Fünftes Kapitel

[787] Der Morgen kam. Franz hatte eine Gesellschaft gefunden, die auf dem Kanal mit einem Schiffe nach Rotterdam fahren wollte, dort wollten sie dann ein größeres nehmen, um vollends nach Antwerpen zu kommen.

Es war helles Wetter, als sie in das Boot stiegen; die Gesellschaft schien bei guter Laune. Franz betrachtete sie nach der Reihe, und keiner darunter fiel ihm besonders auf, außer ein junger Mensch, der einige zwanzig Jahr alt zu sein schien, und ungemein schön von Gesicht und sehr anmutig in seinen Gebärden war. Franz fühlte sich immer mehr zu den jüngern als zu den ältern Leuten hingezogen; er sprach mit den letztern ungern, weil er nur selten in ihre Empfindungen einstimmen konnte. Bei alten Leuten empfand er seine Beschränkung noch quälender, und er merkte es immer, daß er ihnen zu lebhaft, zu jugendlich war, daß er sich gemeiniglich an Dingen entzückte, die jenen immer fremd geblieben, und daß sie doch zuweilen mit einem gewissen Mitleiden, mit einer hoffärtigen Duldung auf ihn hinabblickten, als wenn er endlich allen diesen Gefühlen und Stürmen vorüberschiffen würde, um in ihr ruhiges kaltes Land festen Fuß zu fassen. Vollends demütigte es ihn oft, wenn sie dieselben Gegenstände liebten, die er verehrte; Lob und Tadel, Anpreisung und Nachsicht aber mit so scheinbarer Gerechtigkeit austeilten, daß von ihrer Liebe fast nichts übrigblieb. Er dagegen war gewohnt aus vollem Herzen zu zahlen, seine Liebe nicht zu messen und einzuschränken, sondern es zu dulden, daß sie sich in vollen Strömen durch das Land der Kunst, sein Land der Verheißung ergoß; je mehr er liebte, je wohler ward ihm. – Er konnte sein Auge von dem Jünglinge nicht zurückziehn, die lustigen hellen braunen Augen und das gelockte Haar, eine freie Stirn, und dazu eine bunte, fremdartige Tracht machten ihn zum Gegenstand seiner Neugier.

Das Schiff fuhr fort, und man sah links weit in das ebene Land hinein. Die Gesellschaft schien nachdenkend, oder vielleicht müde, weil sie alle früh aufgestanden waren; nur der Jüngling schaute unbefangen mit seinen großen Augen umher.[787] Ein ältlicher Mann zog ein Buch hervor und fing an zu lesen; doch es währte nicht lange, so schlummerte er. Die übrigen schienen ein Gespräch zu wünschen.

»Der Herr Vansen schläft«, sagte der eine zu seinem Nachbar, »das Lesen ist ihm nicht bekommen.«

»Er schläft nicht so, Nachbar Peters, daß er Euch nicht hören sollte«, sagte Vansen, indem er sich ermunterte. »Ihr solltet nur etwas erzählen, oder ein lustiges Lied singen.«

»Ich bin heiser«, sagte jener, »Ihr wißt es selber; auch hab ich eigentlich seit Jahr und Tag das Singen schon aufgegeben.«

Der fremde Jüngling sagte: »Ich will mich wohl anbieten, ein Lied zu singen, wenn ich nur wüßte, daß die Herren es mit der Poesie nicht so genau nehmen wollen.«

Sie versicherten ihn alle, daß es nicht geschehn würde, und jener sprach weiter: »Es ist auch nur, daß man sich das bißchen Freude verbittert; alle Lieder, die ich gern singe, müssen sich hübsch geradezu, und ohne Umschweife ausdrücken. Ich will also mit eurer Erlaubnis anfangen.


Über Reisen kein Vergnügen,

Wenn Gesundheit mit uns geht:

Hinter uns die Städte liegen,

Berg und Waldung vor mir steht.

Jenseit, jenseit, ist der Himmel heiter,

Treibt mich rege Sehnsucht weiter.


Schau dich um, und laß die trüben Blicke,

Sieh, da liegt die große weite Welt,

In der Stadt blieb alles Graun zurücke,

Das den Sinn gefangenhält.

Endlich wieder Himmel, grüne Flur,

Groß und lieblich die Natur.


Auch ein Mädchen muß dich nimmer quälen,

Kömmst ja doch zu Menschen wieder hin,

Nirgend wird es dir an Liebe fehlen,

Ist dir Lieben ein Gewinn:

Darum laß die trüben Blicke,

Allenthalben blüht dein Glücke.


Immer munter, Freunde, munter,

Denn mein Mädchen wartet schon;[788]

Treibt den Fluß nur rasch hinunter,

Denn mich dünkt, mich lockt ihr Ton.

Günstig sind uns alle Winde,

Stürme schweigen, Lüfte säuseln linde.


Siehst du die Sonne nicht

Glänzen im Bach?

Wo du bist, spielt das Licht

Freundlich dir nach.


Durch den Wald Funkelschein,

Sieht in den Quell;

Kuckt in die Flut hinein,

Lacht drum so hell.


So auch der Liebe Licht

Wandelt mit dir,

Löschet wohl nimmer nicht.

Ist dorten bald hier.


Liebst du die Morgenpracht,

Wenn nach der schwarzen Nacht

Auf diamantner Bahn

Die Sonne ihren Weg begann?


Wenn alle Vögel jubeln laut,

Begrüßen fröhlich des Tages Braut,

Wenn Wolken sich zu Füßen schmiegen,

In Brand und goldnem Feuer fliegen?


Auch wenn die Sonne nun den Wagen lenkt,

Und hinter ihr das Morgenrot erbleicht,

Lust, Heiterkeit durch alle Welt hin fleugt,

Bis sich zum Meer die Göttin senkt.


Und dann funkeln neue Schimmer

Über See und über Land,

Erd und Himmel im Geflimmer

Sich zu einem Glanz verband.


Prächtig mit Rubinen und Saphiren,

Siehst du dann den Abendhimmel prangen,[789]

Goldenes Geschmeide um ihn hangen,

Edelsteine Hals und Nacken zieren,

Und in holder Glut die schönen Wangen.

Drängt sich nicht mit stillem Licht der Chor

Aller Sterne, ihn zu sehen, vor?

Jubeln nicht die Lerchen ihre Lieder,

Tönt nicht Fels und Meer Gesänge wider? –


Also wenn die erste Liebe dir entschwunden,

Mußt du weibisch nicht verzagen,

Sondern dreist dein Glücke wagen,

Bald hast du die zweite aufgefunden,

Und kannst du im Rausche dann noch klagen:

›Nie empfand ich was ich vor empfunden?‹


Nie vergißt der Frühling wiederzukommen,

Wenn Störche ziehn, wenn Schwalben auf der Wiese sind.

Kaum ist dem Winter die Herrschaft genommen,

So erwacht und lächelt das goldene Kind.


Dann sucht er sein Spielzeug wieder zusammen,

Das der alte Winter verlegt und verstört,

Er putzt den Wald mit grünen Flammen,

Der Nachtigall er die Lieder lehrt.


Er rührt den Obstbaum mit rötlicher Hand,

Er klettert hinauf die Aprikosen-Wand,

Wie Schnee die Blüte rot unter die Blätter dringt,

Er schüttelt froh das Köpfchen, daß ihm die Arbeit gelingt.


Dann geht er und schläft im waldigen Grund,

Und haucht den Atem aus, den süßen,

Um seinen zarten roten Mund

Im Grase Viol' und Erdbeer sprießen:

Wie rötlich und bläulich lacht

Das Tal, wann er erwacht!


In den verschloßnen Garten

Steigt er übers Gitter in Eil,

Mag auf den Schlüssel nicht warten,

Ihm ist keine Wand zu steil.
[790]

Er räumt den Schnee aus dem Wege,

Er schneidet das Buchsbaumgehege,

Und friert auch am Abend nicht,

Er schaufelt und arbeitet im Mondenlicht.


Dann ruft er: ›Wo säumen die Spielkameraden

Daß sie so lange in der Erde bleiben?

Ich habe sie alle eingeladen,

Mit ihnen die fröhliche Zeit zu vertreiben.‹


Die Lilie kommt und reicht die weißen Finger,

Die Tulpe steht mit dickem Kopfputz da,

Die Rose tritt bescheiden nah,

Aurikelchen und alle Blumen, vornehm und geringer.


Der bunte Teppich ist nun gestickt,

Die Liebe tritt aus Jasminlauben hervor.

Da danken die Menschen, da jauchzet der Vögel ganzes Chor,

Denn alle fühlen sich beglückt.


Dann küßt der Frühling die zarten Blumenwangen,

Und scheidet und spricht: ›Ich muß nun gehn.‹

Da sterben sie alle am süßen Verlangen,

Daß sie mit welken Häuptern stehn.


Der Frühling spricht: ›Vollendet ist mein Tun,

Ich habe schon die Schwalben herbestellt.

Sie tragen mich in eine andre Welt,

Ich will in Indiens duftenden Gefilden ruhn.


Ich bin zu klein, das Obst zu pflücken,

Den Stock der schweren Traube zu entkleiden,

Mit der Sense das goldene Korn zu schneiden,

Dazu will ich den Herbst euch schicken.


Ich liebe das Spielen, bin nur ein Kind,

Und nicht zur ernsten Arbeit gesinnt.

Doch seid ihr satt der Winterleiden,

Komm ich zurück zu andern Freuden,

Die Blumen, die Vögel nehm ich mit mir,

Wenn ihr erntet und keltert, was sollen sie hier?

Ade! Ade! ist die Liebe nur da,

So bleibt euch der Frühling ewiglich nah!‹«
[791]

»Ihr habt das Lied sehr schön gesungen«, sagte Vansen, »aber es ist wahr, daß man es mit dem Texte nicht so genau nehmen muß, denn das letzte hängt gar nicht mit dem ersten zusammen.«

»Ihr habt sehr recht«, sagte der Fremde, »indessen Ihr kennt das Sprichwort: Ein Schelm gibt's besser, als er es hat.«

»Ich habe einen guten und schönen Zusammenhang darin gefunden«, sagte Franz. »Der Hauptgedanke ist der fröhliche Anblick der Welt, das Lied will uns von trüben Gedanken und Melancholie abziehen, und so kömmt es von einer Vorstellung auf die andre. Zwar ist nicht der Zusammenhang einer Rede darin, aber es wandelt gerade so fort, wie sich unsre Gedanken in einer schönen heitern Stunde bilden.«

»Ihr seid wohl selber ein Poet?« rief der Fremde aus.

Franz errötete und sagte, daß er ein Maler sei, der vor jetzt nach Antwerpen, und dann nach Italien zu gehen gesonnen sei.

»Ein Maler?« schrie Vansen auf, indem er Sternbald genau betrachtete. »O so gebt mir Eure Hand! dann müssen wir näher miteinander bekannt werden!«

Franz war in Verlegenheit, er wußte nichts zu erwidern; der Niederländer fuhr fort: »Vor allen Künsten in der Welt ergötzt mich immer die Kunst der Malerei am meisten, und ich begreife nicht, wie viele Menschen so kalt dagegen sein können. Denn was ist Poesie und Musik, die so flüchtig vorüberrauschen, und uns kaum anrühren? Jetzt vernehme ich die Töne, und dann sind sie vergessen – sie waren und waren auch nicht; Klänge, Worte, von denen ich niemals recht weiß, was sie mir sollen; sie sind nur Spielwerk, das ein jeder anders handhabt. Dagegen verstehn es die edlen Malerkünstler, mir Sachen und Personen unmittelbar vor die Augen zu stellen, mit ihren freundlichen Farben, mit aller Wirklichkeit und Lebendigkeit, so daß das Auge, der klügste und edelste Sinn des Menschen, gleich ohne Verzögern alles auffaßt und versteht. Je öfter ich die Figuren wiedersehe, je bekannter sind sie mir, ja ich kann sagen, daß sie meine Freunde werden, daß sie für mich ebensogut leben und da sind, als die übrigen Menschen. Darum liebe ich die Maler so ungemein, denn sie sind gleichsam Schöpfer, und können schaffen und darstellen, was ihnen gelüstet.«

Von diesem Augenblicke bemühte sich Vansen sehr um Sternbald; dieser nannte ihm seinen Namen, und ward von jenem dringend gebeten, ihn in Antwerpen in seinem Hause zu besuchen und etwas für ihn zu malen. Auf der fortgesetzten Reise[792] geriet Franz mit dem unbekannten Jünglinge in ein näheres Gespräch, und erfuhr von ihm, daß er sich Rudolph Florestan nenne, daß er aus Italien sei, jetzt England besucht habe, und nach seiner Heimat zurückzukehren denke. Die Jünglinge beschlossen, die Reise in Gesellschaft zu machen, denn sie fühlten beide einen Zug der Freundschaft zueinander, der sie schnell vereinigte. »Wir wollen recht vergnügt mitsammen sein«, sagte Rudolph; »ich bin schon mehr als einmal in Deutschland gewesen, und habe lange unter Euren Landsleuten gelebt, ich bin selbst ein halber Deutscher und liebe Eure Nation.«

Franz war erfreut, diese Bekanntschaft gemacht zu haben. Er äußerte seine Verwunderung, daß Rudolph in so früher Jugend schon von der Welt so viel gesehn habe. »Das muß Euch nicht erstaunen«, sagte jener, »mein unruhiger Geist treibt mich immer umher, und wenn ich eine Weile still in meiner Heimat gesessen habe, muß ich wieder reisen, wenn ich nicht krank werden will. Wenn ich auf der Reise bin, geschieht es mir wohl, daß ich mich nach meinem Hause sehne, und mir vornehme, nie wieder in der Ferne herumzustreifen; indessen dauern dergleichen Vorsätze nie mals lange, ich darf nur von fremden Ländern hören oder lesen, gleich ist die alte Lust in mir wieder aufgewacht. So bin ich auch schon Spanien durchstreift, ich habe Valencia und das wundersame Granada gesehn, mit seinem herrlichen Schlosse, den fremden, seltsamen Sitten und Trachten, ich habe die Luft der elysischen Gefilde von Malaga eingeatmet, und kenne den Manserrate mit seinen Klöstern und grünbewachsenen Klippen.«

