Drittes Kapitel

Neues Werden

[49] Eines Tages, als ich etwa elf Jahre alt war, fand meine Mutter mich tränenüberströmt in einer Ecke sitzen und erfuhr von mir, daß Frau Pfarrer beschlossen hatte, wegen meiner Verworfenheit – wenn ich nicht irre, hatte ich eine Zeichenvorlage mit Tinte beschmutzt – acht Tage lang eine besondere Fürbitte für mich in das Morgengebet einzulegen.

Da erklärte sie: »Es geht mit der Frau nicht länger. Sie wird nächstens gänzlich überschnappen.«

Schon am nächsten Morgen hieß sie uns zu Hause bleiben und meldete uns in der anderen, der angeseheneren Privatschule an, obgleich das Schulgeld dort um ein Erkleckliches höher war.

Von nun an befand ich mich in einer neuen Welt: der Welt der Regelmäßigkeit, der Ordnung, der Disziplin. Von nun an war ich in die bürgerliche Gesellschaft eingereiht, die mir das Fangnetz ihrer Gebote und ihrer Staffelungen für immer über den Nacken warf.

Bei Fräulein Hubert gab es keine Fürbitten, kein Händeringen, keine Kniefälle, kein Strafgericht im Namen des allrächenden Gottes, aber auch keine Fluchten mehr in Märchenländer, kein Schwelgen und keinen Rausch an den üppigen Tafeln der Phantasie.

Fräulein Hubert war eine energische alte Jungfer mit blecherner Trompetenstimme und einem Augenpaar, das ordnete und befahl, ohne daß es eines Wortes bedurfte.

Gegen ihre Strafen gab es keine Auflehnung – auch eine innere nicht –, denn sie waren immer gerecht. Und wenn sie einmal besonders hart ausfielen, dann trat bescheiden aus[50] dem Hintergrunde Fräulein Julie hervor, ihre noch ältere Schwester, die immer krank war und immer lächelte, und brachte die Sache mit einem gütigen Scherze wieder in Ordnung.

Fräulein Julie hatte sich Englisch vorbehalten – denn sie war im Lande unserer Exvettern Erzieherin gewesen – und Zeichnen außerdem. Sie besaß viele dicke Mappen, die wir mitten in der Stunde besehen durften, »denn das Auge muß wissen, was schön ist«, sagte sie, »ehe die Hand den ersten Strich tut«.

Unter den Vorlagen gab es eine, die mein höchstes Entzücken hervorrief und die ich nicht müde wurde anzustaunen, bis es mir endlich erlaubt war, sie abzuzeichnen.

Sie stellte die vorspringende Ecke eines säulengetragenen Palastes dar, den ein anderer Säulenpalast im Hintergrunde flankierte.

Die Hände zitterten mir vor Erregung, als ich die Säulen nachmalen durfte. Eine Art von heiliger Raserei war über mich gekommen, und diese Raserei für alles, was Säule ist, habe ich heute noch ... Man kann sich vorstellen, was später Italien mir wurde.

Bei Fräulein Hubert lernten wir ungefähr das, was das Gouvernantenexamen einer Lehrerin zu lehren erlaubt. Und dazu gehörte nicht Latein und Mathematik. Hier mußten Extrastunden ergänzend eingreifen, die ein junger, hübscher Eleve des Katasterkontrolleurs aus funkelnagelneuer Erkenntnis – denn er war eben aus der Untersekunda abgegangen – mir für drei Mark im Monat mit Herablassung verabfolgte. Ich wurde viel geprügelt und lernte wenig, und was ich lernte, erregte mir Abscheu, ein Gefühl, das – für Latein wenigstens – so lange vorhielt, als ich dessen bedurfte.

Wichtiger noch als die Lehrstunden, die mich in ein festes Gefüge elementaren Wissens hineinführten, war für meine Entwicklung der Verkehr mit meinen neuen Genossen. Es ist[51] eine Binsenwahrheit, daß nicht unsere Erzieher uns erziehen, sondern die, die mit uns gemeinsam erzogen werden.

Wer ich war, was ich war, welche ursprünglichen Eigenschaften ich mir zusprechen muß und welche mir aberkennen, das weiß ich nicht, denn mein Wesen war mir selbstverständlich. Und darum mußte nach meiner Ansicht auch jedes anderen Wesen im Grunde ihm gleichen. Meine Mutter sagt, ich sei ein stiller, scheuer Knabe gewesen, leicht erfreut und leicht gekränkt, und habe gern einsame Wege gesucht.

