48. Politisches Kaleidoskop

[336] Unter meinen aufbewahrten Briefen aus dem Jahre 1896 finde ich ein interessantes Schreiben des Philosophieprofessors von Gumplowicz. Wie ich dazu gekommen, mit ihm zu korrespondieren, ist mir nicht erinnerlich. Daß ich mich bewundernd und sympathisch zu seinen Werken hingezogen gefühlt hätte, ist nicht anzunehmen, denn neben Gaboriau und Stuart Chamberlain ist er einer der einflußreichsten Vertreter jener unseligen Rassentheorie, auf welche sich der Arierhochmut, Germanen- und Lateinerdünkel aufbauten, die mir so in die Seele verhaßt sind. Vermutlich war sein Sohn der Anlaß zu diesem Briefwechsel. Dieser ebenso radikal wie sein Vater konservativ, hatte mir für meine Revue eine von ihm selbst meisterhaft übersetzte Reihe von Gedichten geschickt, betitelt: »Der Engel der Vernichtung«, aus den »Sklavenliedern« von dem polnischen Dichter Asnyk. War es diese Uebersetzung oder war es eine andere Veröffentlichung, die das Mißfallen der deutschen Behörden erweckt hatte – kurz, ich wußte, daß der junge Freiheitssänger zu langer Gefangenschaft verurteilt wurde. Als ich in Prag bei meinem Vortrag im Deutschen Hause verschiedene Dichtungen zu Gehör brachte, las ich auch einige Strophen aus dem »Engel der Vernichtung«. Aus einem alten Bericht über jenen Vortragsabend ersehe ich, daß ich dem Publikum von dem Schicksal des Dichters mit folgenden Worten Mitteilung machte:


Eine Feuerseele ... aber nicht klug und vorsichtig: das, was ihn bewegte: Mitleid mit Menschenjammer, Zorn gegen Menschenknechtung – das hat er zu laut und an unrechtem Orte ausgesprochen, und das büßt er heute im Staatsgefängnis mit zweieinviertel Jahren Einzelhaft ... Wissen Sie, was das bedeutet für einen Jüngling mit strotzender Lebenskraft, mit dichterischem Geistesschwung, mit stürmendem Sehnen nach Arbeit, nach Liebe, nach Weltbeglückung – und siebenundzwanzig Monate Einzelhaft! ... Ich glaube, es wird ihn freuen, wenn ihm die Kunde wird, daß seine so tief empfundenen Strophen in diesem Kreise gehört worden und sein Schicksal hier einige edle Herzen bewegt hat – es wird ihm sein wie ein Gruß aus der Freiheit, für die Freiheit ... Und wenn Sie[336] mir jetzt Beifall klatschen, so gelte jeder Schlag Ihrer Hände als ein Handschlag für den gefangenen Kollegen.


Der helle Applaus, der nun folgte, der galt dem trotzigen Friedenssänger in Plötzensee.

Hier ist der Brief des Grazer Professors:


Graz, 21. April 1896.


Hochgeehrte Frau Baronin!


Ihr kleines Briefchen versetzte mich in große Verlegenheit. Ich soll Ihnen meine Ansicht sagen über Ihren Artikel »Zweierlei Moral«, womit ich zugleich Ihnen meine Ansicht äußern müßte über Ihre ganze Friedensphilosophie. Ich will Ihnen einen Gegenvorschlag machen: werfen Sie mich lieber gleich mit dem abscheulichen Sighele in einen Topf und lassen Sie diese schlechten Kerls von Professoren ganz beiseite – es ist mit ihnen nichts anzufangen! Die verderben Ihnen nur den Humor, stürmen Sie aus Ihren Träumen auf und verderben Ihnen nur Ihren edelsten Lebensgenuß, den Sie in der Propaganda der Friedensidee finden. Ich wenigstens bringe es nicht über mich, eine solche Bösewichtsrolle Ihnen gegenüber zu übernehmen. Sie wollen das Bild zu Sais sehen, und ich soll den Vorhang emporziehen? Nein, hochgeehrte Frau Baronin, das tu' ich nicht! Ich habe es mir lange schon zum Prinzip gemacht:


Wo still ein Herz für Frieden glüht,

O! rühre, rühre nicht daran!


