46. Bunte Erinnerungen

[317] Von Holland in unser liebes Harmannsdorf zurückgekehrt, nahmen wir unser stilles, frohes, arbeitsames Leben wieder auf. Der Meine begann die Niederschrift eines zweibändigen Romans, der wohl sein reifstes Werk war, betitelt »Sie wollen nicht«. Max Nordau schrieb ihm darüber:


Verzeihen Sie, daß ich Ihnen erst heute für Ihren hochinteressanten Roman »Sie wollen nicht« danke. So lange dauert es, bis ich in meinem gehetzten leben dazu komme, 730 Seiten flüssigster, angenehmster Prosa zu lesen, wenn diese nicht unmittelbar in mein Arbeitsgebiet schlägt.

Was ich von Ihrem Charakter denke, möchte ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß, daß wirklich charaktervolle Männer jedes Lob ihrer Charaktereigenschaften unangenehm empfinden. Immerhin darf ich wohl kurz sagen, daß ich den deutschen Schriftsteller bewundere, der heutzutage den Mut hat, die Gestalten eines Gutfeld, Zinzler, Kölble zu schaffen. Künstlerisch steht Ihr Roman hoch. Vielleicht sind zu viel Fäden durcheinander geschlungen, und das Gewebe ist vielleicht nicht straff genug. Daß das Hauptdrama erst in den letzten Kapiteln mit dem Erscheinen Palkowskis einsetzt, ist kompositionell auch kein Vorzug. Aber all das ist Kleinigkeit gegenüber dem großen Vorzug des Reichtums an Motiven und der Lebensfülle der verwirrend zahlreichen Gestalten. Der alte Jörgen allein würde genügen, um Ihren Roman dem Leser unvergeßlich zu machen ...


Ich schrieb damals »Vor dem Gewitter«. Daneben gab mir die Redaktion der Monatsschrift sehr viel zu tun und fast noch mehr die Korrespondenz. Regelmäßig schrieb ich an Alfred Nobel, um ihn von der Entwicklung der Friedenssache auf dem laufenden zu halten; mit Carneri tauschte ich stets geistanregende, viel Seiten lange Briefe, ebenso mit Rudolf Hoyos, Friedrich Bodenstedt, Spielhagen, Karl von Scherzer, M. G. Conrad u.s.w. Einen neuen, mir persönlich unbekannten Korrespondenten gewann ich an einem alten französischen Seeoffizier: Konteradmiral Réveillère. Hatte er zuerst mir oder ich ihm geschrieben, dessen kann ich mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls hat sich unser Briefwechsel auf Gesinnungsgleichheit und auf die gegenseitige Kenntnis unserer Schriften aufgebaut. Zum erstenmal hatte ich von Réveillère gehört, als Frédéric Passy in dem Toast, den er beim Bankett der Interparlamentarischen Konferenz von 1894 in Scheveningen auf das hinter den Saaltüren rauschende[317] Meer ausbrachte, und sagte, er zitiere die Worte seines Freundes Konteradmiral Réveillère.

Geboren 1828 in der Bretagne, lebte der als Gelehrter und Schriftsteller rühmlich Anerkannte nach langer Seemannskarriere im Ruhestande in seiner Vaterstadt Brest. Seine Muße füllte er mit Bücher- und Artikelschreiben. Zahlreiche Seeschlachten und zahlreiche Gedankenschlachten hat er durchgefochten. Die Titelreihe seiner Bücher läßt erraten, in wie mannigfache Länder ihn seine Dienstreisen geführt, und wie mannigfaltig auch die Gebiete waren, die er als Dichter und Denker exploriert hat: »Gallien und die Gallier,« »Die Rätsel der Natur,« »Quer durch das Unerkennbare,« »Die Stimmen der Steine,« »Reise um die Welt,« »Keime und Embryone,« »Gegen Sturm und Flut,« »Die drei Vorgebirge,« »Briefe eines Seemannes,« »Erzählungen und Novellen,« »Die indischen Meere,« »Die chinesischen Meere,« »Die Eroberung des Ozeans,« »Die Suche nach dem Ideal«; später kamen noch hinzu: »L'Europe unie« (Paris, Berger Levraut 1896), »Tutelle et Anarchie« (ebenda 1896), »Extension, Expansion« (ebenda 1898).

Wieso er, der Sohn der konservativen Bretagne, der im Flottendienst Ergraute, dazu gekommen, mit den Pazifisten zu gehen, das hat er mir einmal geschrieben:


Oft begeistern wir uns für zwei Ideen, die keinen sichtbaren Zusammenhang haben, und es braucht mitunter Jahre, bis man das Band entdeckt, das sie verbindet. Es hat viel Zeit und Nachdenken gekostet, mir über die Vereinigung zweier mich sehr leidenschaftlich beherrschender Gefühle Rechenschaft zu geben, zwischen denen ich keinerlei Verwandtschaft vermutet hatte: Eine tiefe Leidenschaft für die europäische Föderation und ein instinktiver Kultus für Dolmen und Menhire.

Seit meiner zartesten Kindheit war ich durch das steinerne Rätsel fasziniert, das von allen Seiten in meiner bretonischen Heimat aufgestellt ist. Und seit meiner Kindheit verliebte ich mich in den schönen Traum der europäischen Föderation – ein Traum, welcher der Vorurteile der Staatsmänner, der Voreingenommenheit der gekrönten Häupter zum Trotze im Begriffe steht, sich zu verwirklichen. Das große Werk der europäischen Verbündung muß durch die Annäherung jener Völker beginnen, deren Sitten und Anschauungen die meiste Analogie besitzen. Diese Völker, längs des Atlantischen Ozeans, haben sich allein die Grundsätze der Französischen Revolution assimiliert. – England übrigens hatte seine Revolution schon früher gemacht. Ich meine folgende Länder: Skandinavien, Holland, Belgien, Frankreich, Portugal und das alte Helvetien, die älteste unter den europäischen Republiken. Später belehrten mich meine archäologischen[318] Studien, daß gerade diese das Gebiet der Dolmen war. Alle diese Völker hatten gemeinschaftliche Ahnen, die Megalithen; vom Nordkap bis nach Tanger bevölkerte dieselbe Rasse die Meeresküste. Das gleiche Grabrituale, immer fußend auf den gleichen Glaubenssätzen. Und so kam es, daß mir die Dolmen und Menhire zum Symbol der westlichen Föderation wurden. –


Und ein andermal:


Der Zufall der Geburt hat aus mir vorerst einen bretonischen Patrioten gemacht. Als ich aus dem engen Egoismus der Kindheit heraustrat, da gehörte meine erste Liebe der Bretagne. Als meine Verstandesentwicklung mir gestattete, die Solidarität meiner kleinen Heimat mit dem französischen Vaterlande zu erfassen, da wurde ich zum französischen Patrioten. Später lernte ich aus der Geschichte, daß alle Nationen diesseits des Rheins einst eine ruhmreiche Föderation bildeten – da ward ich zum gallischen Patrioten; noch später offenbarte mir die Betrachtung der megalithischen Denkmale einen neuen Zusammenhang, den mit der megalithischen Rasse. Indem die Logik ihre Arbeit fortsetzte, wurde ich zum europäischen Patrioten – schließlich zum Patrioten der Menschheit. – In unserer Zeit ist die nationale Liebe eine stumpfsinnige Liebe, wenn sie nicht durch die Liebe zur Menschheit erhellt wird.


Ich habe von den Werken des Admirals nur die drei zuletzt genannten gelesen; aber er sandte mir regelmäßig die Artikel ein, die er in dem Journal »La Dépêche« veröffentlichte, und worin er zu allen Tagesfragen – immer im Sinne der »erhellenden« Liebe zur Menschheit – Stellung nahm.

Nicht etwa in träumerischer Weise, nicht mit dem Anflug von Mystizismus, der so häufig das Seelenleben dichterisch veranlagter Seefahrer bewegt. Er begründete seine politischen Ideale durch reale und positive Erwägungen, namentlich aus dem Gebiet der Nationalökonomie. So schrieb er:


Um die industrielle Konkurrenz der Vereinigten Staaten Amerikas und der gelben Rasse auszuhalten, wäre es – im Interesse Frankreichs und Deutschlands – wünschenswert, einen Zollverein zwischen Deutschland, Belgien, Holland und Frankreich sich bilden zu sehen, der gleichzeitig die Kolonien dieser Länder verbinden würde. Es scheint heutzutage freilich fast unmöglich, gegen den schutzzöllnerischen Strom zu schwimmen, und dennoch fühlt jedes Volk das Bedürfnis, seinen Absatzmarkt zu vergrößern. Wenn man schon auf europäischem Boden dieser Vergrößerung sich widersetzt, warum trachtet man nicht, sie durch eine Kolonialunion zu gewinnen – eine Union,[319] durch welche die föderierten Länder ihren Bürgern, ihren Schiffen und ihren Waren in allen Kolonien dieselben Rechte und Vorteile sicherten?