Mag dem so sein, eines ist klar: daß ich bei meinen Spielgefährten niemals beliebt war. Die Mädchen mochten mich allenfalls leiden, ohne mir jedoch ein wärmeres Interesse zu schenken, die Jungen aber zeigten mir die kalte Achsel und quälten mich, wo sie nur konnten.

Da waren zwei, die durch fast meine ganze Jugendzeit gehen, da ich ihnen in der Heimat immer wieder begegnete, bis ich auf der Obersekunda noch einmal dauernd mit ihnen zusammentraf. Der eine hieß Louis Damerau, der andere Albin Dobinsky, und ein dritter war noch da, den ich nicht nennen darf, da er sich später einem Verwandten von mir freundlich erwiesen hat. Ich will ihm den falschen Namen Hallgarten geben, der mit seinem rechten keine Ähnlichkeit hat.

Diese sogenannten Jugendfreunde, mit denen ich auf der Schulbank und später am Kneiptische unzählige Male beisammen saß, waren die ersten, die meine leicht verwundbare Seele mit dem ätzenden Gifte der Demütigung und der Verbitterung durchtränkten, die mir das Gefühl zu kosten gaben, daß ich etwas Geringeres sei als die anderen, und eine Stimmung des Gedrückt- und Geducktseins in mir schufen, die im späteren Leben bei jeder Attacke meiner Umgebung lähmend hervortrat. Aus ihr erklären sich manche Mängel meines Charakters, an denen ich zeitweise zu tragen hatte wie an einem Verhängnis und deren schlimmsten Teil, Schlaffheit und Mutlosigkeit, ich erst in den Jahren des Alterns überwand.[52]

Daß sie mich von ihren Spielen und ihren Spaziergängen ausschlossen, daß sie ohne mich baden gingen, daß sie mit den Mädchen geheimnisvolle Verabredungen trafen, die ich nicht mitanhören durfte, war alsbald eine Gewöhnung, die nicht weniger schmerzte, weil sie sich stets aufs neue wiederholte. Aber sie wußten mich noch empfindlicher zu treffen.

Die Kargheit der häuslichen Lebensführung brachte es mit sich, daß meine Mutter uns Jungens die Kleider selber schneiderte, und so war ihr wohl ein Paar Hosen einmal zu weit geraten. Solche Hosen trugen die Brettschneider, weil sie bei dem ewigen Sichbücken eine Spannung über gewissen Körperteilen schlecht vertragen hätten. Diese Ähnlichkeit hatten meine Freunde alsbald entdeckt, und wo ich ging und stand, hallte das Wort »Brettschneider« hinter mir her. Was half's, daß ich mich wutglühend wehrte, daß ich mit Fäusten blindlings auf die Höhnenden dreinschlug – sie waren ja größer und darum auch stärker als ich, und schließlich wurde ich stets noch verprügelt.

Ich besinne mich nicht, daß je im Leben eine Kränkung mich härter getroffen, mich in tiefere Verzweiflung gestürzt hätte. Wahrscheinlich war es der Zusammenhang mit der Enge des Elternhauses, die ich herausempfand. Mochte eine Anspielung meinen Feinden auch noch so fern gelegen haben, dieser Zusammenhang traf die weheste Stelle meiner Seele, denn er schnitt mir mit schärferer Schneide als alles sonst ein Menetekel darüber ins Fleisch, wohin ich gehörte.

Jede preußische Kleinstadt, jede Siedlung, die nicht rein ländlichen Charakter trägt, zerfällt in vier streng gesonderte Schichten, die nach ihrer gesellschaftlichen Formung und der in ihnen herrschenden Sitte Erziehung und Lebensgang des darin Geborenen unweigerlich bestimmen. Aus einer in die andere überzugehen, ist schwer, fast unmöglich, und gemeinhin vermag kein Ehrgeiz, kein Erfolg die Trennung zu überbrücken.[53]

Die oberste Kaste sind die Honoratioren. Dazu gehören die Studierten, die Gutsbesitzer, die wohlhabenden Kaufleute und einige wenige sonst, die durch Anbiederung oder Konnexionen darin Unterschlupf finden. Die zweite Kaste heißt der Mittelstand; zu ihm wird alles gerechnet, was noch halbwegs auf Ansehen oder Bildung Anspruch machen kann: die mittleren Beamten, die besseren Gastwirte, das Gros der Ladenbesitzer und viele sonst, die sich des Verkehrs mit der »Crème« nicht würdig fühlen. Von ihr wiederum durch Klüfte getrennt ist der Handwerkerstand, dessen Nachwuchs die Volksschule besucht und der in Schützen- und Turnvereinen seine gesellschaftliche Zusammenfassung erfährt. Die Dienenden, die Armen und Namenlosen, bilden die letzte Schicht. Von ihr wird geschwiegen, also schweige auch ich.

