste ernährt.

Also los!

Und der Alte wendet und stakt dem Chausseedamm entgegen.

»Willst du denn keinem sonst helfen, Nachbar?«

»Wer hat mir geholfen – hä?«

»Der Taruttis hat für dich gebetet.«

»Aber gesprochen hat er nicht mit mir – und der Taruttis ist auch schon weg.«

»Aber der Witkuhn ist noch da und seine todkranke Frau.«

»Der Witkuhn soll ersaufen. Ersaufen sollen sie alle.«

»Der Witkuhn wird nicht ersaufen. Und wenn du mir nicht gehorchst – ich bin stärker als du und schmeiß' dich ins Wasser.«

»Ist das der Dank, du Bestije?«

»Ob Dank oder nicht – ich schmeiß' dich ins Wasser.«

Sie hat Fäuste wie Eisen – das merkt er sofort und läßt schimpfend die Stake in ihrer Hand.

Und sie lenkt hinüber zum Weg – an den eingefrorenen Birken entlang und über den Weg hinweg. Langsam geht es – o Gott, wie langsam! – Das Eis knirscht, als fletscht es ihr tausend grimmige Zähne entgegen, und der Alte tanzt hin und her und droht, er wird die Axt holen und sie erschlagen; aber sie lacht nur und stakt, bis die Witkuhnsche Wirtschaft dicht vor ihr liegt.

»Nachbar! Nachbar Witkuhn!«[175]

Nichts rührt sich. Keine Seele scheint mehr lebendig. Nur die Katze sitzt auf dem Dachfirst und knaut. Und das Wasser spült über das zersplitterte Eis weg rund um den Giebel.

»Nachbar Witkuhn!«

Da – was schiebt sich aus der schwarzen Luke langsam ins Helle? Ein Bett kommt gekrochen, und in dem Bett liegt mit Stricken beschnürt die tote Frau, und der Nachbar geht hinterher und schiebt.

Das Bett planscht ins Wasser, und der Nachbar schwimmt hinterher. Und schließlich kommt auch die Katze gesprungen. Wie das Bett hinten festgebunden ist, klettert der Nachbar zu ihnen herein.

»Wie fandst du sie?«

»Ob sie ertrunken ist oder erfroren, das weiß ich nicht. Als ich sie auf den Boden hob, war sie längst tot.«

Weiterfahren!

Der Nachbar Witkuhn reicht dem Alten dankbar die Hand. Und der nimmt sie auch und hält sie ganz gierig, als hätte er die Rettung vollbracht.

Und nun will er auch wieder staken. Er verspricht, an keiner Wirtschaft vorbeizufahren, aus der noch Rufe erschallen. Er hat am Retten Geschmack gefunden, seitdem eine Menschenhand in der seinigen lag.

Aber Erdme gibt die Stange dem Nachbar Witkuhn, denn er ist naß und darf nicht erklammen. Jetzt erst hat sie Zeit, sich umzusehen. Die beiden Marjellen sitzen zusammengekrochen im Winkel, und der Jons stöhnt oben im Rohrdach.

Komisch ist die Behausung. Nicht viel geräumiger als ein Ziegenverschlag. Der Fußboden besteht aus langen Rudern, den Putschinen, mit denen die Flößer ihre Holztriften lenken. Die hat er dicht neben einander gelegt und die Ritzen mit Sorgfalt verstopft und verteert. Ein Bett und ein eiserner Ofen – viel mehr steht nicht drin. Und da kein Herd da ist, der einen Untergrund braucht, so kann das Ganze vom steigenden Wasser sich hochheben lassen, wie irgend ein Floß oder Prahm.[176]

Noch aus drei Häusern holen sie die nassen und steifgefrorenen Bewohner. Die dürfen ins Innere kriechen und sich erwärmen, denn Kohlen zum Heizen sind auch da.

Der alte Raubmörder geht immer von einem zum andern und kriegt nicht genug Hände zu schütteln. Wer es nicht will, den beschimpft er.

So kommen sie näher und näher an den Chausseedamm, an dessen Höhe dem Wasser kaum noch ein Zoll fehlt.

Das Vieh steht dort und brüllt nach Stall und nach Futterung, und auf den Wagen weinen die frierenden Kinder, und Frauen rennen herum mit Eimern voll dampfendem Kaffee.

Und überall die Stimme des Moorvogts. Vorne und hinten, in Streit und in Jammer – überall ist der Moorvogt und schlichtet und hilft und schiebt die Achsen und halftert das Vieh und ordnet die allmähliche Abfahrt.

Er ist auch der erste, der das Haus heranschwimmen sieht und den Bootshaken streckt, an dem man sich festhält.

»Also das war dein Kunststück,« sagt er zu dem aussteigenden Alten. Und der nicht faul, verlangt sofort seine Pension.

»Erst geht in mein Haus und wärmt euch,« sagt der Moorvogt. Da gewahrt er das Bett mit der toten Frau, das immer noch hinterherschwimmt. Sein Gesicht, das von dem zweinächtigen Tagewerk wild gedunsen und rot ist, wird lang und grau. Er schlägt sich mit den Fäusten vor die Stirn, und wie einer, den beim letzten kleinen Anlaß Verzweiflung überkommt, sagt er leis' vor sich hin:

»Alles umsonst. Zwanzig Jahre Arbeit umsonst.«

Aber in demselben Augenblick hat er sich schon einen Ruck gegeben und ist obenauf. Niemand als die Erdme hat den heimlichen Aufschrei gehört.

Das Bett wird losgemacht und an den Chausseedamm herangefischt. Und während es langsam dem Wasser entsteigt, ziehen die Männer die Mützen vom Kopf. Einer stimmt an, und alle bis weit in die Ferne hinein, auch[177] jene, die noch nicht wissen können, was los ist, singen das alte Begräbnislied:


Jau su Diewu gywenkite

Jus mylimi, ne werkite,

Kunelí manó dekite

I zemé ir pakaskite.


Das heißt auf deutsch:


»Lebt in Gottes Schutz, ihr Lieben,

Weint nicht, nun ich selig werde,

Und den Leib, der hier geblieben,

Senket in die dunkle Erde.«


Laut und andächtig singen sie, denn wenn es, Gott sei gedankt, auch nur wenige Tote gab, jeder hat ja eine Hoffnung begraben.

Bloß einem geht es so gut wie noch nie.

Das ist der alte Raubmörder.

Der sitzt in der guten Stube des Moorvogts mitten auf dem gestreiften Sofa, hat die Hände um einen Topf mit heißem Kaffee gelegt, keift, speit, zeigt die Gaumen und erzählt allen, die ihn voll Achtung umstehen, wie klug vorausschauend er einst sein Haus umgebaut hat und wie vielen durch seine Guttat heute das Leben erhalten blieb. Darum und aus noch vielen anderen Gründen wird er jetzt auch vom Staat eine Pension bekommen und hochgeehrt seine Tage beschließen.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 6, Stuttgart und Berlin 1923, S. 165-178.
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