Soll ich Ihnen gegenüber von diesen Prinzipien abweichen? Mich warnt abermals der Dichter: »Glaub mir, es ist nicht wohlgetan!« Keinen Augenblick gebe ich mich dem Wahne hin, daß ich Sie überzeugen könnte – die Kluft ist zu groß, als daß ich sie überbrücken könnte – und ich habe nicht die Ueberzeugung, daß ich damit etwas Gutes stiften würde. Eher wäre es ein gutes Werk, wenn Sie mich bekehren könnten; an mir ist aber Hopfen und Malz verloren; ich bin noch schlimmer wie der Sighele.

Der Gegensatz zwischen uns bösen Professoren und Ihnen, Frau Baronin, ist der, daß wir die Tatsachen konstatieren – hierzu die Tatsache der doppelten Moral –, Sie aber die Welt predigen, wie sie sein soll. Ihren Predigten lausche ich stets mit großem Vergnügen – ich hätte nichts dagegen, im Gegenteil, ich wäre sehr froh, wenn sich die Welt in Ihrem Sinne wandeln wollte. Nur fürchte ich, daß es nicht von der Welt abhängt, sich zu häuten, und daß Ihre Moralpredigt eigentlich ein Anklageakt ist gegen den lieben Herrgott, der die Welt so erschaffen hat. Ja, wenn Sie den rühren könnten, daß er sein Werk in zweiter verbesserter Auflage ausgäbe, das wäre freilich ein Erfolg! Allerdings glauben Sie, die Welt soll nur[337] »wollen«, dann werde schon alles gehen! Genau auf demselben Standpunkte steht mein Sohn in Plötzensee. Auch er konnte es nicht begreifen, daß der Staat so »unmoralisch« sei, und während er in Hülle und Fülle über Nahrung und Brot verfüge – die Arbeitslosen hungern lasse, was doch offenbar gegen das Gebot der Nächstenliebe verstoße. Und nun ging er hin und hielt dem Staate eine Strafpredigt und nannte ihn eine »Ausbeuterbande«, eine »gesetzlich organisierte Räuberbande«. Vom Standpunkte der »einen und einzigen Moral« hatte er ja vollkommen recht. Seit er im Gefängnis ist, habe ich mich wohl gehütet, ihm gegenüber diesen Standpunkt anzufechten. Warum? Weil diese Begeisterung für diese »eine und einzige Moral«, deren Verwirklichung er angestrebt, ihn glücklich macht und ihn alle Qualen und Entbehrungen des Kerkers leicht ertragen läßt. Und ebenso fällt es mir gar nicht ein, Ihnen gegenüber den Standpunkt, den Sie einnehmen, anfechten zu wollen; denn in dem Streben, diesen Standpunkt aller Welt klarzumachen, finden Sie gewiß Ihr größtes Glück. Wie könnte ich es über mein Gewissen bringen, dieses Glück trüben zu wollen?

Verfolgen Sie, hochgeehrte Frau Baronin, ruhig Ihren Weg – kümmern Sie sich nicht um die Sigheles –, lesen Sie nicht den »Rassenkampf« des Gumplowicz – das könnte Ihnen trübe Stunden bereiten – und bleiben Sie stets, was Sie sind: die Vorkämpferin einer schönen Idee!

Um es aber bleiben zu können, bewahren Sie sich stets die Ueberzeugung, daß diese Idee die Wahrheit, die eine und einzige ist! Und diesen – Glauben möge kein Professorengeschwätz Ihnen je rauben!

Mit diesem Wunsche verbleibe ich in aufrichtigster Verehrung

Ihr ergebenster

Gumplowicz.


Ich habe diesen Brief in meine Erinnerungen eingefügt, weil ich die Gegner, besonders so vornehme Gegner, gerne zu Worte kommen lasse. Was ich dem Professor antwortete, weiß ich nicht mehr, doch sicherlich habe ich mir nicht unwidersprochen die Herablassung gefallen lassen, mit der er meine Ansicht als beglückenden – Wahn respektiert. Die Moral, die heutzutage schon das Leben des einzelnen beeinflußt, ist auch nicht eine von Erschaffung der Welt her gegebene Tatsache, sondern eine von der sozialen Entwicklung allmählich errungene Phase, die nunmehr auf das Staatenleben sich auszudehnen beginnt und an der ganz andere Faktoren arbeiten als nur »still für Frieden glühende Herzen«.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[338]

Damals suchte Italien in Afrika Krieg. Abessinien wollte es erobern; aber das war nicht so leicht. Der Negus siegte in mehreren Schlachten. Die Italiener hatten aus dem Fort Makoli abziehen müssen. Da äußerte Menelik den Wunsch, Friedensverhandlungen anzuknüpfen. General Baratieri sendet Major Salsa in das Lager des Feindes. Es kommt aber zu keinem Friedensschluß. Der Negus verlangt das Aufgeben neubesetzter Territorien – darauf ließ Baratieri antworten, daß diese Vorschläge weder angenommen noch als Grundlage weiterer Verhandlungen in Betracht kommen könnten. Also Fortsetzung des Krieges. Neue Verstärkungen werden entsendet. Die »Riforma« erklärt, Baratieri habe wohlgetan, die Anträge des Negus abzulehnen; sie verletzten die Würde der Nation.

Statt Baratieri soll ein anderer Generalissimus sich einschiffen, und der Sieg Italiens ist unzweifelhaft. General Baldissera, ein geborener Oesterreicher, der im Jahre 1866 gegen Italien gefochten hatte, wird mit dieser Siegesmission betraut. Da sage man noch, daß es etwas anderes als glühendste Vaterlandsliebe sein könne, was die Schlachtenlenker lenkt! ...

Und Menelik indessen? Ein französischer Arzt, den eine Studienreise in das Kriegslager geführt, schrieb aus Oboch: »Der Negus hat mich in Audienz empfangen ... ist er wirklich traurig oder tut er nur so? Immerhin, er gesteht, über diesen Krieg, der so viel Christenblut gekostet hat und noch kosten wird, zu Tode betrübt zu sein. Man greift ihn an – er verteidigt sich; doch, wenn man ihn zu hart bedrängt und nochmals sich schlagen will, dann – Menelik scheint über den Ausgang des Krieges sicher, ›aber warum so viel Blut?‹«

Warum, o schwarzer Kaiser? Weil die weißen Herren in den Redaktionsstuben es für »Ehrenpflicht« erklären.

In Italien nimmt der Protest der Bevölkerung gegen Fortsetzung des Krieges seinen Fortgang. Aber weil es Republikaner und Sozialisten sind, die für das Aufhören des Feldzuges stimmen, so werden ihre Kundgebungen von Regierungs wegen unterdrückt. Am 29. Februar war ein großes Antiafrikabankett in Mailand geplant, das von der Präfektur verboten wurde. Und tags darauf die Schreckenskunde von der Niederlage in Adua – achttausend Mann gefallen – die übrigen auf der Flucht versprengt – zwei Generale getötet – kurz, eine Katastrophe; wilder Schmerz in Italien und Teilnahme in ganz Europa. Aller Zorn wendet sich gegen Baratieri, daß er solchen Ausfall gewagt.

Von den vielen Berichten über Adua habe ich mir nur ein paar[339] Zeilen aus dem »Corriere della Sera« vom 8. März in mein Tagebuch notiert:


Die Soldaten von Amara, welche grausame Räuber sind, metzelten die italienischen Verwundeten nieder, zerfleischten sie und rissen ihnen die Kleider vom Leibe ...


Ihr Herren von der Presse, die ihr die Fortsetzung des Krieges gefordert, tritt es euch nicht vor das Bewußtsein, daß ihr mitbeteiligt seid an dem Zerfleischen eurer Landesbrüder?!

Nein, sie sahen es nicht; denn sie verlangen, daß das Blut der Gefallenen gerächt werde – nämlich, daß noch ungezählte andere das gleiche Leid erfahren sollen. Die »Opinione« schreibt: »Die Tat Baratieris war die eines Wahnsinnigen; er verschwendete in niederträchtiger Weise achttausend Soldaten und zweihundert Offiziere. Unsere militärische Ehre aber blieb unverletzt. Das verlorene Material wird binnen Monatsfrist ersetzt sein. Unsere Militärmacht bleibt die alte. Das Land begreift dies und ist bereit, das Blut der Gefallenen zu rächen. Die das Gegenteil behaupten, sind eine Handvoll Leute (das sind nämlich die, die gegen den Krieg auftreten – ach, warum sind sie nur eine Handvoll!), Leute ohne Gott und ohne Vaterland. Diese Leute können jedoch nichts Böses tun, denn die Nation ist gegen sie.«

War sie das? ... Eine Depesche vom 9. März besagt: »Die antiafrikanische Bewegung nimmt große Dimensionen an. In Rom, Turin, Mailand, Bologna und Padua sind Damenkomitees tätig, welche Unterschriften zu einer Friedenspetition an das Parlament sammeln. Dieselbe ist von vielen tausend Unterschriften bedeckt.« So handelten die Damen; die Weiber aus dem Volke waren noch energischer. Vor den Eisenbahnwagen, die ihre Männer und Söhne zu dem Einschiffungsplatze führen sollten, warfen sie sich auf die Schienen und verhinderten so tatsächlich den Abgang der Züge.

Sogar in den Kasernen wird gegen die Absendung nach der afrikanischen Schlachtbank protestiert, und große Mengen von Deserteuren fliehen über die Grenzen. Was sich im ganzen Lande abzuspielen beginnt, das ist ein Kampf zwischen der Kriegs- und Friedensidee.

Der König, der oberste Kriegsherr, der soldatisch Erzogene, in soldatischer Tradition Aufgewachsene, sieht nur die Möglichkeit, den Krieg fortzusetzen, einen Sieg zu erringen, die Waffenehre wieder glänzend herzustellen – lieber abdanken, als jetzt Frieden schließen! ... Gerne wollte er Crispi festhalten, aber gegen diesen erhebt sich im ganzen Lande ein Sturm, und – Crispi fällt. Ein neues Ministerium[340] wird gebildet. Rudini – der Name stand auf der Liste der Interparlamentarischen Union – wird Ministerpräsident. Was wird er bei der Kammereröffnung im Namen der Regierung verlangen? Die Crispischen Blätter und die Blätter der Kriegspartei hetzen gegen jeden Friedensgedanken: »Revanche für Adua!« – »Guerra a fondo!« Und wäre man um ein Lustrum jünger, dieser Ruf allein dränge an die Oberfläche. Doch lauter und heftiger erheben sich jetzt die Stimmen, die gegen die Fortsetzung des unheilvollen Krieges protestieren. Die Protestbewegung war organisiert, darum konnte sie wirken. Durch Teodoro Moneta erfuhr ich, was alles in dieser Richtung geschehen. Es war ein Sieg – denn der neue Minister Rudini hat nicht die Fortsetzung des Krieges verlangt ...

Man könnte sagen, daß alles, was ich da erzähle, eigentlich eine politisch-historische Chronik, nicht aber eine Lebensgeschichte sei. Doch – es ist meine Geschichte, denn mit diesen Ereignissen war mein Seelenleben eng verwoben. Mein Denken, mein Arbeiten, meine Korrespondenz, all das war mit jenen Ereignissen des Welttheaters gefüllt. Und daß ich da meist Bekanntes wiederhole, was in allen Zeitungen stand und daher in aller Gedächtnis geblieben ist – das glaube ich auch nicht. Die allgemeine Vergeßlichkeit ist groß. Was der eine Tag bringt, verschlingt der nächste wieder. Ich weiß es ja aus eigener Erfahrung, wie in der Zeit, als ich noch nicht für die Friedenssache lebte, die politischen Ereignisse – und waren es auch gewaltige – spurlos aus meinem Gedächtnis schwanden, wenn sie überhaupt meine Aufmerksamkeit erregt hatten. Jetzt aber trug ich alles in meine Tagebücher ein, was Bezug auf jenen Kampf hatte, der sich zwischen der neuen Idee und den alten Institutionen abspielt – es war dies der rote Faden, den ich in dem Gewebe der Tagesgeschichte verfolgte. Ein Faden, der allen jenen sicherlich ganz entgangen ist, die nicht eigens darauf den Blick gerichtet hielten. Ein Brief meines Freundes Carneri, den er mir während des Italienisch-Afrikanischen Krieges geschrieben, zeigt, daß ich ihm damals heftig das Leid geklagt hatte, das mir jene Tragödie eingeflößt. Der Brief lautete:


Marburg, 5. März 1896.


Meine teure Freundin!


Nicht ärgern, wenn ich meinen Zweck nicht erreiche, der kein anderer ist, als Dich, die der jetzige Zustand der zivilisierten Welt in so schmerzliche Aufregung versetzt, nachhaltig zu beruhigen.

Wir zwei nahmen von Anfang – Du erinnerst Dich wohl noch meiner Sprödigkeit bei der ersten Aufforderung, der[341] Friedensgesellschaft beizutreten, und daß ich weit weniger der Sache wegen, als durch Deinen persönlichen Zauber überwunden, mich ergeben habe – einen verschiedenen Standpunkt ein, und zu dem meinigen, der konsequenterweise auch der Deinige sein sollte, möchte ich Dich herüberziehen.

Wieso konsequenterweise? – hör' ich Dich fragen. Weil Du, gleich mir, zur Entwicklungslehre Dich bekennst. Diese weiß nichts von einem gänzlichen Aufhören des Kampfes und kennt nur eine allmähliche Veredlung der Kampfweise. Sie weiß auch nichts von einem gänzlichen Schwinden der Not – nicht zu verwechseln mit dem Elend der Armut, dem sehr gut gesteuert werden kann –, und es ist vielmehr für sie die Not der mächtigste Antrieb zum Fortschritt. Ein Aufhören aller Not wäre der gänzliche Stillstand, und es ist daher so wenig denkbar als eine Welt von lauter guten Menschen, die ein Widerspruch wäre in sich selbst, wie wenn man den Tag denken wollte ohne die Nacht.

Ich glaube fest an einen Fortschritt; ich erwarte ihn aber nicht als eine allgemeine Besserung der Menschen, sondern als eine allmähliche Veredlung der Guten. Könntest Du Dich mit dieser bescheidenen, aber festbegründeten Lebensanschauung begnügen, so brauchte nichts sich zu ändern in Deiner Friedenstätigkeit, aber Du würdest mit der Ruhe, mit der man allem Unabänderlichen ins Auge zu blicken hat, in die Welt schauen und Dich sicherstellen gegen ebenso schmerzliche als überflüssige Enttäuschungen.

Die Bewegung betreffs möglichst rascher Einsetzung eines allgemeinen Schiedsgerichts ist nun einmal im Gang und muß ihren Gang gehen. Fördere sie wenigstens nicht; denn bleibt sie resultatlos, so ist dies für die Sache des Friedens viel günstiger, als wenn ein solcher Gerichtshof, dem ein Staatenbund vorherzugehen hätte, gründlich Fiasko macht. Das allein Praktische ist es heute, daß die Streitenden sich selbst Schiedsrichter wählen, denen sie vertrauen. Diese Sitte bürgert sich bereits in erfreulichster Weise immer mehr ein, und alles Forcieren kann sie nur gefährden. Immer mehr Menschen für diese Sitte zu gewinnen, ist die segensreichste Aufgabe dieser Friedensvereine, aber alle Friedensvereine der Welt haben noch lange nicht für den Friedensgedanken so viel geleistet als meine Martha allein mit ihrer überwältigenden Erzählung.

Dieses eine hast Du Dir immer gegenwärtig zu halten, und belächelst Du mit mir die Utopien jener, die eine Welt von Engeln für möglich halten, so wirst Du mit meinem Gleichmut die alte Bestie Mensch betrachten, wie sie stets bereit ist, Zündstoff auf Zündstoff zu häufen. Erinnerst Du Dich noch, wie ich vor einem Amerikaner Dich warnte, der uns die Abrüstung empfahl? Die werden noch eines Tages im Verein mit Rußland Europa bedrohen; und es ist meine innerste Ueberzeugung, daß nur die übergroßen Heere, die niemand zu führen und zu[342] verpflegen wüßte, heute den Frieden sichern und den Schiedsrichtern den Weg ebnen.

Die Niederlage der Italiener in Afrika schmerzt mich; aber sie ist eine gesunde Lehre. Als Nachfolger Crispis würde ich keinen Anstand nehmen, offen zu bekennen: Italien hat für einen großen Frevel die verdiente Strafe erhalten; freveln wir nicht weiter, wir haben Besseres zu tun, und Italien würde zujubeln

Deinem Carneri.


Eine Kopie meiner Antwort besitze ich und gebe sie auszugsweise wieder:


Harmannsdorf, 10. März 1896.


Teurer Freund!


Daß Du mich liebhast, dessen ist mir Dein Brief ein neuer Beweis; daß Du keiner von den Unseren bist, das weiß ich ja auch längst – weiß es seit dem Tage, an dem Du gefunden hast, daß es schlecht angewendetes Geld wäre, meinem Lebenswerke den Achtungsbeweis eines Legats zuzuwenden. Du findest mein Werk unnütz – beinahe schädlich –, hast aber dabei die Martha und das Löwos lieb, und wolltest der Martha Schmerz ersparen. Aber, Teurer, wenn ich nicht Schmerz empfände, was wäre dann die Triebkraft meines Handelns? Doch nicht, wie meine Feinde sagen, Eitelkeit? Das glaubst Du sicher nicht. Nein, es ist der Schmerz über das Verharren der Menschen in ihrer Barbarei, was mich durchdringt und was mich zwingt, mein bißchen Tun dem allgemeinen Untun entgegenzustemmen. Würde man nur immer von den nächsten Jahrhunderten abwarten, daß etwas von selber geschehe, so geschähe es nie. Nachdem das Prinzip der Eisenbahnen (auch bestritten genug) gefunden war, mußte man die Lokomotive und Bahnen auch bauen, nicht abwarten, bis ein künftiges Geschlecht zu einer solchen Reiseart reif sei.

... Der aus Angst vor der Verantwortung, also wegen des Uebermaßes der Rüstungen nicht ausbrechende Krieg ist nicht Frieden – denn er ist doppelt prekär –, erstens, weil die Rüstungen an und für sich ein Ruin sind, ein materieller und moralischer, denn sie verbrauchen alle Hilfsmittel, sie versklaven und erniedrigen die Menschen, und sie müssen den Kriegsgeist und die Gewaltanbetung aufrechterhalten, was ja in allen Schulen auch geschieht; zweitens, weil das In-die-Luft-Springen des Pulverfasses der Willkür einiger Leute anheimgestellt bleibt.

... Natürlich kann mit der Abrüstung – besonders eines einzelnen – nicht begonnen werden, aber so wie die ins Unabsehbare steigende Rüstung die Folge des herrschenden Staatsanarchiezustandes ist, so würde die Abrüstung die Folge des Rechtszustandes der Staaten sein.

... Und wenn man uns Evolutionsgläubigen nur nicht[343] immer sagen wollte, daß die Fortschritte der Kultur langsam vor sich gehen, als ob wir das nicht wüßten! – aber darum die Schritte den nächsten Generationen überlassen und selber stille stehen, ist keine richtige Anwendung der Erkenntnis von der Langsamkeit der allgemeinen Fortbewegung; denn wir sollen doch auch wissen, daß dieses winzige Von-der-Stelle-Rücken des Ganzen das Resultat der größten Eile und größten Kraftanspannung der einzelnen Teilchen ist.

... Ja, Du hast recht: dem »Unabänderlichen« sieht man mit Ruhe ins Gesicht und erspart sich schmerzliche Enttäuschungen; aber nicht recht hast Du, hinzuzufügen, daß ich bei solcher Auffassung die gleiche Tätigkeit fortsetzen könnte – denn ich betrachte den jetzigen Zustand eben nicht als unabänderlich, und meine ganze Tätigkeit besteht ja in nichts anderem als in der nach meinen Kräften bescheidenen, aber standhaften Mitarbeit an der »Abänderung«.

Deine Skrupel über die in Gang befindliche Einsetzung eines allgemeinen Schiedsgerichtshofes beruhen auf einer irrtümlichen Auffassung des Planes. Das ist gewöhnlich die Ursache abfälliger Urteile: man glaubt, Herr X habe etwas Unsinniges im Schilde, und hütet sich darum, Herrn X zu fördern. Statt dessen kennt Herr X alle Einwendungen gegen das, was man ihm zumutet, ganz genau, leider kennt »man« aber dasjenige nicht, was er will.

... »Mit Gleichmut die alte Bestie Mensch betrachten, wie sie stets bereit ist, Zündstoff auf Zündstoff zu häufen.« Nein, diesen Gleichmut darf der »junge Gott« im Menschen nicht haben, wenn er über die alte Bestie im Menschen siegen will. Man muß die Zündstoffhäufer, die heute schon in großer Minderzahl, wenn auch noch in der Uebermacht sind, nicht im Wahne lassen, daß ihr Reich unantastbar ist, und übrigens:


Jedem die Hälfte vom Unrecht gebührt,

Der, um es zu hindern, die Hand nicht rührt.


Was uns zwei trennt, ist der Glaube. Glaubtest Du wie ich an die Möglichkeit des Erfolges, Du littest geradeso schmerzlich wie ich über das Nichtstun der Mitwelt, würdest aber selber tun und fändest den eigenen Schmerz und Kummer einen geringen Preis für den winkenden Lohn; nebenbei hättest Du noch die Freuden, die mich oft bewegen, wenn ich sehe, wie das Werk im Gange ist, wie dort und da immer zahlreicher und immer entschiedener diejenigen auftreten, die die Verwirklichung des von den meisten schon theoretisch Zugegebenen fordern.

Möge unser Glaubensunterschied in Friedenssachen in nichts unsere alte Freundschaft vergällen, aber versuche nicht mehr, mich von meinem Kummer zu befreien – es ist vergebens. Lindern kann ihn nur der, der ihn teilt und der mir im Kampfe hilft. Aber hilft – nicht »durch persönlichen Zauber überwunden«,[344] sondern weil er an die Möglichkeit, an die Notwendigkeit dieses Kampfes glaubt.

B. S.


Der politischen Leiden und Freuden hatte ich um diese Zeit noch mehr. Die Armenierverfolgungen in der Türkei nahmen immer ärgere Dimensionen an. In ihrer Bedrängnis setzten die balkanischen Völkerschaften ihre Hoffnung auf die Friedensgesellschaften. Eines Tages überraschte mich folgende Depesche aus Rustschuk:


28. Juni.


Bertha von Suttner, Wien.


Das Meeting von mehr als zweitausend Personen, das heute stattgefunden, um den Wunsch auszudrücken, daß der 23. Artikel des Berliner Vertrages in der Türkei verwirklicht werde, beschloß im Namen der Freiheit aller Völker der Türkei und zum Aufhören des fortwährenden Blutvergießens und zur Verhinderung eines möglichen europäischen Krieges, Sie zu bitten, den Friedensbund dazu zu gewinnen, daß derselbe bei den europäischen Regierungen die Verwirklichung des Art. 23 des Berliner Vertrages befürworten möge.

Das makedonische Komitee für die Freiheit der

Europäischen Türkei in Rustschuk: Koptschew.


Der Aufstand der unglücklichen Kubaner und die drakonische Art der von den Spaniern versuchten Unterdrückung dieses Aufstands war ein wahrer Paroxysmus des Gewaltsystems. Der von den Kubanern wegen seiner Grausamkeiten tödlich gehaßte General Weyler wird als Gouverneur hingesandt. Bei seiner Ankunft erließ er eine Proklamation. Das nette Schriftstück ist »schneidig«, das muß man ihm lassen:


Todesstrafe auf Verbreitung von direkten oder indirekten günstigen Nachrichten des Aufstandes; Todesstrafe auf Beihilfe bei Einschmuggelung von Waffen oder Nichtverhinderung derselben; Todesstrafe für den Telegraphisten, der Kriegsnachrichten dritten Personen mitteilt; Todesstrafe dem, der mündlich oder gedruckt oder sonst irgendwie Spaniens Prestige herabsetzt; Todesstrafe dem, der Günstiges über die Rebellen äußert u.s.w. – diese Strafen verhängt durch ein Kriegsgericht ohne Appell und dessen Befehle sofort vollstreckbar.


Darüber in den Vereinigten Staaten Entrüstung über die spanische Diktatur.

Und nun die im Tagebuch verzeichneten Freuden:

»Etwas Großes hat sich ereignet: Ein Professor in Würzburg – sein Name ist in aller Mund –, Professor Röntgen, entdeckte[345] das Mittel, Unsichtbares durch unsichtbares Licht zu photographieren. O du wunderbare Zauberwelt! Welch herrliche Ueberraschungen hältst du noch für uns bereit? Unsichtbare Strahlen, die das Verborgene enthüllen – ganz neue Horizonte sind es, die sich da eröffnen. So bereichert die Wissenschaft die Welt, ohne irgendwie Verarmung oder Vernichtung verursacht zu haben. Die ist die wahre Mehrerin des Reichs – ein Gegensatz zum Schwert, das den einen nur um das bereichert, das er dem anderen – verstümmelt noch dazu – entrissen hat.«

Und eine andere Freude hatte ich an dem Fortgang des englischamerikanischen Schiedsgerichtsvertrages (zur Beilegung aller Streitfälle – nichts von den Einschränkungen, die spätere Verträge aufwiesen). Abgeschlossen und ratifiziert war er noch nicht, aber die Aktionen wurden auf beiden Seiten des Ozeans mächtig betrieben. Die Herausgeber von »Review of Reviews« (W. T. Stead) und »Daily Chronicle« veranstalteten, im Verein mit den englischen Pazifisten, Enqueten, Versammlungen, Kundgebungen, Petitionen, kurz, eine Volksbewegung, in welche die hervorragenden Männer der Zeit hineingerissen und veranlaßt wurden, zu handeln. Zu der sechstausend Menschen umfassenden Versammlung in Queen's Hall (3. März) laufen von Gladstone, Balfour, Rosebery, Herbert Spencer u.a. zustimmende Briefe ein. Die Resolution dieser Versammlung wurde von ihrem Vorsitzenden Sir J. Stansfeld, früherem Minister und Freund Lord Salisburys, diesem offiziell unterbreitet, worauf der Premier antwortete, daß die Sache die Zustimmung der Regierung habe.

Am Ostersonntag erließen drei englische Kirchenfürsten ein Manifest an die Bevölkerung. Der Herausgeber wendet sich direkt an Kardinal Rampolla, und dieser antwortet mit einer Zustimmung des Papstes.

Jenseits des Ozeans dieselbe Bewegung zugunsten des Vertrags. Für den 22. und 23. April ist nach Washington ein Nationalkonvent einberufen zu dem gleichen Zwecke, und die Einberufer sind Staatsmänner, Bischöfe, Richter, Gouverneure. Präsident Cleveland ist, wie man weiß, von gleichen Wünschen erfüllt – kurz, es läßt sich mit Zuversicht der Abschluß des Vertrags als unmittelbar bevorstehend annehmen. Und damit wäre eine neue Epoche der Kulturgeschichte eingeweiht.

Nun ereilte der Tod den gewesenen französischen Ministerpräsidenten, an dem unsere Bewegung eine solche Stütze hatte: Jules Simon. Mein Freund Frédéric Passy fühlte sich durch diesen Verlust[346] besonders hart getroffen. Bekanntlich hatte sich Jules Simon auch die Sympathien Kaiser Wilhelms II. zu gewinnen gewußt.

Ich besitze einen Brief des berühmten Staatsmannes und Philosophen, aus welchem so recht klar hervorgeht, wie überzeugt und leidenschaftlich er die Kriegsinstitution bekämpfte. Ich hatte ihn gebeten gehabt, zu einer Festversammlung unseres Vereins nach Wien zu kommen, und darauf folgende Antwort erhalten:


Sénat, Paris, le 24 mai 1892.


Madame,


Vous voulez bien me demander si je me rendrai à l'assemblée de Vienne. Hélas! non, et j'en suis bien désolé. J'ai accepté toutes sortes de besognes qui mangent ma vie sans trop de profit pour les causes que je sers. On s'engage étourdiment, et l'on découvre le lendemain que si on n'avait pas aliéné sa liberté, on pourrait faire un meilleur usage de son activité.

Je ne pourrais rien faire qui fût plus conforme à mes idées et à mes goûts, s'il est permis de parler de ses inclinations quand c'est d'un devoir qu'il s'agit; non, je ne pourrais rien faire qui me satisfît davantage, que d'aller à Vienne, combattre derrière vous, Madame, et derrière vos amis contre cette éternelle guerre, dont nous souffrons en pleine paix, et qui devient pour le genre humain une maladie endémique. Je sais très bien que je ne dirais rien qui n'ait été dit et qui ne doive être répété encore cette fois. Je ne rougis pas pour notre cause de son ancienneté, ni de l'obligation où se trouvent ses défenseurs de répéter sans cesse les mêmes arguments et les mêmes doléances. C'est comme une litanie catholique que répète sans cesse les mêmes mots sur la même musique, et qui, dans sa monotonie n'en est pas moins une prière énergique et passionnée. J'aurais voulu mêler ma voix dans ce choeur aux milliers de voix qui s'élevera pour réclamer contre les assassinats collectifs, contre les tueries officielles, contre l'engloutissement des vies humaines et de l'argent dans ce gouffre horrible. Ne pouvant aller crier là-bas, je me soulage un peu, Madame, en vous envoyant ma plainte; et permettez-moi d'y joindre toute mon admiration pour ce que vous faites et l'hommage de mon respect.

Jules Simon.[347]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 336-348.
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