Daß mein Elternhaus sich nicht zu den ersten – den Honoratioren – zählen wollte und durfte, sondern im Mittelstande seinen Platz hatte, war der große Schmerz meiner Kindheit. Vielleicht wurzelt in ihm letzten Endes mein Ehrgeiz, mein Trotz, mein Fleiß, mein Streben zur Höhe.

Wenn es nach den Wünschen meiner Mutter gegangen wäre, so hätten wir wohl der »ersten« Ressource beitreten können – wir hatten Freunde darin und waren auch »aufgefordert« worden, wie sie oft mit einigem Stolz betonte. Aber mein Vater, in dem das niederdeutsche Bauernblut allemal revoltierte, wenn das Verkehren mit Höhergestellten in Frage stand, erklärte rundweg: »Dort haben wir nichts zu suchen.«

Und für sich hatte er zweifellos recht. Er, der an Brautagen noch immer die blaue Schürze trug, der oft statt des Knechtes den Bierwagen aufs Land hinaussteuerte – im Orte selbst wär's freilich auch nach seiner Auffassung eine Schande gewesen –, er, dem im Gespräch mit Studierten die Zunge gelähmt war und der eine sonnabendliche Préférencepartie mit dem katholischen Pfarrer hinterher vor uns und sich selbst zu entschuldigen für nötig fand, indem er sagte: Mit dem Manne[54] zu spielen, dabei vergebe man sich nichts, denn er sei auch nur von schlichter Herkunft – nein, mein Vater hatte dort nichts zu suchen, und er ist dieser Erwägung treu geblieben bis an sein Ende.

Dazu kam die Not, die immer gleichbleibende quälende Not, die ihn ganze Nächte lang stöhnend und händeringend im Zimmer umherlaufen ließ. Oft wachte ich auf und hörte durch den Fußboden sein wortlos fluchendes: »Äh, äh, äh.« Und die Stimme der Mutter, die selber weinend ihm Trost zusprach.

Wahrlich, einer Dichterlaune entstammt meine »Frau Sorge« nicht.

Wer mit solchen Tönen im Ohr, mit solchen Bildern vorm Auge ins Leben tritt, der ist dem holden Leichtsinn verloren; und mögen auch alle Instinkte in ihm der Freude entgegenstreben, er wird sich ins Dunkel gebannt fühlen, solange bis Fürchten und Wünschen in einem Lächeln des Verzichtens zusammenfließen.


Als ich das zwölfte Jahr überschritten hatte, begann die Frage des künftigen Berufs um mich herum zu spuken.

Meine »Freunderln« saßen schon längst auf den hohen Schulen von Tilsit, die mir natürlich verschlossen blieben, denn das notwendige Pensionsgeld hätte mein Vater niemals erschwingen können. Und doch wich der Gedanke, daß ich Realschule oder Gymnasium besuchen müsse, bei Tag und bei Nacht nicht mehr aus meinem Hirn.

Meine Mutter sah den stillen Jammer wohl, in dem ich vor mich hinlebte, und manchmal, wenn ich über das Buch hinweg, vor dem ich saß, gierig ins Leere starrte, schlich sie sich tröstend hinter mich, nahm meinen Kopf in beide Arme und flüsterte zu mir nieder: »Verzage nicht, mein Jungchen, es wird vielleicht gehen.«

Ja, aber wie? Das blieb mir so lange ein Rätsel, bis eines Tages[55] von der guten Tante aus Elbing ein Brief ankam. In dem stand, sie wolle es mit mir versuchen – für vier Taler monatlich könne ich bei ihr Pension und sogar noch Klavierstunden haben, die meine Kusine Marie bereit sei mir zweimal wöchentlich zu erteilen.