Ein großer Teil der Gesellschaft kam jetzt darauf, man solle, um die Zeit der Fahrt zu verkürzen, Geschichten oder Märchen erzählen. Alle trauten dem Rudolph zu, daß er am besten imstande sei, ihr Begehren zu erfüllen; sie ersuchten ihn daher alle und auch Franz vereinigte sich mit ihren Bitten. »Ich will es gern tun«, antwortete Rudolph, »allein es geht mir mit meiner Geschichte, wie mit meinem Liede, sie wird keinem recht gefallen.« Alle behaupteten, daß er sie gewiß unterhalten werde, er solle nur getrost anfangen. Rudolph sagte: »Ich liebe keine Geschichte, und mag sie gar nicht erzählen, in der nicht von Liebe die Rede ist. Die alten Herren aber kümmern sich um dergleichen Neuigkeiten nicht viel.«

»O doch«, sagte Vansen; »nur finde ich es in vielen Geschichten der Art unnatürlich, wie die ganze Erzählung vorgetragen wird; gewöhnlich macht man doch zu viel Aufhebens davon, und das[793] ist, was mir mißfällt. Wenn es aber alles so recht natürlich und wahr fortgeht, so kann ich mich sehr daran ergötzen.«

»Das ist es gerade«, rief Rudolph aus, »was ich sagte! Die meisten Menschen wollen alles gar zu natürlich haben, und wissen doch eigentlich nicht, was sie sich darunter vorstellen; sie fühlen den Hang zum Seltsamen und Wunderbaren, aber doch soll das alles wieder alltäglich werden: sie wollen wohl von Liebe und Entzücken reden hören, aber alles soll sich in den Schranken der Billigkeit halten. Doch, ich will nur meine Geschichte anfangen, weil ich sonst selber die Schuld trage, wenn ihr zu viel erwartet. – –

Die Sonne ging eben auf, als ein junger Edelmann, den ich Ferdinand nennen will, auf dem freien Felde spazierte. Er war damit beschäftigt, die Pracht des Morgens zu beschauen, wie sich nach und nach das Morgenrot und das lichte Gold des Himmels immer brennender zusammendrängten und immer höher leuchteten. Er verließ gewöhnlich an jedem Morgen sein Schloß, auf dem er unverheiratet und einsam lebte, seine Eltern waren vor einiger Zeit gestorben. Dann setzte er sich gewöhnlich in dem benachbarten Wäldchen nieder, und las einen der italienischen Dichter, die er sehr liebte.

Jetzt war die Sonne heraufgestiegen, und er wollte sich eben nach dem einsamen Waldplatze begeben, als er aus der Ferne einen Reuter heransprengen sah. Auf dem Hute und Kleide des Reitenden glänzten Gold und Edelgesteine im Schein des Morgens, und als er näher kam, glaubte Ferdinand einen vornehmen Ritter vor sich zu sehn. Der Fremde ritt eiligst vorüber und verschwand im Walde; kein Diener folgte ihm.

Ferdinand wunderte sich noch über diese Eile, als er zu seinen Füßen im Grase etwas Glänzendes wahrnahm. Er ging hinzu und hob das Bildnis einer Dame auf, das mit kostbaren Diamanten eingefaßt war. Er ging damit nach dem Walde, indem er es aufmerksam betrachtete; er setzte sich an der gewohnten Stelle nieder, und vergaß sein Buch herauszuziehen, so sehr war er mit dem Bilde beschäftigt.«

»Wie ich gesagt habe«, fiel Vansen ein, »die Malerei hat eine wunderbare Kraft über uns: das Bild wird gewiß trefflich gemalt gewesen sein. Aber sagt mir doch: was war dieser Edelmann für ein Landsmann?«

»Je nun, ich denke«, antwortete Rudolph, »er wird wohl ein Deutscher gewesen sein, und jetzt erinnere ich mich deutlich, er war aus Franken.«[794]

»Nun so seid so gut, und fahrt fort.«

»Er kam nach Hause und aß nicht. Leopold, sein vertrautester Freund, besuchte ihn, aber er sprach nur wenig mit diesem. ›Warum bist du so in Gedanken?‹ fragte Leopold. ›Mir ist nicht wohl‹, antwortete jener, und mit dieser Antwort mußte der Freund zufrieden sein.

So verstrichen einige Wochen und Ferdinand ward mit seinen Worten immer sparsamer. Sein Freund wurde besorgt, denn er bemerkte, daß Ferdinand alle Gesellschaften vermied, daß er fast beständig im Walde oder auf der Wiese lebte, daß er jedem Gespräche aus dem Wege ging. An einem Abende hörte Leopold folgendes Lied singen. Ihr habt wohl nichts dagegen, daß ich es gleich selbst absinge, es nimmt sich dadurch besser aus.


Soll ich harren? Soll mein Herz

Endlich brechen?

Soll ich niemals von dem Schmerz

Meines Busens sprechen?


Warum Zittern? Warum Zagen?

Träges Weilen?

Auf, dein höchstes Glück zu wagen!

Flügle deine Eile!


Suchen werd ich: werd ich finden?

Nach der Ferne

Treibt das Herz; durch blühnde Linden

Lächeln dir die Sterne.


Leopold hörte aufmerksam dem rätselhaften Liede zu; dann ging er in den Wald hinein, und traf seinen Freund in Tränen. Er ward bei diesem Anblick erschüttert und redete ihn so an: ›Liebster, warum willst du mich so bekümmern, daß du mir kein Wort von deinem Leiden anvertraust? Ich sehe es täglich, wie dein Leben sich aufzehrt, und unwissend muß ich mit dir leiden, ohne daß ich raten und trösten könnte. Warum nennst du mich deinen Freund? Ich bin es nicht, wenn du mich nicht deines Vertrauens würdig achtest. Jetzt gilt es, daß ich deine Liebe zu mir auf die Probe stelle, und was fürchtest du, dich mir zu entdecken? Wenn du unglücklich bist, wo findest du sichern Trost, als im Busen eines Freundes? Bist du dich einer Schuld bewußt, wer verzeiht dir williger, als die Liebe?‹[795]

Ferdinand sah ihn eine Weile an, dann sagte er: ›Keines von beiden, mein lieber Freund, ist bei mir der Fall; sondern eine wunderseltsame Sache belastet mein Herz so gewaltsam, die ich dir noch nicht habe anvertrauen wollen, weil ich mich vor dir schäme. Ich fürchte deine Vernunft, ich fürchte, daß du mir das sagst, was ich mir selber täglich und stündlich sage; ich fürchte, daß du zwar deinen Freund, aber nicht seine unbegreifliche Torheit liebst. Doch will ich dir alles gestehen, und nun erfahren, welchen Rat, welchen Trost du mir geben kannst. Sieh dieses Gemälde, das ich vor einigen Wochen fand, und das seitdem meinen Sinn so gänzlich umgewandelt hat. Mit ihm habe ich mein höchstes Glück, ja mich selber gefunden, denn ich lebte vorher ohne Seele, ich kannte mich und die Seligkeit der Welt nicht, denn ich wurde ohne alles Glück in der Welt fertig. Seitdem ist mir, als wenn ein unbekanntes Wesen mir aus den Morgenwolken die Hand gereicht, und mich mit süßer Stimme bei meinem Namen genannt hätte. Aber zugleich habe ich in diesem Bilde meinen größten Feind gefunden, der mir keine Minute Ruhe läßt, der mich auf jeden Schritt verfolgt, der mir alle übrigen Freuden dieser Erde als etwas Armseliges und Verächtliches darstellt. Ich darf mein Auge nicht davon hinwegwenden, so befällt mich eine marternde Sehnsucht, und wenn ich nun daraufblicke, und diesen süßen Mund, und diese schönen Augen antreffe, so ergreift eine schreckliche Beklemmung mein Herz, so daß ich in unnützen Kämpfen, in Streben und Wünschen vergehe, und mein Leben sich verzehrt, wie du richtig gesagt hast. Aber es muß sich nun endigen; mit dem kommenden Morgen will ich mich aufmachen und das Land durchziehen, um diejenige wirklich aufzufinden, von der ich bis jetzt nur den Schatten besitze. Sie muß irgendwo sein, sie muß meine Liebe kennenlernen, und ich sterbe dann entweder in öder Einsamkeit, oder sie erwidert diese Liebe.‹

Leopold stand lange staunend und betrachtete seinen Freund, endlich rief er aus: ›Unglücklicher! Wohin hast du dich verirrt? An diesen Schmerzen hat sich vielleicht bisher noch keiner der Sterblichen verblutet. Was soll ich dir sagen? Wie soll ich dir raten? Der Wahnsinn hat sich deiner schon bemeistert und alle Hülfe kömmt zu spät. Wenn nun das Original dieses Bildes auf der ganzen Erde nicht zu finden ist! und wie leicht kann es bloß die Imagination eines Malers sein, die dieses zierliche Köpfchen hervorgebracht hat! Oder sie kann auch gelebt haben, und ist nun schon gestorben, oder sie ist die Gattin eines andern, und[796] Mutter vieler Kinder und Enkel, so daß du sie, vom Alter entstellt, nicht einmal kennst, wenn du sie auch wirklich finden solltest. Glaubst du, daß sich dir zu Gefallen das Wunder des Pygmalion erneuern werde? Ist es nicht ebenso gut, als wenn du die Helena von Griechenland, oder die ägyptische Kleopatra lieben wolltest? Bedenke dein Wohl, und laß dich nicht von einer Leidenschaft unterjochen, die offenbar aberwitzig ist. Deine Empfindung ist so widersinnig, daß hier oder nirgend deine Vernunft auftreten und dich aus dem Labyrinthe erretten muß, und mich wundert nur, wie du sie schon so hast unterdrücken können, daß es so weit mit dir gekommen ist.‹«

»Nun, der Mann hat doch wahrlich völlig recht«, rief Vansen aus, »und ich bin neugierig, was der verliebte Schwärmer wohl darauf wird antworten können.«

»Gewiß gar nichts«, sagte Herr Peters, »er wird einsehen, wie gut es sein Freund mit ihm meint, und das wunderliche Abenteuer fahrenlassen.«

»Einiges getraute ich mir wohl zu sagen«, versetzte Sternbald, »wenn ich nicht die Geschichte zu unterbrechen fürchtete.«

Rudolph sah ihn lächelnd an, und fuhr fort: »Ferdinand schwieg eine Weile still, dann sagte er: ›Liebster Freund, deine Worte können mich auf keine Weise beruhigen, und wenn du mich und mein Herz kenntest, so würdest du auch darauf gar nicht ausgehen wollen. Ich gebe dir recht, du hast vollkommen vernünftig gesprochen; allein was ist mir damit geholfen? Ich kann dir nichts antworten, ich fühle nur, daß ich elend bin, wenn ich nicht gehe und jenes Bild aufsuche, das meine Seele ganz regiert. Denn könnte ich vernünftig sein, so würde ich gewiß nicht einen Traum lieben; könnt ich auf deinen Rat hören, so würde ich mich nicht in der Nacht schlaflos auf meinem Lager wälzen. Denn wenn ich nun auch wirklich die Helena, oder die ägyptische Kleopatra liebte, mit dieser heißen brennenden Liebe des Herzens, wenn ich nun auch ginge, und sie in der weiten Welt aufsuchte, so wie ich jetzt ein Bild suche, daß vielleicht nirgendwo ist: was könnte mir auch dann all dein Reden nützen? Doch nein, sie lebt, mein Herz sagt es mir, daß sie für mich lebt, und daß sie mich mit stiller Ahndung erwartet. Und wenn ich sie nun gefunden habe, wenn die Sterne günstig auf mein Tun herunterscheinen, wenn ich sie in meinen Armen zurückbringe, dann wirst du mein Glück preisen, und mein jetziges Beginnen nicht mehr unvernünftig schelten. So hängt es also bloß von Glück und Zufall ab, ob ich vernünftig oder unvernünftig handle, ob die[797] Menschen mich schelten oder loben; wie kann also dein Rat gut sein? Wie könnte ich vernünftig handeln, wenn ich ihm folgte? Wer nie wagt, kann nie gewinnen, wer nie den ersten Schritt tut, kann keine Reise vollbringen, wer das Glück nicht auf die Probe stellt, kann nicht erfahren, ob es ihm günstig ist. Ich will also getrost diesen Weg einschlagen, und sehn, wohin er mich führt. Ich komme entweder vergnügt, oder nicht zurück. – Hast du nie die wunderbare Geschichte von Gottfried Rudell gehört?‹

›Nein,‹ sagte Leopold verwirrt. ›So will ich sie dir erzählen‹, sprach der Liebende, ›denn sie bestätigt mein Gefühl, das dir so einzig und widersinnig erscheint.‹«

»Halt!« rief Vansen, »die Sache neigt sich zum Verwirrten, daß hier eine neue Erzählung in die vorige eingeflochten wird.«

»Und was schadet es«, sagte Florestan, »wenn es Euch nur unterhält und die Zeit vergeht?«

»Es steht nur zu besorgen«, sagte Peters bedächtlich, »daß es uns nicht unterhalten werde, denn man wird gar leicht konfuse, und da die Sache an sich selbst schon nicht sehr interessiert, so wird diese Episode das Übel nur ärger machen.«

»Was kann ich denn aber dafür«, erwiderte Rudolph, »daß der verliebte Schwärmer seinem Freunde damals diese Historie wirklich erzählt hat? Ich muß doch der Wahrheit getreu bleiben.«

»Nun so erzählt wie Ihr wollt«, sagte Vansen, »tragt die neue Geschichte vor, aber nur unter der Bedingung, daß in dieser Historie sich nicht wieder eine neue entspinnt, denn das könnte sonst bis ins Unendliche fortgesetzt werden.«

»Also denn«, nahm Florestan wieder das Wort, »fing der schwärmende Ferdinand seinem vernünftigen Freunde Leopold mit diesen Worten die Geschichte des Gottfried Rudell zu erzählen an: ›Dieser Rudell, mein teurer Freund, war einer von den Dichtern in der Provence, in jener schönen Zeit, als die Welt durch Lieder und süße Sprache, die Menschen durch Sehnsucht, die Länder durch Ritterschaft und der Orient mit Europa durch die heiligen Kriege verbunden waren. Dieser Sänger Gottfried, aus adelichem Geschlecht, machte sich durch seine lieblichen Weisen so berühmt, daß ihm Herren und Grafen gewogen waren und ein großer Fürst sich um seine Freundschaft bewarb, und ihn niemals von seiner Seite lassen wollte. Da fügte es sich, daß Pilger, die aus dem Heiligen Lande zurückkehrten, ihm unter den Wundern der fremden Länder auch die Gräfin von Tripolis nannten, und ihm ihre hohe Tugend, ihre Schönheit und ihren Reiz beschrieben. Er sah andre Reisende, die aus der Gegend zurückwanderten,[798] und wieder fragte er, und wieder rühmten sie entzückt die überirdische Schönheit des Frauenbildes. Seine Imagination ward von diesen Schilderungen so ergriffen, daß er begeistert das Lob der Dame in die Töne seiner Laute sang. Ein Freund sagte einmal scherzend, indem er seinen Gesang bewunderte: ›Du bist entzückt, Dichter, kannst du denn so über Meere hinüber vielleicht lieben, ohne den Gegenstand deiner Leidenschaft zu kennen, oder je mit irdischen Augen gesehn zu haben?‹ ›Wie, wenn sie mir nun selbst im Gemüte, in meinem Innern wohnt, besitze ich sie dann nicht näher, als jeder andre Sterbliche?‹ antwortete der Sänger mit einer andern Scherzrede: ›glaubt mir, Freunde‹, fuhr er fort, ›von ähnlichen seltsamen Erscheinungen könnte ich euch Wunder erzählen.‹«

Vansen räusperte sich, Sternbald nickte dem Erzähler lächelnd zu, der, ohne sich stören zu lassen, so fortfuhr: »Nur zu bald wurde ernste Wahrheit aus diesen Reden. Eine unbegreifliche Sehnsucht nach dem fernen niegesehenen Wesen faßte und durchströmte die Brust des Dichters; wie alle Quellen zu den Strömen, wie alle Ströme zum Meere unaufhaltsam fluten, so zogen alle Kräfte seiner Seele nur ihr, der Einzigen, Ungekannten zu. Er konnte nicht mehr zurückbleiben, er mußte die weite Reise unternehmen. Seine Freunde baten, der Fürst, sein Beschützer, beschwur ihn, aber umsonst; wollten sie ihn nicht sterben sehn, so müssen sie ihn gewähren lassen. Er stieg zu Schiffe. Die Winde waren ihm zu langsam, mit den Liedern seiner Sehnsucht wollte er die Segel füllen, und den Lauf des Fahrzeuges mit Gedankenschnelle beflügeln. Unendlich schöne Lieder sang er von ihr, er verglich und pries ihre Schönheit gegen alles was Himmel und Erde, Meer und Luft Reizendes und Lieblichest. Aber sein Herz brach; er sank schwerkrank darnieder, als die Schiffer vom Mast schon fern, ganz fern das ersehnte Ufer wie eine Nebelwolke erspähten. Er raffte sich auf, er spannte sein Auge an, seine Seele flog schon an das Gestade. Das Schiff lief in den Hafen ein, das fremde Volk strömte herzu, um Nachrichten aus der Christenheit zu erfahren. Auch die Prinzessin wandelte in der Nähe der Kühlung der Palmen. Sie hörte von dem Sterbenden, sie stieg zum Schiff hernieder. Da saß er, an die Schultern eines Freundes gelehnt und sahe nun den Glanz der Augen, die Schönheit der Wangen, die Frische der Lippe, die Fülle des Busens, die er so oft in seinen Liedern gepriesen hatte. ›O wie beglückt bin ich!‹ rief er aus, ›daß doch mein brechendes Auge noch wahrhaft sieht, was ich ahndete, und daß die Wahrheit[799] meine Ahndung übertrifft. Ja, so wird es mit aller Schönheit sein, wenn sie sich einst schleierlos unserm entkörperten Auge zeigt.‹ Der weinende Freund sagte ihr, wer sich anbetend zu ihren Füßen niedergeworfen hatte, sie kannte seinen Namen und manche seiner geflügelten Töne waren schon über das Meer zu ihrem Ohre gekommen; sie beugte sich nieder und hob ihn auf, er lag in ihren Armen, das süßeste Lächeln schwebte im Andenken seiner Wonne auf seinem bleichen Antlitz, denn er war schon verschieden. ›So liebt mich niemand mehr, so liebt auf Erden niemand‹, seufzte die Fürstin, küßte zum ersten- und letztenmal den stummen, sonst so gesangreichen Mund, und nahm den Nonnenschleier.‹ –

›Glaubst du denn eine Silbe von diesem alten Märchen?‹ fuhr Leopold auf. ›Dergleichen ist nicht möglich und gegen alle Natur, es ist nur Dichtung und Lüge eines Müßiggängers.‹«

»Der trifft den Nagel auf den Kopf«, sagte Vansen, »dergleichen hat sich nie wirklich begeben.«

»Es ist unbegreiflich«, merkte Peters an, »wie der menschliche Geist nur auf dergleichen Torheiten verfallen kann: noch seltsamer aber, daß sich ein andrer Aberwitziger mit solchem Wahnsinn trösten will.«

»Und ist es denn nicht dasselbe«, sagte Sternbald nicht ohne Rührung, »diese Geschichte mag wahr oder ersonnen sein? Wer erfand sie denn wohl? Niemand als die Liebe selbst, und diese ist ja doch wundervoller, als alle Dichtungen und Lieder sie darstellen können?«

»Wenn Ihr in der Malerei«, sagte Vansen, »ebensosehr für das Unnatürliche eingenommen seid, wo dann Farben und Figuren hernehmen, junger Freund?«

»Nach dieser Erzählung«, so fing Florestan von neuem an, »nahm Ferdinand seinen Freund herzlich in die Arme. ›Laß mich gehen‹, sagte er, ›sei nicht traurig, denn du siehst mich gewiß wieder, ich bleibe gewiß nicht aus. Vielleicht ändert sich auch unterwegs mein Gemüt, wenn ich die mannigfaltige Welt mit ihren wechselnden Gestalten erblicke; wie sich dieses Gefühl wunderbarlich meines Herzens bemeistert hat, so kann es mich ja auch plötzlich wieder loslassen.‹

Sie gingen nach Hause, und am folgenden Morgen trat Ferdinand wirklich seine seltsame Wanderschaft an. Leopold sah ihm mit Tränen nach, denn er hielt die Leidenschaft seines Freundes für Wahnsinn, er hätte ihn gern begleitet, aber jener wollte durchaus nur allein das Ziel seiner Pilgerfahrt suchen.[800]

Er wußte natürlich nicht, wohin er seinen Weg richten sollte, er ging daher auf der ersten Straße fort, auf welche er traf. Seine Seele war unaufhörlich mit dem geliebten Bilde angefüllt, in der reizendsten Gestalt sah er es vor sich hinschweben und folgte ihm wie unwillkürlich nach. In den Wäldern saß er oft still und dichtete ein Lied auf seine wunderbare Leidenschaft; dann hörte er dem Gesange der Nachtigallen zu, und vertiefte und verlor sich so sehr in sich selber, daß er die Nacht im Walde bleiben mußte.

Zuweilen erwachte er wie aus einem tiefen Schlafe, und überdachte dann seinen Vorsatz mit kälterem Blute, alles, was er wollte und wünschte, kam ihm dann wie eine Traumgestalt vor; er bestrebte sich oft, sich des Zustandes seiner Seele zu erinnern, ehe er das Bildnis im Grase gefunden hatte, aber es war ihm unmöglich. So wandelte er fort, und verirrte sich endlich von der Straße, indem er in einen dicken Wald geriet, der gar kein Ende zu haben schien.

Er ging weiter und traf immer noch keinen Ausweg, das Gehölz ward immer dichter, Vögel schrien und lärmten mit seltsamen Tönen durch die stille Einsamkeit. Jetzt dachte er an seinen Freund, ihm schien selber sein Unternehmen wahnsinnig, und er nahm sich vor, am folgenden Tage nach seinem Schlosse zurückzukehren. Es wurde Nacht, und wie wenn eine Verblendung, eine Krankheit, eine träumende Betäubung plötzlich von ihm genommen sei, so verschwand seine Leidenschaft, es war wie ein Erwachen aus einem schweren Traume. Er wanderte durch die Nacht weiter, denn der Mond warf seinen Schimmer durch die Zweige, er sah schon seinen Freund vergnügt und versöhnt vor sich stehn, er dachte sich sein künftiges ruhiges Leben. Unter diesen Betrachtungen brach der Morgen an, die Sonne senkte ihre frühen Strahlen durch das grüne Gebüsch, und neuer Mut und neue Heiterkeit ward in ihm wach. Er betrachtete das Gemälde wieder, und wußte nicht, was er tun sollte. Alle seine Entschlüsse fingen an zu wanken, jedes andre Leben erschien ihm leer und nüchtern, er wünschte und dachte nur sie. Denn aus der Farbe, aus dem Schmuck blühte wie ein voller knospenschwerer Frühling die Sehnsucht wieder auf ihn zu und umfing ihn mit duftenden blumenden Zweigen. Da war keine Rettung, er mußte sie wieder glauben, sie von neuem wünschen und suchen. ›Wohin soll ich mich wenden?‹ rief er aus. ›O Morgenrot! zeige mir den Weg! ruft mir, ihr Lerchen, und zieht auf meiner Bahn voran, damit ich wissen möge, wohin ich den irren Fuß setzen soll.[801]

Meine Seele schwankt in Leid und Freude, kein Entschluß kann Wurzel fassen, ich weiß nicht, was ich bin, ich weiß nicht, was ich suche.‹

Indem er so mit sich selber sprach, trat er aus dem Walde, und eine schöne Ebene mit angenehmen Hügeln lag vor ihm. In der Ferne standen Kruzifixe und kleine Kapellen im Glanz der Morgensonne. Der Trieb weiterzuwandern, und den Inhalt seiner Gedanken aufzusuchen, ergriff den Jüngling mit neuer Gewalt. Da sah er in der Entfernung eine Gestalt sich auf der Wiese bewegen, und als er weiterging, unterschied er, daß es eine Pilgerin sei. Die Gegenwart eines Menschen zog ihn nach der langen Einsamkeit an, er verdoppelte seine Schritte. Jetzt war er näher gekommen, als die Pilgerin vor einem Kruzifix am Wege niederkniete, die Hände in die Höhe hob, und andächtig betete. Indem kam ein Reuter vom nächsten Hügel heruntergesprengt; als er näher kam, sah Ferdinand, daß es derselbe sei, der ihm an jenem Morgen vorüberflog, als er sein geliebtes Bildnis fand. Der Reuter stieg schnell ab und näherte sich der Betenden; als er sie mit einem genauen Blicke geprüft, ergriff er sie mit einer ungestümen Bewegung. Sie streckte die Hände aus und rief um Hülfe. Zwei Diener kamen mit ihren Pferden, und wollten sich auf Befehl ihres Herrn der Pilgerin bemächtigen. Ferdinands Herz ward bewegt, er zog den Degen und stürzte auf die Räuber ein, die sich zur Wehre setzten. Nach einem kurzen Gefechte verwundete er den Ritter; dieser sank nieder, und die Diener nahmen sich erschreckt seiner an. Da er in Ohnmacht lag, so trugen sie ihn zu seinem Pferde, um im nächsten Orte Hülfe zu suchen. Die Pilgerin hatte die Zeit des Kampfes benutzt, und war indessen feldeinwärts geflohen, Ferdinand erblickte sie in einer ziemlichen Entfernung. Er eilte ihr nach und sagte: ›Ihr seid gerettet, Pilgerin, Ihr mögt nun ungehindert Eures Weges fortziehen, die Räuber haben sich entfernt.‹ Sie konnte vor Angst noch nicht antworten, sie dankte ihm mit einem scheuen Blicke. Er glaubte sie zu kennen, doch konnte er sich nicht erinnern, sie sonst schon gesehn zu haben. ›Ich bin Euch meinen herzlichsten Dank schuldig,‹ sagte sie endlich, ›ich wollte nach einem wundertätigen Bilde der Muttergottes wallfahrten, als jener Räuber mich überfiel.‹

›Ich will Euch begleiten,‹ sagte Ferdinand, ›bis Ihr völlig in Sicherheit seid; aber fürchtet nichts, er ist schwer verwundet, vielleicht tot. Doch kehrt zur Straße zurück, denn auf diesem Wege gehn wir nur in der Irre.‹[802]

Indem kam ein Gewitter heraufgezogen, und ein Hagelschauer fiel nieder. Die beiden Wanderer retteten sich vor dem Platzregen in einer kleinen Kapelle, die dicht vor einem Walde stand. Die Pilgerin war ängstlich, indem die Donnerschläge in den Bergen widerhallten, und Ferdinand suchte sie zu beruhigen; die Furcht drückte sie an seine Brust, seine Wange trank ihren Atem. Endlich hörte das Gewitter auf, und ein lieblicher Regenbogen stand am Himmel, der Wald war frisch und grün und alle Blätter funkelten von Tropfen, die Schwüle des Tages war vorüber, die ganze Natur durchwehte ein kühler Lufthauch, alle Bäume, alle Blumen waren fröhlich. Sie standen beide und sahen in die erfrischte Welt hinaus, die Pilgerin lehnte sich an Ferdinands Schulter. Da war es ihm, als wenn sich ihm alle Sinne auftäten, als wenn auch aus seinem Gemüte die drückende Schwüle fortzöge, denn er erkannte nun das liebliche Gesicht, das ihm vertraulich so nahe war; es war das Original jenes Gemäldes, das er mit so heftiger Sehnsucht gesucht hatte. So freut sich der Durstende, wenn er lange schmachtend in der heißen Wüste umherirrte, und nun den Quell in seiner Nähe rieseln hört; so der verirrte Wandersmann, der nun endlich am späten Abend die Glocken der Herden vernimmt, das abendliche Getöse des nahen Dorfes, und dem nun vor allen Menschen ein alter Herzensfreund zuerst entgegentritt.

Ferdinand zog das Gemälde hervor, die Pilgerin erkannte es. Sie erzählte, daß derselbe junge Ritter, von dem Ferdinand sie heute befreite, und der in ihrer Nachbarschaft lebe, sie habe malen lassen; sie sei elternlos und von armen Leuten auferzogen, aber sie habe sich entschließen müssen, von dort der Liebe des Ritters zu entfliehen, weil seine Leidenschaft, sein Lobpreisen ihrer Schönheit nur ihren tiefsten Unwillen erweckte. ›Drum hab ich,‹ so beschloß sie, ›nach dem heiligen wundertätigen Marienbilde eine Wallfahrt tun wollen, und bin dabei unter Euren Schutz geraten, den ich Euch nie genug danken kann.‹

Ferdinand konnte erst vor Entzücken nicht sprechen, er traute seiner eigenen Überzeugung nicht, daß er den gesuchten Schatz wirklich erbeutet habe; er erzählte der Fremden, die sich Leonore nannte, wie er das Bildnis gefunden und wie es ihn bewegt habe, wie er endlich den Entschluß gefaßt, sie in weiter Welt aufzusuchen, um zu sterben, oder sein Gemüt zu beruhigen. Sie hörte ihm geduldig und mit Lächeln zu, und als er geendigt hatte, nahm sie seine Hand und sagte: ›Wahrlich, Ritter, ich bin Euch mein Leben schuldig, und noch gegen niemand habe ich[803] die Freundschaft empfunden, die ich zu Euch trage. Aber kommt, und laßt uns irgendeine Herberge suchen, denn der Abend bricht herein.‹

Die untergehende Sonne färbte die Wolken schon mit Gold und Purpur, der Weg führte sie durch den Wald, in welchem ein kühler Abendwind sich in den nassen Blättern bewegte. Ferdinand führte die Pilgerin und drückte ihre Hand an sein klopfendes Herz; sie war stumm. Die Nacht näherte sich mehr und mehr, und noch trafen sie kein Dorf und keine Hütte; der Jungfrau ward bange, der Wald wurde dichter, und einzelne Sterne traten schon aus dem blauen Himmel hervor. Da hörten sie plötzlich von abseits her ein geistliches Lied ertönen, sie gingen dem Schalle nach, und sahen in einiger Entfernung die Klause eines Einsiedels vor sich, ein kleines Licht brannte in der Zelle, und er kniete vor einem Kreuze, indem er mit lauter Stimme sang. Sie hörten eine Weile dem Liede zu, die Nacht war hereingebrochen, die ganze übrige Welt war still; dann gingen sie Hand in Hand näher. Als sie vor der Zelle standen, fragte Ferdinand das Mädchen leise: ›Liebst du mich?‹ Sie schlug die Augen nieder und drückte ihm die Hand; er wagte es und heftete einen Kuß auf ihren schönen Mund, sie widersetzte sich nicht. Zitternd traten sie zum Eremiten hinein, und baten um ein Nachtlager als verirrte Wanderer. Der alte Einsiedel hieß sie willkommen und ließ sie niedersitzen; dann trug er ihnen ein kleines Mahl von Milch und Früchten auf, an dem sie sich erquickten. Ferdinand war sich vor Glückseligkeit kaum seiner selbst bewußt, er fühlte sich wie in einer neuen Welt, alles, was vor heute geschehen war, gehörte gleichsam nicht in seinen Lebenslauf; von diesem entzückenden Kusse, der ihm alle Sinnen geraubt hatte, begann ihm ein neues Gestirn, eine neue Sonne emporzuleuchten, alles vorige Licht war nur Dämmerung und Finsternis gewesen. Der Einsiedel wies Leonoren ein Lager an, und Ferdinand mußte sich gegenüber in eine kleine leere Hütte begeben.

Er konnte in der Nacht nicht schlafen, seine glückliche Zukunft trat vor sein Lager und erhielt seine Augen wach, er ward nicht müde hinunterzusehn und in dem glücklichen Reiche seiner Liebe auf und ab zu wandeln. Leonorens Stimme schien ihm beständig widerzutönen, er glaubte sie nahe und streckte die Arme nach ihr aus, er rief sie laut und weinte, indem er sich allein sah. Als der Mondschimmer erblaßte, und die Morgenröte nach und nach am Himmel heraufspielte, da verließ er die Hütte, setzte sich unter einen Baum und träumte von seinem Glücke.[804]

Da sah er plötzlich den Ritter wieder aus dem Dickicht kommen, den er gestern auf dem Felde verwundet hatte; zwei Diener folgten ihm. Eben sollte der Zweikampf von neuem beginnen, als der Eremit aus seiner Klause trat. Dieser hörte den Verwundeten Bertram nennen, und erkundigte sich nach dem Orte seines Aufenthaltes und nach seinen Verwandten. Der Fremde nannte beides und der Einsiedel fiel ihm weinend um den Hals, indem er ihn seinen Sohn nannte. Er war es wirklich; als der Vater sich aus der Welt zurückzog, übergab er diesen Sohn seinem Bruder, der nach einiger Zeit von den Unruhen des Krieges vertrieben seinen Wohnort änderte, und so den Sohn dem Einsiedler näher brachte, als er es ahnden konnte. ›Wenn ich jetzt nur noch Nachrichten von meiner Tochter überkäme,‹ rief der Einsiedler aus, ›so wäre ich unaussprechlich glücklich!‹ Leonore trat aus der Tür, weil sie das Geräusch vernommen hatte. Ferdinand ging auf sie zu, und Bertram stürzte sogleich herbei, als er die Pilgerin gewahr ward. Der Einsiedler betrachtete sie aufmerksam; ›woher, schönes Kind,‹ fragte er zagend, ›habt Ihr diesen kunstreich gefaßten Stein, der Euer Ohr schmückt?‹ Leonore sagte: ›Meine Pflegeeltern haben mir schon früh dies Geschmeide eingehängt, und mich beschworen, es wie einen Talisman zu bewahren, indem es das Andenken von einem höchst würdigen Manne sei.‹

›Du bist meine Tochter!‹ sagte der alte Eremit, ›ich übergab dich jenen Leuten, als ich von meinem Wohnsitze durch der Feinde siegreiches Heer vertrieben wurde. O wie glücklich macht mich dieser Tag!‹«

»Was kann das für ein Krieg gewesen sein?« rief Vansen aus.

»O irgendeiner«, antwortete Rudolph hastig. »Ihr müßt die Sachen nie so genau nehmen, es ist mir in der Geschichte um einen Krieg zu tun, und da müßt Ihr gar nicht fragen: Wie? Wo? Wann geschahe das? Denn solche Erzählungen sind immer nur aus der Luft gegriffen, und man muß sich für die Geschichte aber, für nichts anders außer ihr interessieren.«

»Erlaubt«, sagte Franz bescheiden, »daß ich Euch widerspreche, denn ich bin hierin ganz andrer Meinung. Wenn mir eine Erzählung, sei sie auch nur ein Märchen, Zeit und Ort bestimmt, so macht sie dadurch alles um so lebendiger, die ganze Erde wird da durch mit befreundeten Geistern bevölkert, und wenn ich nachher den Boden betrete, von dem mir eine liebe Fabel sagte, so ist er dadurch gleichsam eingeweiht, jeder Stein, jeder Baum hat dann eine poetische Bedeutung für mich. Ebenso ist es mit[805] der Zeit. Höre ich von einer Begebenheit, werden Namen aus der Geschichte genannt, so fallen mir zugleich jene poetischen Schatten dabei ins Gedächtnis, und machen mir den ganzen Zeitraum lieber.«

»Nun das kann alles gut sein«, sagte Rudolph, »das andre ist aber auch nicht minder gut und vernünftig, daß man sich weder um Zeit noch Ort bekümmert. So mag es also wohl der Hussitenkrieg gewesen sein, der alle diese Verwirrungen in unsrer Familie angerichtet hat.

Der Schluß der Geschichte findet sich von selbst. Alle waren voller Freude, Leonore und Ferdinand fühlten sich durch gegenseitige Liebe glücklich, und der Eremit blieb im Walde, sosehr ihm auch alle zuredeten, zur Welt zurückzukehren.

Es vermehrte noch eine Person die Gesellschaft, und niemand anders als Leopold, der ausgereiset war, seinen Freund aufzusuchen. Ferdinand erzählte ihm sein Glück und stellte ihm Leonoren als seine Braut vor. Leopold freute sich mit ihm und sagte: ›Aber, liebster Freund, danke dem Himmel, denn du hast bei weitem mehr Glück als Verstand gehabt.‹ – ›Das begegnet jedem Sterblichen,‹ erwiderte Ferdinand, ›und wie elend müßte der Mensch sein, wenn es irgendeinmal einen solchen geben sollte, der mehr Verstand als Glück hätte?‹«

Hier schwieg Rudolph. Einige von den Herren waren während der Erzählung eingeschlafen; Franz war sehr nachdenkend geworden. Fast alles, was er hörte und sah, bezog er auf sich, und so traf er in dieser Erzählung auch seine eigene Geschichte an. Sonderbar war es, daß ihn der Schluß beruhigte, daß er dem Glücke vertraute, daß es ihn seine Geliebte und seine Eltern würde finden lassen.

Franz und Rudolph wurden im Verfolg der Reise vertrauter, sie beschlossen miteinander nach Italien zu gehn. Rudolph war immer vergnügt, sein Mut verließ ihn nie, und das war für Franz in vielen Stunden sehr erquicklich, der fast beständig ein Mißtrauen gegen sich selber hatte. Es fügte sich, daß einige Meilen vor Antwerpen das Schiff eine Zeitlang stilliegen mußte, ein Boot ward ausgesetzt, und Franz und Rudolph nahmen sich vor, den kleinen Rest der Reise zu Lande zu machen.

Es war ein schöner Tag. Die Sonne breitete sich hell über die Ebene aus, Rudolph war willens, nach einem Dorfe zu gehn, um ein Mädchen dort zu besuchen, das er vor sechs Monaten hatte kennen lernen. »Du mußt nicht glauben, Franz«, sagte er, »daß ich meiner Geliebten in Italien wahrhaft untreu bin, oder[806] daß ich sie vergesse, denn das ist unmöglich, aber ich lernte diese Niederländerin auf eine wunderliche Weise kennen, wir wurden so schnell miteinander bekannt, daß mir das Andenken jener Stunden immer teuer sein wird.«

»Dein frohes Gemüt ist eine glückliche Gabe des Himmels«, antwortete Franz, »dir bleibt alles neu, keine Freude veraltet dir, und du bist mit der ganzen Welt zufrieden.«

»Warum sollte man es nicht sein?« rief Rudolph aus; »ist denn die Welt nicht schön, so wie sie ist? Mir ist das ernsthafte Klagen zuwider, weil die wenigsten Menschen wissen, was sie wollen, oder was sie wünschen. Sie sind blind und wollen sehen, sie sehn, und sie wollen blind sein.«

»Bist du aber nie traurig oder verdrießlich?«

»O ja, warum das nicht? Es kehren bei jedem Menschen Stunden ein, in denen er nicht weiß, was er mit sich selber anfangen soll, wo er herumgreift, und nach allen seinen Talenten, oder Kenntnissen, oder Narrheiten sucht, um sich zu trösten, und nichts will ihm helfen. Oft ist unser eigenes närrisches Herz die Quelle dieser Übel. Aber bei mir dauert ein solcher Zustand nie lange. So könnt ich mich grämen, wenn ich an Bianca denke, sie kann krank sein, sie kann sterben, sie kann mich vergessen, und dann mache ich mir Vorwürfe darüber, daß ich mich zu dieser Reise drängte, die auch jeder andre hätte unternehmen können. Doch, was hilft alles Sorgen?«

Sie hatten sich unter einen Baum niedergesetzt, jetzt stand Rudolph auf. »Lebe wohl«, sagte er schnell, »es ist zu kalt zum Sitzen; ich muß noch weit gehn, das Mädchen wird auf mich warten, ich sprach sie, als ich nach England hinüberging. In Antwerpen sehn wir uns wieder.«

Er eilte schnell davon und Franz setzte seinen Weg nach der Stadt fort, da aber die Tage schon kurz waren, mußte er in einem Dorfe vor Antwerpen übernachten.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 787-807.
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