Erstes Kapitel

[754] Franz Sternbald war über Aschaffenburg und dem alten Mainz den schönen Rhein hinunter nach den Niederlanden gereiset. Allenthalben hatte er die Denkmale deutscher und niederländischer Kunst aufgesucht und mit Teilnahme und Bewunderung betrachtet. Vor allen war er erstaunt über die alten Werke des Johann van Eyck, der schon vor langer Zeit die Kunst in Öl zu malen erfunden und verbreitet hatte, dann zogen ihn die gleichzeitigen Meister an, wie die Werke des Lukas von Leyden, Engelbrecht und Johann von Mabuse. Er fühlte in allen die Verwandtschaft zu Dürers Kunstweise, obgleich sich ihm viele Betrachtungen über die Art aufdrängten, wie jeder Künstler den Gegenstand, den menschlichen Körper oder die Natur betrachtete.

Es war gegen Mittag, als er auf dem freien Felde unter einem mächtigen Baume saß, und die große Stadt Leiden betrachtete die vor ihm lag. Er war an diesem Tage schon sehr früh ausgewandert, um sie noch zeitig zu erreichen; jetzt ruhte er aus, die Sonne des Spätherbstes schien warm, er betrachtete das Bild der Stadt nachsinnend, die sich mit ihren Türmen vor ihm verbreitete.

Er hielt seine Schreibtafel in der Hand, und neben ihm im Grase lag die fremde gefundene. Er hatte den Umriß eines Kopfes entworfen, den er eben wieder ausstrich, weil er keine Ähnlichkeit hervorbringen konnte; es sollte das Gesicht der Fremden vorstellen, welche wachend und träumend seine Phantasie beschäftigte. Er rief sich jeden Umstand, jedes Wort, das sie gesprochen hatte, in die Gedanken zurück, er sah alle die lieblichen Mienen, den süßlächelnden Mund, die unaussprechliche Anmut jeder Bewegung, alles zog wieder durch sein Gedächtnis, und er fühlte sich darüber so entfremdet, so entfernt von ihr, so auf ewig geschieden, daß ihm der helle Tag, das funkelnde Gras, die klaren Wasser trübselig und melancholisch wurden, ihm blühten und dufteten nur die wenigen verwelkten Blumen, die er mit süßer Zärtlichkeit betrachtete; dann lehnte er sich an den Stamm des Baums, der mit seinen Zweigen und Blättern über ihm lispelte, als wenn er ihm Trost zusprechen möchte, als wenn er ihm dunkle Prophezeiungen von der Zukunft sagen wollte. Franz[754] hörte aufmerksam hin, als wenn er die Töne verstände; denn die Natur scheint uns mit ihren Klängen zwar in einer fremden Sprache anzureden, aber wir ahnden doch die Bedeutsamkeit ihrer Worte, und merken gern auf ihre wunderbaren Akzente.

Er hörte auf zu zeichnen, da ihm keiner seiner Striche Ausdruck und Würde genug hatte, er betrachtete wieder die Türme der Stadt, auf deren Schieferdächern die Sonne hell glänzte. »So werde ich jetzt deine Straßen betreten«, sagte er zu sich selber, »so werde ich den berühmten Lukas sehn dürfen, von dem mir Albrecht Dürer mit so vieler Liebe gesprochen hat, der schon als Kind ein Künstler war, dessen Namen man schon in seinem sechszehnten Jahre kannte. Ich werde ihn sprechen hören und von ihm lernen, ich werde seine neuesten Werke sehn, ich werde ihm sagen können, wie ich ihn bewundre!«

Bald über das Bildnis der Fremden, bald über Gemälde sinnend, indes in der feierlichen Stille des Mittags die Bäume nur zuweilen rauschten, überraschte ihn in der Ermüdung der heutigen starken Tagereise ein süßer Schlummer. Ein ferner Bach murmelte ihm mit einförmig wiederkehrendem Plätschern ein Schlaflied. Er hörte alles noch leise in seinen Schlummer hinein, und ihm dünkte, als wenn er über eine Wiese ginge, auf welcher fremde Blumen standen, die er bis dahin noch niemals gesehn hatte. Unter den Blumen waren auch die Feldblumen gewachsen, die er bei sich trug, aber sie waren nun wieder frisch geworden, und verdunkelten an Farbe und Glanz alle übrigen. Franz betrachtete sie mit Gram, so schön sie auch waren, er wollte sie wieder pflücken, als er am Ende der Wiese, in einer Laube sitzend, seinen Lehrer Albert Dürer wahrnahm, der nach ihm hinsah und ihm zu winken schien. Er ging schnell hinzu, und als er näher kam, bemerkte er deutlich, daß Albrecht emsig an einem Gemälde arbeitete: es war der Kopf der Fremden, das Gesicht war zum Sprechen ähnlich. Franz wußte nicht, was er dem Meister sagen sollte, seine Augen waren auf das Gemälde hingeheftet, und es war ihm, als wenn es über seine Verlegenheit und Aufmerksamkeit mit süßer Schalkheit zu lächeln anfinge. Indem er noch darüber sann, war er in einem dunkeln Walde und alles übrige verschwunden; liebliche Stimmen riefen seinen Namen, aber er konnte sich aus dem Gebüsche nicht herausfinden, der Wald ward immer grüner und dunkler, doch Sebastians Stimme und der Ton der Fremden wurden immer deutlicher, sie riefen ihn ängstlich, als wenn irgendeine Gefahr ihm bevorstände. Da überfiel ihn Grauen, und die dichten Bäume und Gebüsche[755] umher erschienen ihm entsetzlich, er zagte weiterzugehn, er wünschte, das helle freie Feld wieder anzutreffen. Plötzlich war es Mondschein. Wie vom holden Schimmer erregt, klang von allen silbernen Wipfeln ein süßes Getöne nieder; da war alle Furcht verschwunden: der Wald brannte sanft im schönsten Glanze, und Nachtigallen wurden wach und flogen dicht an ihm vorüber, dann sangen sie mit süßer Kehle, und blieben immer im Takte mit der Musik des Mondscheins. Franz fühlte sein Herz geöffnet, als er in einer Klause im Felsen einen Waldbruder wahrnahm, der andächtig die Augen zum Himmel aufhob und die Hände faltete. Franz trat näher: »Hörst du nicht die liebliche Orgel der Natur spielen?« sagte der Einsiedel, »bete, so wie ich.« Franz war von dem Anblicke hingerissen, aber er sah nun Tafel und Palette vor sich und malte unbemerkt den Eremiten, seine Andacht, den Wald mit seinem Mondschimmer, ja es gelang ihm sogar, und er konnte nicht begreifen wie, die Töne der Nachtigall in sein Gemälde hineinzubringen. Er hatte noch nie eine solche Freude empfunden, und er nahm sich vor, wenn das Bild fertig sei, sogleich damit zu Dürer zurückzureisen, damit dieser es sehn und beurteilen möge. Aber im Augenblicke verließ ihn die Lust, weiterzumalen, die Farben erloschen unter seinen Fingern, ein Frost überfiel ihn, und er wünschte den Wald zu verlassen.

Franz erwachte mit einer unangenehmen Empfindung; es war einer der letzten warmen Tage im Herbst gewesen, jetzt ging die Sonne in dunkelroten Wolken hinter der Stadt unter, und ein kalter Herbstwind strich über die Wiese. Er schüttelte sich in fieberhafter Stimmung, und sah mit einer gewissen Bangigkeit zum Himmel auf, denn ungeheure, kupferrote Wolken, von Violett und dunklem Blau durchzogen, glänzten hinter der untergegangenen Sonne. Im blutigen Widerschein wollte ihm die Stadt selbst, die im Mittagsglanze so anlockend vor ihm lag, wie eine furchtbare klippenvolle Einöde bedünken. Er schritt vorwärts und hatte das Gefühl, als ob ein großes Unglück seiner wartete. Plötzlich stand er mit einem lauten Ausruf erschreckend still. Er vermißte die fremde Brieftasche und erinnerte sich deutlich, daß er sie im Grase zurückgelassen haben müsse. Zitternd eilte er zurück. Konnte er sie auch wiederentdecken? Mochte nicht ein fremder Wanderer, ein Arbeiter auf dem Felde den glänzenden Fund indessen schon aufgerafft haben? Er kam dem großen Baume näher, vor Anstrengung zu sehen war er geblendet, wie ein wilder Zauberwald erschien ihm das demütige Gras, das neidisch[756] seinen Schatz verborgen hielt. Da leuchtete ihm die goldne Einfassung wie mit Lächeln entgegen, er bückte sich und kniete nieder, und drückte das liebe Büchelchen an Mund, Herz und Augen. War es ihm doch, als hätte er die holdselige unbekannte Gestalt selbst wieder getroffen, der Wunderglaube seiner Liebe hielt dieses Wiederfinden für eine glückliche Vorbedeutung, daß auch die schöne Besitzerin ihm nicht auf immer verborgen bleiben werde.

Er ging nach der Stadt. Das Gedränge am Tore war groß, denn jedermann eilte nun aus den Feldern und von den benachbarten Dörfern zur Stadt zurück, er beobachtete die mannigfaltigen Gesichter: der Mond stand am hellen Himmel, und schien auf die Dächer der Kirchen und auf die freien Plätze; endlich kehrte er in eine Herberge ein.

Franz fühlte sich müde und ging bald zur Ruhe, aber er konnte lange nicht einschlafen. Die Scheibe des Mondes stand seinem Kammerfenster gerade gegenüber, er betrachtete ihn mit sehnsüchtigen Augen, er suchte auf dem glänzenden Runde und in den Flecken Berge und Wälder, wunderbare Schlösser und zauberische Gärten voll fremder Blumen und duftender Bäume; er glaubte Seen mit glänzenden Schwänen und ziehenden Schiffen wahrzunehmen, einen Kahn, der ihn und die Geliebte trug, und umher reizende Meerweiber, die auf krummen Muscheln Lieder bliesen und Wasserblumen in die Barke hineinreichten. »Ach! dort! dort!« rief er aus, »ist vielleicht die Heimat aller Sehnsucht, aller Wünsche: darum fällt auch wohl so süße Schwermut, so sanftes Entzücken auf uns herab, wenn das stille Licht voll und golden den Himmel heraufschwebt, und seinen silbernen Glanz auf uns herniedergießt. Ja, er erwartet uns, er bereitet uns unser Glück, und darum sein wehmütiges Herunterblicken, daß wir noch in dieser Dämmerung der Erde verharren müssen.«

Er verschloß sein Auge, um zu träumen; da erschien ihm die Fremde mit allen ihren Reizen, sie winkte ihm, und vor ihm lag ein schöner dunkler Lindengang, welcher blühte und den süßesten Duft verbreitete. Sie ging hinein, er folgte ihr schüchtern, er gab ihr die Blumen zurück, und erzählte ihr wer er sei. Da umfing sie ihn mit ihren zarten Armen, da kam der Mond mit seinem Glanze näher, und schien ihnen beiden hell ins Angesicht, sie gestanden sich ihre Liebe, sie waren unaussprechlich glücklich. – Diesen Traum setzte Franz fort, die frühsten Erinnerungen aus seinen Kinderjahren kamen zurück, alle schönen Empfindungen,[757] die er einst gekannt hatte, zogen wieder an ihm vorüber und begrüßten ihn. So ist der Schlaf oft ein Ausruhen in einer schöneren Welt; wenn die Seele sich von diesem Schauplatz hinwegwendet, so eilt sie nach jenem unbekannten magischen, auf welchem liebliche Lichter spielen und kein Leiden erscheinen darf: dann dehnt der Geist seine großen Flügel auseinander, und fühlt seine himmlische Freiheit, die Unbegrenztheit, die ihn nirgend beengt und quält. Beim Erwachen sehn wir oft zu voreilig mit Verachtung auf dieses schönere Dasein hin, weil wir unsre Träume nicht in unser Tagesleben hineinweben können, weil sie nicht da fortfahren, wo unsre Menschentätigkeit am Abend aufhörte, sondern ihre eigne Bahn wandelten.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 754-758.
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