1. Kindheit

[15] Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.

Freilich müßte ich, wenn ich nur über diese Epoche meines Lebens berichten wollte, mich auf die Geschichte der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre beschränken und ganz darauf verzichten, Bilder aus meiner Jugend heraufzubeschwören, und müßte es mir versagen, die persönlichen Erinnerungen aufzuzeichnen, welche mein ganzes wechselvolles Leben in mein Gedächtnis geprägt hat.

Das will ich mir aber nicht versagen. Wenn ich schon des erwähnten Umstandes halber mich bewegen ließ, meine Memoiren zu schreiben, so soll daraus ein wirkliches Lebensbuch werden. Noch einmal sollen die Stationen der langen Reise vor meinem inneren Auge der Reihe nach auftauchen und davon auf diesen Blättern photographiert werden, was mir zur Wiedergabe geeignet erscheint.

Also ohne weitere Einleitung zum Anfang:


Der Anfang alles Menschenlebens ist die Geburt. Wo und wann und in welchem Milieu ich zur Welt gekommen bin, besagt am zuverlässigsten mein Taufschein. Hier ist die Kopie des Dokumentes:


»Taufschein.

ad W. E. 200.

Aus der Geburts- und Taufmatrik der Pfarre St. Maria-Schnee, Lib. XIII. pag. 176, wird hiermit pfarrämtlich bestätigt, daß im Jahre eintausendachthundertvierzigdrei (1843) den 9. Juni in S. C. 697/2 geboren und hierauf den 20. ebendesselben Monates[15] nach christkatholischem Ritus vom damaligen Ortspfarrer, wohlehrwürdigen Herrn P. Thomas Bazán getauft worden sei:

Bertha Sophia Felicita Gräfin Kinsky von Chinic und Tettau, eheliche Tochter (posthuma) des hochgeborenen Herrn Franz Joseph Grafen Kinsky von Chinic und Tettau, pensionierten k. k. Feldmarschalleutnants und wirklichen Kämmerers, gebürtig aus Wien – eines ehelichen Sohnes des hochgeborenen Herrn Ferdinand Grafen Kinsky von Chinic und Tettau Exzellenz, k. k. Kämmerers und Landesobersthofmeisters und Besitzers der Herrschaft Chlumec, und dessen Gattin, hochgeborenen Frau Christine, geborenen Fürstin Liechtenstein – und dessen Gattin, hochgeborenen Frau Sophia Wilhelmine Gräfin Kinsky von Chinic und Tettau, geborenen von Körner, gebürtig aus Prag (einer ehelichen Tochter des wohlgeborenen Herrn Joseph von Körner, k. k. Rittmeisters in der Armee, und dessen Gattin Frau Anna, geborenen Hahn).

Pathen bei der Taufe waren Barbara Kraticek, Kammermädchen, und hochgeborener Herr Arthur Graf Kinsky von Chinic und Tettau. Hebamme Frau Sabina Jerábek aus S. C. 124.

Urkund dessen des Gefertigten eigenhändige Unterschrift und das Pfarrsiegel.

Prag, Pfarre St. Maria-Schnee, den 27. November 1866.

Dr. (unleserlich),

Pfarrer b. St. Maria-Schnee.«


Dieser Taufe – obwohl ich dabei so vieles geschworen und abgeschworen – habe ich nicht beigewohnt. Unter »ich« verstehe ich nämlich nicht die lebendige körperliche Form, in der dasselbe enthalten ist, sondern jenes Selbstbewußtsein, das sowohl in der ersten Kindheit, als auch öfters im ganzen Lauf des Lebens abwesend ist: im Schlaf, in der Ohnmacht, in der Narkose und in gar vielen Augenblicken, wo man nur atmet und nicht denkt, nicht schaut, nicht hört, wo man nur so vegetativ weiterexistiert, bis das Ich wieder in Funktion tritt.

Prag war also die Stadt, in der meine Wiege, an der, wie an allen Wiegen, so manches nicht gesungen wurde, gestanden hat. Meine Mutter, die bei meiner Geburt schon Witwe war, ist aber bald nach Brünn übersiedelt, und was mir aus der Kindheit im Gedächtnis geblieben, das spielte sich in der mährischen Hauptstadt ab.

Dort sehe ich mich am Fenster stehen – fünf Jahre alt – und auf den »großen Platz« hinausschauen, wo eine lärmende Menge sich wälzt. Ein neues Wort schlägt an mein Ohr: Revolution. Alle[16] schauen zum Fenster hinaus, alle wiederholen das neue Wort und sind sehr aufgeregt. Was ich empfunden habe, weiß ich nicht mehr, jedenfalls war ich auch erregt, sonst hätten das Bild und das Wort sich dem Geiste nicht eingeprägt. Daneben ist aber nichts. Das Bild weckt kein Verständnis, das Wort hat keinen Sinn. So sieht meine erste Erfahrung eines historischen Ereignisses aus.

Aber mein Gedächtnis reicht weiter zurück und zeigt mir einen Auftritt, den ich im Alter von drei Jahren erlebte und der mich viel heftiger bewegt hat als die politischen Umwälzungen des Jahres 1848.

Ungefähr drei Jahre bin ich alt. Es ist ein schöner Nachmittag und meine Mutter und mein Vormund wollen mich mitnehmen zu einer Landpartie in den »Schreibwald«. Der Begriff »Schreibwald«, ein beliebter Ausflugsort der Brünner, leuchtet aus meinen Kindererinnerungen als der Inbegriff von Naturpracht, Festesfreude, Waldesdunkel, Gebirgsbesteigung, Kaffeegenüssen, mit einem Wort als die Kulmination von dem Freudenkomplex, genannt Landpartie. Damals an dem denkwürdigen Nachmittag waren alle diese Erfahrungen wohl noch nicht vorhanden, vielleicht war es sogar das erstemal, daß ich in den Schreibwald geführt werden sollte, aber der Name blieb mir stets mit der folgenden Begebenheit verbunden.

Ein weißes Kaschmirkleidchen, ausgenäht mit schmalen roten Borten, wurde mir angelegt. Ein Prachtding: dekolletiert – das Muster der Ausnähung sehe ich noch vor mir, ich könnte es nachzeichnen. Wie würde die Umwelt staunen, wenn sie das erblickte! Ich fühlte mich schön, positiv schön darin. Da bemerkte mein Vormund vom Fenster – auch ihn sehe ich in seiner Generalsuniform –, daß das Wetter sich verzieht, daß es wahrscheinlich regnen werde. Ein kurzer Kabinettsrat (der General, meine Mama und die Kammerzofe Babette) folgte, und die Resolution ward verkündet: das schöne neue Kleid könnte Schaden leiden.

»Zieh der Komteß ein altes Kleid an,« lautete der mütterliche Befehl. Aber die Komteß erklärte mit aller Entschiedenheit, daß sie sich dagegen verwahre. Im neuen Kleide bin ich: j'y suis, j'y reste; mit diesem um dreißig Jahre vorgreifenden Plagiat gab sie ihren unerschütterlichen Willen kund. Vielleicht übrigens nicht so sehr mit Worten als mit Heulen und Trampeln.

Das nächste Bild aber in dieser mir unauslöschlichen Bildergalerie zeigt mir also das strahlend gekleidete, schöne und energische Wesen auf einen großen Tisch hingelegt, das Gesicht gegen die Tischplatte, das rotgestickte Röckchen von gefälliger Hand des nebenstehenden hohen Militärs gehoben, und von mütterlicher Hand sauste – klatsch,[17] klatsch – die erste Prügelstrafe verzweiflungserweckend und entehrend auf das Objekt hernieder.

Ja Verzweiflung: daß es so großen Kummer geben könne auf der Welt und daß darüber die Welt nicht einstürzt, das war mir vermutlich unfaßbar. Endlich legte sich das wilde Schluchzen – ich wurde ins »Winkerl«, d.h. in eine Ecke gestellt und mußte um Verzeihung bitten – die so tief Beleidigte auch noch um Verzeihung bitten! Aber ich tat's, ich war zwar unglücklich, tiefunglücklich, aber gebändigt. Heute weiß ich nicht mehr, warum dieser Vorfall sich mir so tief in die Seele prägte; war es die verletzte Eitelkeit wegen des entzückenden Kleides oder das verletzte Ehrgefühl wegen des Disziplinarverfahrens? Wahrscheinlich beides.

Noch ein Bild ist mir eingeprägt. O, ich muß ein sehr eitler, vergnügungssüchtiger Fratz gewesen sein! Meine Mutter kommt ins Kinderzimmer; sie trägt ein schönes Kleid, wie ich es noch nie an ihr gesehen habe, und Schmuck auf dem bloßen Hals: Mama geht auf den Ball, und man erklärt mir, daß dies ein Fest ist, wo alle so schön angezogen sind und in ganz hellen Räumen tanzen. Ich will mitgenommen werden, will auch auf den Ball. »Ja, mein Wursterl geht auch auf den Ball.« Ich juble. – »Nämlich auf den Federnball.« Damit küßt mich die schöne Mama und geht. »So,« sagt Babette, »jetzt wollen wir uns zum Federnball bereitmachen.« Und sie beginnt mich zu entkleiden, was ich mit freudiger Erwartung geschehen lasse. Als ich aber, statt weiter geschmückt zu werden, ins Bett gebracht werde und erfahre, daß dies der Federnball sei, da breche ich in wildes Schluchzen aus, getäuscht, gekränkt, gedemütigt.


Bei dem Bilde meines Vormundes muß ich noch etwas verweilen. Meine ganze Kindheit und erste Jugend hat es freundlich durchleuchtet. Friedrich Landgraf zu Fürstenberg war meines verstorbenen Vaters Kamerad und Freund gewesen, und seine übernommene Aufgabe als Vormund und Beschützer und sorgender Freund des vaterlosen Kindes hat er bis zu seinem Tode treu erfüllt. Ich betete ihn einfach an, betrachtete ihn als ein höheres Wesen, dem ich unbedingten Gehorsam, Verehrung und Liebe schuldete und auch gerne zollte. Er war ein älterer Herr, über fünfzig, als ich zur Welt kam, und wie Kinder in der Alterschätzung schon sind, mir schien er uralt, aber urlieb. So lächelnd, so heiter, so Grandseigneur, so unbeschreiblich gütig. Diese mitgebrachten Zuckerbäckerwaren, diese reichen Weihnachtsgeschenke, diese Sorge um meine Erziehung, meine Gesundheit, meine Zukunft![18]

Grandseigneur: das war er ja tatsächlich. Mitglied des stolzesten österreichischen Hochadels, Feldzeugmeister, zuletzt Kapitän der Arcièrengarde, eine der ersten Stellungen bei Hofe. Fehlte bei keinem großen Hoffest und brachte mir von jedem Kaiserdiner so schöne Bonbons mit. Seine hohe Stellung flößte mir mehr Stolz als Respekt ein. Für mich war er der »Fritzerl«, dem ich du sagte, dem ich, solange ich klein war, auf die Knie stieg und den Schnurrbart zupfte.

Er starb unverheiratet. Sein Leben war so regelmäßig eingeteilt, es verlief so ohne Sorgen, ohne Leidenschaften, zwischen Dienst und Geselligkeit, daß nie der Wunsch aufkam, es zu verändern. In Wien bewohnte er eine schöne Garçonwohnung in der Inneren Stadt; in Mähren besaß er eine Herrschaft, wo er öfters ein paar Sommerwochen zubrachte, um nachzusehen, was seine Beamten treiben; doch zog er es vor, statt bei sich in dem einsamen Schloß zu wohnen, als Gast bei seiner alten Mutter und bei seinen verschiedenen Schwestern die Sommermonate zuzubringen. Reisen unternahm er niemals. Hinter den österreichischen Grenzpfählen hörte die Welt für ihn auf. Frömmigkeit, Kirchenfrömmigkeit sowohl wie Militärfrömmigkeit gehörten zu seinen, ich will nicht sagen Charaktertugenden, sondern Standestugenden. Er fehlte bei keiner Sonntagsmesse, keiner Kirchenfeier und keiner Parade. Für Feldmarschall Radetzky, den er persönlich gut gekannt, schwärmte er. Der Ruhm der österreichischen Armee war in seinen Augen einer der schönsten Bestandteile der allgemeinen Weltordnung. Die Société (mit diesem Worte bezeichnete er den Kreis, in dem er geboren war und in dem er sich bewegte) war ihm die einzige Menschenklasse, deren Leben und Schicksale ihn interessierten. Er wohnte auch stets allen in den Häusern Schwarzenberg, Pallavicini u.s.w. gegebenen großen Festen bei. Im Adelskasino hatte er mit einigen Ranggenossen seine regelmäßigen Whistpartien. Kartenspiel liebte er überhaupt – nicht Hasard, denn er war im höchsten Grad »solid« –, aber die unschuldigen Spiele, als da sind: Pikett, L'hombre, Tarteln. Dieses letztere pflegte er bei seinem wöchentlich zweimaligen Vormittagsbesuch bei uns mit meiner Mutter zu spielen, und ich durfte dabeisitzen, um mit dem Stiftchen die Points zu markieren. Sehr interessierten ihn die verschiedenen Heiraten in der Société; er hatte eine Schar von Neffen und Nichten, die mehr oder minder gute Partien machten. Er selbst hat, obwohl der Mannesstamm mit ihm erlöschen sollte, nicht ans Heiraten gedacht. Die Ursache war, daß er eine Herzensneigung zu einer Frau hegte, die zwar auch die Witwe eines Aristokraten, aber von Geburt aus nicht hoffähig war, also erschien ihm eine Heirat mit ihr einfach ausgeschlossen.[19] Seiner Familie wollte er ein solches Aergernis nicht geben, und schließlich wäre es ja auch ihm ein Aergernis gewesen, denn alles, was außer dem Geleise, außer der Tradition, außer der »Korrektheit« lag, das ging ihm wider den Strich.

Als ein Typus von Altösterreichertum steht diese Gestalt vor meinem Gedächtnis. Ein Typus, von dem es wohl noch einige Exemplare gibt, der aber – wie aller Typen Los – im Aussterben begriffen ist. Unser Land ist jetzt aus Slawen, Deutschen, Kroaten, Italienern (Madjaren darf man schon gar nicht nennen, die würden sich das höchlich verbitten) und noch ein paar andern Nationalitäten zusammengesetzt, aber der Sammelname »Oesterreicher« könnte erst dann wieder zu einem stolzpatriotischen Begriff werden, wenn all die verschiedenen Völkerschaften mit eigner Autonomie zusammen einen Föderativstaat bildeten, wie die Deutschen, Franzosen und Italiener in der Schweiz. Da erzählte mir neulich ein Freund – ein dem bürgerlichen Stande angehöriger, aber bei Hofe sehr gern gesehener Mann – von einer Unterhaltung, die er unlängst mit dem Kaiser geführt. Im Laufe eines politischen Gespräches habe der Kaiser ihn befragt, welcher Partei er angehöre: »Zu derjenigen, zu der nur ein einziger Anhänger gehört, der ich bin.« – »Und was ist das für eine Partei?« – »Die österreichische, Majestät.« – »Na, und ich – zählen Sie mich nicht?« gab Franz Joseph lächelnd zurück.

Zurück zur Vergangenheit und zu meinem lieben Fritzerl. Es ist gut, daß er die Ereignisse von 1866 nicht erlebte. Die Niederlagen in Böhmen, die Lostrennung Venetiens; das hätte ihn bis ins tiefste Mark gedrückt. Und er hätte es einfach unbegreiflich gefunden, wie eine gegen alle Naturgesetze, namentlich gegen alle göttliche Ordnung verstoßende Kalamität. Zu der Weltauffassung, die den Typus kennzeichnet, den ich meine, gehört der Glaube, daß Oesterreich der Mittelpunkt der Welt sei und jedes ihm widerfahrende Unglück – namentlich Kriegsunglück – eine unnatürliche Pflichtversäumnis seitens der Vorsehung bedeute. Es sei denn, daß solche Niederlagen als Strafe gemeint seien, als verdiente Züchtigung für überhandnehmenden Unglauben, für Lösung der Sitten, für Verbreitung von revolutionären Ideen. Da hilft denn wohl nichts als strenge Zucht einführen, die Armee tüchtig reorganisieren; dann läßt sich vielleicht der Weltschöpfer versöhnen und die Weltgeschichte durch künftige Rückeroberungen wieder korrigieren. Diese Schmerzen und diese Betrachtungen blieben dem Fritzerl erspart.

Wenn ich vorhin sagte, von jenem Typus leben noch einzelne Exemplare, so habe ich mich wahrscheinlich geirrt. Es ist einfach unmöglich,[20] daß heute noch in irgendeinem Kopfe die Welt sich so spiegelt, wie sie sich in den Köpfen derer spiegelte, die noch im achtzehnten Jahrhundert geboren wurden, die die erste Einführung der Eisenbahn erlebten, die das erste Photographieblatt in Händen hielten, die mit einigem Widerwillen die Oelbeleuchtung durch das Petroleum verdrängt sahen. Zu jenem altösterreichischem Typus (mit den altenglischen oder sonstigen altnationalen Typen geht es ebenso) gehört eine gewisse Beschränkung der Erfahrungen und des Wissens, welche heute auch in den konservativsten Kreisen nicht mehr bestehen kann.

Daß sich die Typen von Geschlechtsfolge zu Geschlechtsfolge ändern, daß die Anschauungen, Ansichten, Gefühle wechseln, das kann man am besten an sich selber beurteilen, wenn man in die Vergangenheit zurückblickt. Jeder Mensch, obwohl er zumeist den Wahn hegt, ein gleiches, fortgesetztes Ich mit bestimmten Charaktereigenschaften zu sein, ist ja selber eine Kette der verschiedensten Typen. Jede neue Erfahrung – ganz abgesehen von den körperlichen Veränderungen des Aufblühens und Abwelkens, des Gesund- oder Krankseins – modifiziert das geistige Wesen. Wieviel man sieht, ob als Landschaftsbild mit dem körperlichen Auge oder als Weltanschauung mit dem geistigen, ist nicht Sache des mehr oder minder kräftigen Sehvermögens, sondern besonders Sache des Horizonts.

Wenn ich in meine Kindheit und Jugend zurückblicke, so sehe ich mich nicht als Dieselbe, Geänderte, sondern sehe nebeneinander stehend die verschiedensten Mädchengestalten, jede mit einem anderen Horizont von Ideen und von anderen Hoffnungen, Interessen und Empfindungen erfüllt. Und wenn ich die Gestalten aus meinem reiferen Frauenalter oder gar meinem jetzigen danebenhalte, was habe ich (außer der bloßen Erinnerung, so blaß wie die Erinnerung an längst gesehene Gemälde oder längst gelesene Bücher) mit jenen Schemen gemein und was sie mit mir? Zerfließende Nebel, flatternde Schatten, verwehender Hauch: das ist das Leben ...

Meine erste Liebe war niemand geringerer als Franz Joseph I., Kaiser von Oesterreich. Gesehen hatte ich ihn zwar nie – nur sein Bild –, aber ich schwärmte heftig für ihn. Daß er mich heiraten werde, schien mir gar nicht ausgeschlossen: im Gegenteil, das Schicksal war mir so etwas Aehnliches schuldig. Natürlich mußte ich noch fünf oder sechs Jahre warten; denn daß ein zehnjähriges Kind nicht zur Kaiserin gemacht werden könne, sah ich ein. Ich mußte zur fünfzehn-, sechzehnjährigen Jungfrau – der schönsten Jungfrau im Lande – aufgeblüht sein; der junge Herrscher würde mich einmal erblicken, sich mit mir in ein Gespräch einlassen, von meinem Geist entzückt sein[21] und mir sofort seine Person zu Füßen legen. Das war so die Zeit, wo ich überzeugt war, daß die Welt ein Märchenglück für mich bereithielt. Es zu verdienen und darin recht glänzend am Platze zu sein, bemühte ich mich redlich, indem ich lernte, lernte, übte, übte und meine Fortschritte und Kenntnisse selber anstaunte. Ein wahres Wunderkind war ich – in meinen Augen. Es ist wahr, ich sprach gut Französisch und Englisch (von frühester Kindheit hatte ich Französinnen und Engländerinnen als Bonnen), ich spielte merkwürdig gut Klavier, ich hatte enorm viel gelesen: Le siège de la Rochelle, Histoire de France von Abbé Fleury; Ruy Blas und Marie Tudor von Victor Hugo; den halben Schiller, Physik von Fladung; Jane Eyre, Uncle Tom's Cabin, das waren die Bücher (also nicht Kinderbücher), in denen ich in jenem Alter schwelgte; zudem liebte ich es, im Konservationslexikon zu blättern und von allen Wissenszweigen Blüten zu pflücken. Aus Wißbegierde? Das will ich nicht behaupten; ich glaube, jene schönen Blüten schienen mir nur begehrenswert, um mir einen schmückenden Kranz daraus zu flechten.

Ein böser Zufall hat gewollt, daß Kaiser Franz Joseph schon im Jahre 1854 – ich war also erst elf Jahre alt – seine Cousine Elisabeth erblickte, mit ihr ein Gespräch anknüpfte und ihr seine Person zu Füßen legte. Ich war nicht gerade unglücklich (es gibt ja noch andere Märchenprinzen genug), sondern interessierte mich fortan lebhaft für Elisabeth von Bayern, suchte nach ihren Porträten, fand, daß sie einige Aehnlichkeit mit mir habe und ahmte ihre Frisur nach. Die eigentliche heftige Leidenschaft für meinen jungen Landesvater war ja seit einiger Zeit erloschen. »Chiodo caccia chiodo«, dieses Sprichwort wenden die Italiener an, um zu illustrieren, daß eine Liebe die andere verjagt.

Ich war an meinem elften Geburtstag zum erstenmal ins Theater geführt worden. Man gab die »Weiße Dame«. Nein, dieser George Brown! (»welche Lust, Soldat zu sein!«) Ja, das ist doch der schönste Stand – nächst dem Operntenorstand. Denn etwas Hinreißenderes als diesen Sänger – ich weiß sogar noch seinen Namen, Theodor Formes, der Eindruck muß also tief gewesen sein –, etwas Ritterlicheres hatte ich mir nie träumen lassen. So mußte der mir bestimmte Prinz aussehen. Er mußte nicht einmal Prinz sein, nur womöglich, wenn nicht Tenor – Herrn Formes hätte ich keinen Korb gegeben –, so jedenfalls Soldat. Während ich das erzähle, sehe ich, daß ich zwar ein dummes Mädel war, aber kein rechtes Kind. Das kommt wohl daher, weil ich keine gleichaltrige Gespielin gehabt, sondern nur in der Welt der Bücher lebte, deren[22] Helden auch keine Kinder, sondern Erwachsene waren, deren Lebensschicksale sich zumeist um Liebe und Ehe drehten.

Das Wichtigste im Universum, das war jedenfalls meine kleine Person. Der Lauf der Welt, das war nur die Maschinerie, deren sämtliche Räder zu dem Zwecke ineinander griffen, um mir ein strahlendes Glück zu bereiten. Ob ich allein ein so törichtes, eingebildetes Kind war, oder ob dieses Weltzentrumgefühl überhaupt ein bei Kindern und beschränkten Geschöpfen natürliches Gefühl ist? Ob die Bescheidenheit eine edle Frucht ist, die erst am Baume der Lebenserfahrung und des Wissens reift? – – Daran läßt sich auch so recht der Typus eines Menschen oder einer Klasse ermessen – daran, was als wichtig erscheint. In jenen Kindheitstagen war mir (neben dem alles überragenden »Ich«) noch von bedeutender Wichtigkeit: das Weihnachtsfest; die große Wohnungsreinigung zu Ostern; das Brünner Damenstift; die Auflese von Kastanien in den mit einem Teppich von Herbstlaub belegten Wegen des Augartens, die Besuche Fritzerls, der schöne Liedervortrag meiner Mutter, die selbstverständliche große Liebe dieser Mutter für mich und meine Liebe zu ihr, die so groß war, daß, wenn sie auf zwei oder drei Tage nach Wien fuhr, ich stundenlang schluchzte, als wäre mir das Herz gebrochen.

Mit einem solchen Kreis von Wichtigkeit könnte ich alle verschiedenen Abschnitte meines Lebens umrahmen und mir dadurch am deutlichsten die Phasen vergegenwärtigen – von jener ersten Erinnerung des wichtigen Bortenmusters am weißen Kaschmirkleidchen an bis zu dem Ideal des gesicherten internationalen Rechtszustandes, das mir heute als eine alles andere übertrumpfende Wichtigkeit erscheint.

Hier handelt es sich um etwas, was erst werden soll, und ich glaube, daß die Beschäftigung mit solchen Dingen nur eine seltene ist. Die meisten Menschen – und ich in meinen früheren Lebensepochen mit ihnen – nehmen die Umwelt und die herrschenden Zustände als etwas Gegebenes, Selbstverständliches, schier Unveränderliches an, über dessen Ursprung man nur wenig und an dessen mögliche Wandlung man gar nicht denkt. So wie die Luft dazu ist, geatmet zu werden und man nichts daran zu ändern berufen ist, so ist die gegebene Gesellschaftsordnung – die politische und sittliche – da, um die Atmosphäre, die Lebensluft unserer sozialen Existenz abzugeben. Natürlich denkt man sich das nicht mit diesen Worten, denn jene Auffassung ist eine ganz naive, d.h. also mehr in der Empfindung als im Bewußtsein vorhanden, so wie man ja auch, ohne sich dessen[23] bewußt zu werden, beständig Atem holt und an den Stick- und Sauerstoffgehalt der Luft nicht denkt.

Die Erinnerung an einen Landaufenthalt des Jahres 1854 ist mir lebhaft im Gedächtnis haften geblieben. Heute noch sehe ich verschiedene Bilder aus dem Schlosse, dem Garten und dem Wald der Herrschaft Matzen vor mir, während so viele andere Szenerien, die ich seither gesehen, meinem Gedächtnis entschwunden sind. Man trägt doch eine eigentümliche Kamera im Kopfe, in die sich manche Bilder so tief und deutlich einätzen, während andere keine Spur zurücklassen. Der Apparat muß sich im Gehirn momentan auch so aufklappen und größtenteils aber verschlossen bleiben, so daß die Außenwelt sich nicht hineinphotographiert.

Es war damals nicht zum erstenmal, daß ich in Matzen war, aber von dem früheren Aufenthalt habe ich nur eine ganz blasse Vorstellung. Ich sehe mich nur auf dem Arm der Kindsfrau in den Salon getragen, um dort von der Hausfrau – Tante Betty Kinsky – und ihren beiden erwachsenen Töchtern, Rosa und Tinka, geliebkost zu werden. Im Jahre 1854, da meine Mutter wieder nach Matzen eingeladen war, regierte dort nicht mehr Tante Betty; sie war vor einigen Jahren gestorben und die Töchter waren verheiratet außer Hause – Rosa an einen Baron Hahn in Graz, Tinka an General Grafen Crenneville, Festungskommandant in Mainz. Mainz war ja damals österreichische Garnison. Wie die Dinge sich doch verschieben auf dieser unserer wandelbaren Erdoberfläche, auf der ja alles in fortwährendem Wandel begriffen ist; aber schneller und unerwarteter als Berge und Täler, als die Wälder und Städte der Länder wandeln sich ihre politischen Grenzen und Zugehörigkeiten.

Um nach Matzen zurückzukommen, das ja noch immer auf derselben Stelle steht, welches ich aber seither nicht mehr gesehen habe, so war es damals unter der Herrschaft eines jungvermählten Paares. Am selben Tag, da Kaiser Franz Joseph mit Elisabeth von Bayern Hochzeit hielt, hatte der nunmehrige Herr von Matzen und Angern, Christian Graf Kinsky, seine Braut, Therese Gräfin Wrbna, heimgeführt. Ein schönes, glückliches junges Paar.

Einen lustigeren, witzigeren Menschen als »Christl« Kinsky kann man sich nicht vorstellen. Des ist die ganze Wiener Gesellschaft Zeuge. Noch in sei nem späten Alter, auf dem nichts weniger als lustigen Posten eines Landmarschalls, wußte er Heiterkeit und Gemütlichkeit bis in die parteizerrissene Landstube zu bringen. Das Schloß, alt und getürmt, steht auf einem bewaldeten Berg; vom[24] zweiten Stockwerk führt eine Tür auf ein Plateau, auf dem ein kleiner Ziergarten angelegt ist, und vor dem Gartengitter liegt der Wald. Ein Pavillon ist in dem Gärtchen angebracht, und auf dem Tisch darin lagen gefärbte Gläser, blau, gelb, rot ... Durch diese ließ man mich in die Natur hinausschauen (diese Erinnerung datiert von einem früheren Matzener Besuch, als ich noch ganz klein war), und diesen blauen Wald, diesen gelben Garten, diesen grünen Himmel zu sehen, es war mir eine zauberhafte Ueberraschung – ich schrie vor Glück. Es geht doch nichts darüber: erst vor kurzem geboren worden zu sein und alles – alles was die Welt bietet, als neu zu empfinden – alles ein erstes Mal zu kosten. Drum wäre es ganz schön, immer wieder geboren zu werden und immer wieder alles von vorn zu beginnen, wieder das Zauberreich der Ueberraschungen durchzuwandern, das mit dem ersten gefärbten Glas, mit dem ersten Christbaumkerzchen, etwas später mit dem ersten Kuß uns stets als ein ungeahntes Neuland blendet ...

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 15-25.
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