Mit Bezug auf das verbesserungsbedürftige Los der Massen sagte Réveillère, daß die Verbesserung von der allgemeinen Erzeugung nützlicher Güter abhängt. Solange die Massen zu unproduktiven Arbeiten verwendet werden, ist keine Erleichterung für sie möglich ... und jetzt erschöpfen sich die Völker in unproduktiven und zerstörenden Arbeiten. – Es gibt keinen Mittelweg; entweder die internationale Anarchie (d.h. der Mangel einer den Völkerverkehr regelnden Gesetzlichkeit) mit dem Elend oder die Föderation mit dem Reichtum.

Auf die Politiker war mein bretonischer Freund nicht gut zu sprechen: »Der Dampf hat alles verändert auf dieser Welt, nur nicht die Routine unserer Staatsmänner.« Und in einem nächsten Brief: »Die Ingenieure und Gelehrten arbeiten fortwährend, um den Graben auszufüllen, den die Professionisten der Staatszunft graben; die Ingenieure strengen sich an, die Produktivität der Arbeit zu erhöhen, die Politiker geben sich alle Mühe, sie zu sterilisieren.«

Gar viele Leute sind der Meinung, daß es ein zu weit- und fernliegendes Ziel und zu weitschweifendes Beginnen ist, an die Regelung kriegloser Beziehungen der europäischen Staaten untereinander Hand anlegen zu wollen, jetzt, wo fast jeder Staat so viele Sorgen und Wirren zu tragen hat, wo innerhalb der eigenen Grenzen die heftigsten nationalen und sozialen Kämpfe toben. Darauf kann folgende Stelle aus einem Réveillèreschen Buche (Extension, Expansion S. 23) als Antwort dienen:


Wenn ein Arzt eine Brustkrankheit behandeln soll, so ist es seine erste Sorge, den Patienten am Einatmen vergifteter Luft zu hindern. Wenn er eine Operation vorzunehmen hat, so bemüht er sich, den Raum, in dem die Operation gemacht werden soll, von jedem ansteckenden Keim zu säubern. Geradeso verhält es sich mit den nationalen Krankheiten. Kein Staat kann daran denken, seine inneren Leiden zu kurieren, ehe der europäische Raum desinfiziert ist. Gewiß ist es die Pflicht jeder Nation, die Leiden der Ihrigen nach Möglichkeit zu lindern; aber zu behaupten, daß man ernsthafte innere Reformen ausführen könne, ohne vorher die europäische Föderation gesichert zu haben, das ist so, als wollte man Verwundete in einem mit Mikroben gefüllten Saal pflegen.


Ich habe lange Zeit mit Admiral Réveillère korrespondiert. In den letzten Jahren war die Korrespondenz eingeschlafen. Vor kurzem[320] (März 1908) ist er gestorben. Ach, wenn man alt geworden, muß man so häufig von seinen Freunden berichten, daß sie nicht mehr sind. In der Kindheit ist das Leben wie eine Baumschule; in der Jugend – ein Garten; im Alter – ein Friedhof.

Eine Todesnachricht, die uns sehr schmerzlich berührte (ich erzähle jetzt vom Jahre 1895), kam uns ganz plötzlich aus dem Kaukasus zu: Prinz Achille Murat hatte sich erschossen. War es Selbstmord oder war es ein Unfall? Das habe ich nie genau erfahren. Es geschah in Zugdidi, in der von dem Meinen erbauten Muratschen Villa. Prinzessin Salomé, die im Nebenzimmer saß, hörte aus dem Zimmer ihres Gatten den Lärm eines Schusses. Sie eilte hinein, und man fand den Unglücklichen in einen Lehnstuhl zurückgefallen, zwischen den Beinen ein Handgewehr mit nach oben gerichtetem Lauf ... hatte er die Waffe in unvorsichtiger Weise gereinigt oder war es Lebensüberdruß? Wie gesagt, ich weiß es nicht.

Und noch ein Verlust: Am 17. Oktober 1895 verschied auf seinem Schlosse Erlaa der Herzog Elimar von Oldenburg im zweiundfünfzigsten Lebensjahre. Kurz vorher hatte er mir noch ein zweites Schriftstück seines Onkels, Prinz Peter, gegeben, betitelt »Gedanken eines russischen Patrioten«, welches in den Worten ausklingt: »Es sei mir erlaubt, den sehnlichsten Wunsch meines Herzens auszusprechen, im Hinblick auf Gott und die Ewigkeit: Einverständnis sämtlicher Regierungen im Interesse des Friedens und der Menschheit! Möge er anbrechen, der glückliche Tag, wo man wird sagen können: Der Krieg zwischen zivilisierten Nationen ist abgeschafft.«

Die Witwe des Herzogs Elimar war über diesen plötzlichen und vorzeitigen Verlust aufs tiefste gebeugt. Auf meinen Kondolenzbrief schrieb sie mir folgende Antwort, die ein helles Licht auf die edeln Eigenschaften des Verstorbenen und seine Lebensgefährtin wirft:


Brogan, 29. Oktober 1895.


Liebe Baronin!


Herzlichsten Dank für Ihre warmen, teilnehmenden Worte sowie der Gesellschaft der Friedensfreunde für den prachtvollen Kranz, der mit so vielen anderen Gaben der Liebe und Zeichen der Verehrung die letzte Ruhestätte des Verewigten schmückt. – Trost gibt es wohl keinen in solchen Stunden –, was ich verloren habe, kann auch im Grunde niemand ermessen, der nicht weiß, wie das innere Band, das uns aneinander fesselte, jede Faser unserer beiden Existenzen aneinander geknüpft – ineinander verschlungen hatte in den neunzehn Jahren unserer[321] ungetrennten, ungetrübten Ehe, so daß mit der einen auch die tausend und aber tausend Wurzeln der anderen aus ihrem Boden gerissen wurden. Die innere Vereinsamung, der ich dadurch anheimgefallen bin, ist wirklich oft kaum zu ertragen, und ich kann mir gegenwärtig kaum denken, daß ich in diesem Leben – auf dieser Erde noch einmal Wurzel fassen könnte. Wer neunzehn Jahre mit einem Menschen, wie mein Mann es war, so innig verbunden gelebt hat, der gewöhnt sich nur noch schwer an andere Menschen! –

Den reinen, hohen Idealismus, der – ich möchte sagen – den innersten Kern seines Wesens bildete und ihn so überaus liebenswürdig, so herzgewinnend und anziehend machte für alle, die mit ihm in Berührung kamen, den finde ich nie und nirgends mehr so verkörpert wie bei ihm, und ich vermisse ihn immer und überall, seit ich ihn verloren habe, in einem Grade, daß mir das Zusammensein mit anderen oft geradezu unerträglich wird. Und doch haben mir die Beweise unoffizieller, aufrichtiger Herzensteilnahme von so vielen edeln, guten Menschen in diesen Tagen unsagbar wohlgetan. Auch Ihnen, verehrte Baronin, nochmals besten und herzlichsten Dank für alle Teilnahme von Ihrer aufrichtig ergebenen

Natalie von Oldenburg.


Einige Jahre später schickte sie mir einen Band Gedichte, dem Andenken des Verlorenen geweiht und von rührender Trauer durchweht.

Und ein dritter Verlust: Am 31. Oktober 1895 starb in Torre del Greco, achtundsechzig Jahre alt, der in unseren Kreisen so geliebte Ruggero Bonghi. Italien betrauerte in ihm den Reformator des öffentlichen Unterrichts, den Professor der Philosophie, den Herausgeber der »Nuova Antologia«, den Gründer und Vorsteher des Waisenhauses in Anagni; wir betrauerten den tätigen Apostel unserer gemeinsamen Sache, den Mann, der von hoher Tribüne herab das schöne Wort gesprochen hatte: »Wir Förderer des Friedens, die wir mit glühendem Eifer dafür wirken, wir wollen schließlich weiter nichts als dieses: Daß der Mensch ganz menschlich werde.«

Unser österreichischer Verein hat zur Beisetzung Ruggero Bonghis nach Rom die Worte telegraphiert: »Sincero dolore e riconoscenza eterna!«[322]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 317-323.
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