Damit war mein Schicksal entschieden, und die Notbehelfe des Försters und des Volksschullehrers, die mir bisher als das verhältnismäßig Höchststehende in lockenden Farben vors Auge geführt worden waren, sanken weit zurück ins Reich der Angstträume. Ein heimlicher Bittbrief meiner Mutter, von dem selbst Vater keine Ahnung gehabt, hatte das Wunder zustande gebracht, gegen das er sich nicht mehr zu wehren vermochte, zumal Mama erklärte, daß sie ein Viertel, ja die Hälfte des Betrages durch das Milchgeld selber aufbringen wolle.

Dies »Milchgeld« hat noch zwanzig Jahre lang in meinem Leben eine Rolle gespielt, und wenn das Messer mir ganz dicht an der Kehle saß, dann kam es als letzte Rettung dazwischen. Die eine Kuh, die uns im Stalle stand, hat alles geschafft. Was von ihrer Milch übrigblieb, wenn die Häuslichkeit versorgt war, durfte verkauft werden, und der Erlös davon floß in Mutterchens Tasche.

Wieviel Söhne auf Erden mögen durch solch ein »Milchgeld« schon vor Niedergang, vor Untergang bewahrt geblieben sein! –

Die »gute Tante« in Elbing, Frau Agnete Neufeldt mit Namen, hatte schon immer in unserem Hause eine Rolle gespielt. Sie »lebte von ihren Zinsen«, sie besaß sogar eine »Villa«, wie die Sage ging, und hatte schon deshalb etwas Feenartiges an sich, wenngleich ein greifbares Zeugnis hierfür bis dahin sich nicht zu uns verirrt hatte. Nun aber war es da und zog mich in jene Feenländer, in denen Wohlstand und Würde, Bildung und Feinsein zu Hause sind.

Daheim begann alsbald eine fiebernde Tätigkeit, denn meine[56] Aussteuer mußte so glanzvoll ausfallen, daß ich selbst in höheren und höchsten Kreisen nicht über die Achsel angesehen wurde.

Zwei Anzüge bekam ich, im Hoffmannschen Laden vom besten Tuche abgeschnitten, und nicht etwa im Hause gemacht wie bisher, o nein, bei einem wirklichen Schneider, Paetzel mit Namen, der sich noch weit später, als ich mit den Swells vom S.C. in Wettbewerb zu treten hatte, als Künstler von Gottes Gnaden erwies. Daß ich mit meiner Leibwäsche auf eine Hochzeitsreise hätte gehen können, brauche ich keinem zu versichern, der meine Mutter je gekannt hat. Aber sogar zwei »Schlipse« bekam ich mit auf den Weg, von ihr selber auf kleine Pappbögen gespannt – denn »Selbstbinder« gab es in meinem Gesichtskreis noch nicht –, der eine von braunem Brokatstoff für die Sonn- und Feiertage, der andere – nun, also den anderen hab' ich vergessen, wie man den Alltag ja meistens vergißt.

Mich selber hatte wieder einmal ein Wahnsinn gepackt, der Wahnsinn nämlich, auf die Tertia zu kommen. Damerau und Dobinsky waren mittlerweile auf der Tertia angelangt, darum also durfte ich mich nicht lumpen lassen.

Dabei sah es bei mir mit Latein und Mathematik höchst windig aus – der junge Katastergehilfe hatte sich längst dem Suff ergeben und darum die Stunden einschlafen lassen –, mein Französisch war mäßig, mein Englisch half mir nichts, denn es wurde erst auf der Tertia begonnen, von Naturwissenschaft hatte ich keinen Schimmer, Geschichte und Geographie zählten nicht – so blieb also nur die Literatur, in der ich erhebliche Schätze gesammelt hatte.

Sogar Schillers Dramen konnte ich sämtlich, und über die Gegensätzlichkeit in den Charakteren des Karl und des Franz Moor hatte ich jüngst meinem Vater einen längeren Vortrag gehalten, der finsterem Stillschweigen begegnet war, denn alles, wovon er nichts wußte, erregte ihm bitteren Gram.[57]

Und noch heute bin ich mir nicht darüber klar, ob der Widerwille, mit dem er meinen Bildungsaufstieg später begleitet hat, im Innersten nicht auf Groll über das eigene Schicksal beruhte.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 49-58.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Bilderbuch meiner Jugend
Das Bilderbuch meiner Jugend
Das Bilderbuch meiner Jugend: Roman einer Zeit

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon