60. Aufmunterung zum Kinderleben

[465] Eigene Melodie


1.

Kommt, laßt uns Kinder werden,

Einfältig, klein und rein,

Von allem Trost der Erden

In Gott gekehret sein;

Des Vaters Wink und Zügen

Aufmerken und vergnügen

Und, wie die Kindlein tun,

In seinem Schoße ruhn!
[465]

2.

Kommt, Kinder, gebt das Herze

Dem lieben Vater ganz,

Es bleibt die Not und Schmerze,

Behält und teilet man's!

Ganz, ganz muß man sich geben,

Wer frei und froh will leben;

Ein willenloses Kind

In Einem alles find't.


3.

Zwar sind wir arme Sünder,

Doch lebt ein Jesuskind,

Dem woll'n wir uns als Kinder

Hingeben, wie wir sind,

Dem woll'n wir uns vertrauen

Und auf uns selbst nicht schauen;

Es sterbe die Natur,

Es lebe Jesus nur!


4.

Entweicht, Vernunft und Sinnen!

Wir sind nicht von der Welt;

Bei Gott im Herzen drinnen

Ist alles, was uns fehlt.

Weg, weg, vermengtes Wesen

Und was Natur erlesen!

In allem ohne Schein

Das Auge Gott nur mein'!


5.

Wer eingesunken lebet,

Den blend't kein eitler Dunst,

Wer kindlich Gott anklebet,[466]

Der lernt die Sterbenskunst;

Aus Liebe lass'n und meiden,

Aus Liebe tun und leiden

Dem Vater zum Pläsier –

Wie selig leben wir!


6.

Es mag, was will, begegnen,

Man bleib' nur Gott gemein;

Sollt's Kreuz und Trübsal regnen,

Man lass' es nicht hinein!

Die Welt mag traurig leben,

Wir, die uns ganz ergeben

Dem Vater zum Pläsier –

Wie selig leben wir!


7.

Kommt, laßt uns Kinder werden,

Die ganz des Vaters sei'n

Und, lieb'n wir nichts auf Erden,

Einander lieben rein!

Vernunft und Welt mag lachen,

Natur und Abgrund krachen,

Wir trösten uns der Pein

Und wollen Kinder sein.


Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 465-467.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geistliches Blumengärtlein
Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen; Oder kurtze Schluß-Reimen, Betrachtungen und Lieder uber allerhand Warheiten des Inwendigen Christenthums ...: [Reprint of the Original from 1735]

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon