Zweiter Abschnitt

[242] Ein heller Sommerglanz war an dem Morgen verbreitet, an welchem Elsheim und Leonhard, die Stadt verlassend, über das grünende Gefilde fuhren. Beide waren eine Zeitlang stumm, wie es gewöhnlich beim Anfang einer Reise zu sein pflegt; nach einiger Zeit sagte der Baron: »Dein alter Magister, mein Freund, hat mich gestern innig gerührt, und ich habe viel an ihn denken müssen; es scheint mir in ihm ein schönes Gemüt zugrunde gegangen zu ein, wie in so manchen Menschen, wenn sie ihren Beruf verfehlen; ich fing damit an, über ihn zu lachen, und endigte, ihn zu lieben und innerlich zu beweinen. Wie bist du an ihn gekommen?«

»Ich hörte von ihm reden«, antwortete Leonhard, »und suchte ihn auf, wo ich ihn in einer Gesellschaft von Bürgern traf, die sich über ihn lustig machten. Von meinem wackern Vater habe ich das Mitleid geerbt, das er vorzüglich mit verarmten Gelehrten und Künstlern hatte, und deshalb zog ich ihn in mein Haus, so daß er nun sorgenfreier und anständiger leben kann.«

»Fühlst du denn auch wohl«, fuhr der Baron fort, »welchen köstlichen Schatz du an deiner Frau besitzest? Wahrlich, gestern habe ich sie näher kennen und wahrhaft lieben und verehren gelernt. Ein Weib, das ihren Widerwillen und Verdruß, den sie doch über deine Reise notwendig empfindet, nicht nur zähmen kann, sondern diese Freundlichkeit, Sanftmut und Liebe so ungezwungen darstellt, ist eine der größten Seltenheiten. Denn selbst die liebenswürdigsten dieses Geschlechts können unangenehm werden, wenn sie über verletzte und unerkannte Liebe schmollen sie scheinen oft der Meinung zu sein, daß sie ihr Herz, in lauter Verdrüßlichkeit und epigrammatischen Grimm gekleidet, dann nicht genug zur Schau tragen können.«

»Mir ist es sonderbar mit ihr ergangen«, erwiderte Leonhard. »Ich stand auf der Grenze zwischen Knaben und Jüngling, als ich sie kennenlernte. Der erwachende Sinn für Schönheit und Reiz ist in diesen Jahren gewöhnlich ungebildet, aber von desto größerer Schärfe, und so erschien mir ihr Angesicht, ihre Farbe, ihre einfache Kleidung, die blauen oder roten seidenen Bänder,[242] die ihren Gürtel umflatterten, alles wie vom hellesten Glanze verklärt. Sie schien mich bald auszuzeichnen, und da sie Vermögen besaß, sah mein Vater dies Verhältnis nicht ungern; ihr Oheim begünstigte mich ebenfalls. Von diesem Augenblick an vermied ich sie, aus übergroßer kindischer Delikatesse, mit einem gewissen störrigen Eigensinn gemischt, denn es verdroß mich, daß die Alten unsere frohe Heiterkeit und jene reizende jugendliche Neigung, die kaum an morgen denken will, schon für unser bürgerliches Fortkommen berechnen und nützen wollten. Oft war ich recht sehnsüchtig verliebt, oft mit ihr entzweit, die über mich lachte, oft versöhnten wir uns. In der Entfernung war mein Herz in manchen Stunden wie krank aus Liebe, dann konnte ich sie wieder auf Wochen vergessen; ein andermal überredete ich mich, daß wir niemals füreinander gepaßt hätten. Als ich zurückkam, fand ich sie mit freudiger Überraschung noch unverheiratet; unser früheres Verhältnis knüpfte sich wieder an, als wenn es nie wäre zerrissen gewesen, und so wurden wir verbunden und glücklich, ohne daß wir eigentlich eine Leidenschaft füreinander gefühlt hatten.«

»Vielleicht«, sagte der Freund, »sind diese Ehen auf die Dauer die glücklichsten, weil beide Teilnehmer keine unmöglichen Erwartungen mitbringen; und darum möchte ich fast den Entschluß fassen, gar nicht zu heiraten, denn die Sehnsucht, die Anbetung, die Leidenschaft der Liebe ist es doch nur, das fühle ich innig, was ich am heißesten wünschen und was mich allein glücklich machen könnte.«

Beide Freunde sahen sich stumm an, und es entstand wieder eine Pause im Gespräch. Ihr Blick haftete auf den Wäldern und schön geschwungenen Hügeln, die sie umgaben, sie folgten dem Flusse, der abwechsend durch die Lücken des Waldes mit seinen Krümmungen erglänzte. Das heitere Lied der Lerche und der Gesang der Nachtigall aus der Ferne stimmten das Gemüt zu sanfter Fröhlichkeit. Nach einiger Zeit sagte Elsheim: »Ich habe mich immer verwundert, mein Freund, daß du dir bei deinen offnen Sinnen und vielfältigen Kenntnissen, bei deiner Lust an allem Gebildeten nicht lieber den Stand eines Künstlers erwählt hast, da es dir doch gewiß nicht hätte fehlen können, dich auszuzeichnen. Ist denn dein Beruf nicht vielleicht auch ein verfehlter?«

»Gewiß nicht«, antwortete Leonhard, »und ich bin schon früh mit mir über diese Punkte aufrichtig umgegangen. Daß ich nicht zum Gelehrten paßte, sah ich früh ein, weil Sachen mich mehr[243] als Gedanken, Worte und Formen interessierten. Zum Künstler fehlt mir ganz jener Enthusiasmus, jener strebende, fliegende Geist, der alles neben sich vernachlässigen und vergessen kann und darf, der in fremden Welten, aber nicht in der hiesigen einheimisch ist; mein Gemüt im Gegenteil ist beschränkt und wahrhaft bürgerlich, mein Eifer für Arbeit, Nützlichkeit, meine Lust an Dingen, die brauchbar sind und fest stehen: alles dies überzeugte mich früh, daß ich zum Handwerker bestimmt sei, und zwar zu der Beschäftigung, welche ich erwählt habe. Doch gibt es jetzt Augenblicke, in welchen ich mit meinem Stande, ja fast mit dem ganzen Leben unzufrieden bin.«

»Das sieht deiner Heiterkeit und Gesundheit wenig ähnlich«, sagte der Freund, »du mußt dich hierüber deutlicher erklären.«

»Noch in meiner Kindheit«, antwortete jener, »in früheren Zeiten aber weit mehr, stand der Tischler zwischen dem Künstler und Handwerker, und dies bestimmte mich hauptsächlich, mich diesem Berufe zu widmen. Schon früh dachte ich darüber nach wie edel im Menschen der Trieb sei, alles, was sein Bedürfnis fordert, neben dem Notwendigen noch mit einer gewissen Zugabe von Schönheit zu umhängen, so daß der Reichere und Gebildetere keinen Hausrat haben mochte, der nicht durch hinzugefügten Zierat in etwas Höheres verwandelt war. Dieser Schönheits- und Kunsttrieb ist es, den wir allenthalben mit Rührung und Liebe wahrnehmen, der die Welt zu jenem angenehmen Rätsel macht, welches so viele nicht zu begreifen scheinen. Denn wenn die höhere Kunst frei wie im reinsten Äther schweben darf, sich selber genug, und nur durch Schönheit und Entzückung in die edelsten und geheimsten Kräfte des Menschen eingreift, und dadurch mittelbar in das, was die Welt lenken und erheben soll so gibt es gleichsam von dieser eine verstoßene, geringgeachtete Schwester, die sich unmittelbar der Not, der Trauer des Lebens annimmt, und uns mit stiller Heiterkeit über alles trösten will, was uns betrübt oder beschwert. Diese immer mehr verschwindende Lust ist es, die unsern Vorfahren so unentbehrlich war, die sich in ihren ländlichen Festen oft als Kinderei und Torheit äußerte, über welche unsere neuere Vernunft lächelt, und sie auch gänzlich abzustellen sucht; dieser Trieb ist es, der in vielen Gegenden den Pflug mit Bildwerk ausschnitzt, in Franken das Stirnjoch der Rinder mit bunten Farben bemalt, der den Schäfer antreibt, seinen hölzernen Becher und Stock mit Laubwerk zu verzieren, der zu gewissen Zeiten des Jahrs die Stuben mit Maien-[244] oder Tannenreisern schmückt; dieser unschuldige liebenswürdige Trieb ist es, der mir immer so recht rein menschlich im Gegensatz des Philosophen, des Herrschers, des Reichen, oder jener affektierten Kunstmenschen erschien, die ihren nachgemachten Enthusiasmus nur von Hörensagen haben, und diesen Bildungstrieb nie anerkennen und verstehen wollen, der sich doch als Erdboden, Wasser und Luft der eigentlichen Kunst unterlegen muß, damit ihr Keimen und Wachstum möglich sei.«

»Du wendest diesen Gedanken«, sagte Elsheim, »der mir nicht fremd ist, auf eine neue Art.«

»So schien es mir«, fuhr Leonhard fort, »daß alles Leere verkleidet, alles, was das bloße Bedürfnis ausdrückt, verwandelt, und die bloße Notwendigkeit daran so verschwiegen werden müsse, als sei sie bloß des Zierates wegen da. Aus den Beobachtungen im Leben setzte ich mir auch früh eine Art von Theorie zusammen, die diese Vorliebe erklären und rechtfertigen sollte. Die gerade Linie, weil sie immer den kürzesten Weg geht, weil sie so scharf und bestimmt ist, schien mir das Bedürfnis, die erste prosaische Grundbasis des Lebens auszudrücken; die krumme, die als Zirkel, Ellipse, im Bogenausschnitt und in unendlichen Schwingungen sich bewegen kann, war mir die Unerschöpflichkeit des Spieles, der Zier, der sanften Liebe, die sich um den strengen, mürrischen und melancholischen Gatten in allen erdenklichen Umarmungen windet und ihn tröstend und liebkosend umschließt.«

»Fahre fort, mein Freund«, sagte Elsheim, »ich bin begierig, wie du endigen wirst.«

»Die Baukunst«, sagte Leonhard, »deren eigentliches Wesen in diesen geraden Linien und Ecken zu bestehen scheint, gefällt sich doch auch in kühngeschwungenen Bogen und gewölbten Kuppeln: so das Coliseum und Pantheon, sowie die ungeheure Peterskirche. Aber die herrliche altdeutsche Baukunst in den Wunderwerken zu Straßburg, Köln und Wien hat am liebevollsten und innigsten diesem Triebe gehuldigt, und das innere Wesen dieser Gebäude ist Lieblichkeit, so daß es nur neuern Zeiten möglich war, hier Schauer, trübe Melancholie und Lebensüberdruß aufzufinden.«

»Ja wohl«, sagte der Freund, »wir können den neuesten Bemühungen edler Deutschen nicht dankbar genug sein, die uns diesen lange mißverstandenen lieblichen Traum wieder auf die rechte Art zu deuten suchen. Dergleichen bereichert den Menschen wahrhaft, und so kann auch manche versunken geglaubte[245] Atlantis unsers Gemüts wiederentdeckt werden. Nur scheinst du mir den Tischler aus den Augen zu verlieren.«

»Doch nicht so ganz«, erwiderte Leonhard, »denn alles trifft hier ebenso zu, nur in kleineren Verhältnissen. Haben wir nicht selbst die Chorstühle in der alten Kirche unserer Geburtsstadt bewundern müssen, die noch von katholischer Zeit her dort stehen? Wie fest, wie bequem, wie schön geschwungen, mit welcher Fülle von Laub, Früchten und Figuren verziert! Wie manches wunderwürdige Treppengeländer habe ich in alten Reichsstädten, auf Rathäusern und bei Vornehmen gesehen: und wie manche Arbeit dieser Art, auch kunstreiche Balustraden in Stein habe ich aus Laune oder augenblicklicher Bequemlichkeit, weil sich die Stangen zu einer armseligen Illumination nicht gleich fügen konnten, wegbrechen und vernichten sehn, ohne daß es nur irgend jemand bedauerte, sondern alle die neue gerade Linie viel schöner und anständiger fanden, so daß ich über diesen Hussitensinn und die bilderstürmende Roheit unserer Tage Tränen hätte vergießen mögen.«

»Dieser jakobinische Zerstörungssinn«, sagte der Edelmann, »hat sich freilich unserer Zeit übermäßig bemächtigt, und hängt genau mit einer gewissen Aufklärung und unbedingten Verfechtung des Bürgerstandes zusammen. Wir reißen Monumente der Ehre unsers Vaterlandes ein, und bauen mit selbstgefälligem Lächeln Kartenhäuserchen an die Stelle. Der Schwank von jenem Affen, der an des Malers Buffalmacco Stelle auf seine Weise malte, wenn jener sich entfernt hatte, und mit seinem Werke sehr zufrieden schien, ist die Kunstgeschichte unserer Tage.«

»Diese Verwandtschaft zur Kunst«, fuhr Leonhard fort, »ohne doch Kunst sein zu wollen, war es, was mich zu meinem Handwerke zog; ich legte mich daher mit unermüdlichem Eifer auf das Zeichnen, und glaube darin auch nicht ungeschickt geblieben zu sein. Immer schwebten mir edle und wohlgefällige Figuren von Tischen und Sesseln vor, und ich suchte im Sinn unserer Vorfahren entweder mit Blumen und Laubgewinden, oder mit leichten Figuren, die an die Arabeske grenzten, die harte gerade Linie und das Vierkantige zu verkleiden. Es ergötzte mich unendlich die Kunst der Lackierer zu lernen, und weiß, himmelblau, rötlich und alle Farben recht rein und dauernd hervorzubringen; noch mehr erfreute mich die Vergoldung, wodurch Frohsinn und Heiterkeit wie von selbst in unser Leben hineinlacht. Die Politur der Hölzer war mir ebenso wichtig, jede Baumart wurde mir eine liebe Bekanntschaft, die ich wie einen Freund mit seinen Eigenheiten[246] und Vorzügen behandelte, die schöne Pappel, die sich wie in Silber oder weißen Atlas verwandeln läßt, der rötliche Pflaumen- oder dunkle Nußbaum, das gediegene, reichaderige Eichenholz, die weiche Else; die Geschicklichkeit, den Maser bunt und sonderbar anzubringen, oder mit dem fremden Ebenholz fein und zierlich einzufassen und zu umlegen: alle diese Dinge wandte ich in meiner Phantasie hin und her, und mit inniger Freude erinnere ich mich älterer Mobilien, deren ich auch noch einige in fremden Ländern gesehen habe, die das Leben des Menschen wirklich mit Lust und Zier umstellten, ihn durch Gold und Farben erheiterten, und in schön geschwungenen Zirkellinien Stuhl, Sessel, Tisch und Schrank, auch ohne Hinsicht des Gebrauchs, zu angenehmen Gegenständen der Betrachtung machten.«

»Ich merke schon, mein Freund«, sagte Elsheim, »daß du in deiner Hantierung nur ungern mit dem Zeitalter fortgeschritten bist; aber ich glaube doch nicht, daß du alle jene Schnörkel und krummen Linien, die man sonst auf die geschmackloseste Weise an Tischen oder andern Gegenständen angebracht, wirst rechtfertigen wollen?«

»Gewiß nicht«, sagte Leonhard, »denn aus dem richtigen Gefühl war durch Übertreibung in einer gewissen Zeit etwas Unsinniges gemacht worden. Besonders hatten die Franzosen ein Muschel- und Schnörkelwesen aus lauter willkürlich geworfenen Bogen- und Zirkelschnitten gemacht, in welchen weder gerade Linie noch Brauchbarkeit sichtbar blieben. Diese Dinge gehören in die Reihe jener Buchdruckerstöcke, die um eine gewisse Zeit Mode waren, über die man, wenn man sie genau betrachten wollte, verrückt werden möchte, wie uns denn alles ganz Willkürliche, Unzusammenhängende, Unzweckmäßige diese Empfindung erregt; es ist das, was wir das Abgeschmackte nennen müssen, weil es geradezu dem Geschmack entgegensteht und ihn auf immer unmöglich macht, der Nicht- oder Ungeschmack sich aber noch immer erziehen und bilden läßt. Dieser letzte aber ist es, der uns von England aus in unsern Bedürfnissen des Lebens immer mehr und mehr überschleicht, eine Art von Puritanismus, die geradezu alle Zier, alles, was nicht strenge Notdurft ist, als Ketzerei ansieht. Es tut mir weh, diese reinkantigen, schroffen, wie aus Erz und Eisen gegossenen Formen arbeiten zu müssen, die um so mehr gefallen, je gerader und strenger die Linien sind, so daß wahrscheinlich kunstreichere Nachkommen einmal diese vollendete Barbarei einer Zeit mit Verwunderung betrachten werden, die so viel und zu viel über[247] Kunst gesprochen hat. Dazu das traurig-monotone und dunkle Mahagoniholz, das nur im nächsten Blick Goldäderchen oder Schimmer entdeckt, dessen Wirkung im allgemeinen aber immer trübselig ist. Nun vergleiche man mit unbefangenen Sinnen ein Zimmer von heutzutage mit einem jetzt altfränkisch genannten. Im ersten die kahlen Kalkwände mit einer Malerei, die freilich oft Prätension genug macht, ein paar große Spiegel mit finstern Rahmen, ohne Figur und Zier, ebenso Tische und Stühle, alles hart, herbe und kunstlos. Dagegen versetze man sich in ein geschmücktes Zimmer, wie es vordem gebräuchlich war, die Wände mit rotem Damast, oder gelber und blauer Seide bekleidet, von goldnen Leisten eingefaßt, der heiterste und behaglichste Anblick, alle Sessel und Schränke von hellem Glanz und kunstreicher Arbeit, mit vergoldeten schön geschnitzten Figuren; wo man Schlösser oder Erzarbeit wahrnimmt, ist alles auch in Gestalt, Laub, Blume aufgelöst; wohin das Auge sich nur wendet, lächelt die Kunst entgegen. Die höchst unbequemen Ruhebetten, die ich fertigen muß, und die immer unfertig aussehen, noch mehr die Sekretäre, wie man sie nennt, oder Schreibe-Büreaus, nötigen mir mit ihrem Mangel an Verhältnis, und kleinen Spiegeln und Säulen, oder abgeschmackten Grotten inwendig, oft ein Lächeln ab, und in dieser Hinsicht ist mein Schicksal dem des Magisters nicht unähnlich, daß ich mit meinem Geschmack auch um fünfzig oder siebenzig Jahre zu spät komme.«

»Man fängt ja jetzt wieder an«, sagte Elsheim, »das Gold bei bronzierten Sachen anzubringen.«

»Ja«, antwortete Leonhard, »wieder auf verkehrte Weise, denn Holz soll nun wieder Erz und Bronze nachahmen; und diese Greifenfüße, Sphinxe und dergleichen plump gearbeitete Figuren, die einen großen Stil haben sollen, sehen eben erst recht barbarisch aus. Die ganze Kunst unserer Tage hat sich in die Töpferarbeit Wedgwoods geflüchtet, in der man wirklich angenehme und leichte Formen erfunden und den Alten nachgeahmt hat. Von dem traurigen Porzellan mit seiner Affektation, kostbaren Vergoldung und Malerei, Landschaften und Correggios, und wer weiß was alles, so teuer, daß oft auf einem Ecktisch oder in einem Schrank der Wert von Tausenden enthalten ist, für die man erfreuliche Kunstwerke haben könnte, mag ich gar nicht sprechen. Hier drängt man Malerei und Kunst einer geringfügigen Materie auf, in der alles kleinlich erscheinen muß, und entfernt vom Metall, dem Silber und Golde alle Anmut, stellt die[248] nackten Formen des Bedürfnisses hin, wo Zier und Schmuck so bedeutend werden kann, um recht darzutun, wie verkehrt wir in allen Dingen geworden sind.«

»Du hast mir jetzt vielerlei erzählt, mein Freund«, sagte der Baron, »aber wie verbindest du denn in deinem eigenen Leben so manchen phantastischen Hang, wie z.B. den, der dich einmal fast überwältigte, Schauspieler zu werden, mit diesem soliden Streben, mit deiner Bürgerlichkeit, mit deiner Gründlichkeit und Ruhe?«

Nach einigem Nachdenken antwortete der junge Meister: »Ich glaube, daß alle, oder doch die meisten Menschen aus Widersprüchen zusammengesetzt sind; diese nun auf gelinde, gewissermaßen kunstreiche Art zu lösen, ist die Aufgabe des Lebens. Gewaltsame Leidenschaften, erschreckendes Unglück, tolle Ausschweifung, sind wohl sehr oft Mangel an Geschick und Kunstsinn zu nennen. Ist es nicht wieder in anderer Gestalt die gebildete Vereinigung der geraden und krummen Linie, der notwendige Zierat, der dem nackten Leben zur schmückenden Umkleidung gegeben wird? Was sich zu widersprechen scheint, vereinigt sich gelinde und schön, gerade das, was überflüssig und unvernünftig aussieht, ist es, was dem Wahren, Festen und Richtigen Gehalt und Schönheit gibt. Vielleicht sind wir, gegen unsere Vorfahren gehalten, hierin ebenso zurück, wie im Hausrat, wenngleich mancher unter uns mit jenen Buchdruckerstöcken oder Schnörkelfiguren zu vergleichen ist, welche die geschweifte Linie gleichsam toll gemacht hat. Die Ausschweifung an sich selbst soll nicht dasein dürfen.«

»Lieber Freund«, sagte Elsheim, »du scheinst mir da einen ebenso sonderbaren als wahren Gedanken ausgesprochen zu haben, der mir vieles in ein verständliches Licht rückt, was sich mir oft als Rätsel hat aufdrängen wollen.« –

Es war ein heißer Tag geworden, und beide Reisenden sehnten sich nach Erquickung. »Haben wir noch weit zur Station?« fragte Elsheim den Fuhrmann, »und treffen wir dort ein gutes Wirtshaus?« Der junge Mensch wandte vom Bock sein freundliches Gesicht in den Wagen hinein und sagte: »Dort hinter dem Walde kommt das Städtchen schon hervor, und der Gasthof ist der beste von der Welt; die Wirtin besonders ist ein wahrer Engel, durch sie wird der Mann reich, denn alle Fuhrleute kehren seitdem in der goldnen Traube ein, so daß das Haus weit im Lande berühmt ist.«

Schon befanden sie sich unter einem hohen Lindengange, der[249] in das Städtchen führte, das heiter aussah und ziemlich volkreich war. Sie hielten vor einem großen Hause, und da beide Freunde es liebten, auf einige Stunden unter den übrigen Gästen verschiedener Stände zuzubringen, so begaben sie sich unten in das große Wirtszimmer. Eine schon bejahrte Frau schoß ihnen in übertriebener Hast mit schreiender Stimme entgegen: »Wollen Sie sich's bequem machen, meine Herren?« und da sie sah, daß die Fremden wie scheu zurückfuhren, sagte sie milder und gesetzt: »Wenn Sie kein eigenes Zimmer befehlen, Ihr Gnaden, so sein Sie nur so gut, hier hereinzuspazieren.« Beide Freunde verwunderten sich stillschweigend, daß diese Figur dieselbe Wirtin sein sollte, die ihr Fuhrmann ihnen als Engel bezeichnet hatte. Sie fanden in dem großen Saale verschiedenartige Menschen. In der Nähe der Küche saß der korpulente und phlegmatische Wirt und verzehrte sein Mittagsessen, ohne sich um seine Gäste zu bekümmern; nicht weit von ihm waren zwei Männer, die Geistliche zu sein schienen, in den Zeitungen und politischen Gesprächen darüber vertieft, diese hatten nur Wein vor sich stehen; an einem großen Tisch fiel eine bunte Gesellschaft in die Augen, einige Weiber und Mädchen, mit Bändern und Seide auf unpassende Art geschmückt, und einige Männer dazwischen, in abgetragenen Kleidern, alle sehr lärmend und heftig begehrend, welche, wie man nachher erfuhr, eine Gesellschaft von reisenden Schauspielern waren; ganz einsam in eine Ecke gekrümmt, saß ein Jude, der still sein kleines Frühstück verzehrte, und auf alle Gegenwärtige ein wachsames Auge hatte; die übrigen im Zimmer waren jüngere und ältere Fuhrleute und Kärrner. Elsheim bestellte ein Mittagsessen und Wein, und mit der größten Schnelligkeit ließ die Wirtin das weißeste Tischzeug auf einen kleinen Tisch legen, den sie so zu stellen wußte, daß niemand im Saal den beiden Reisenden beschwerlich fallen konnte; von einer reinlichen Magd wurde sauberes Fayencegeschirr und blanke Gläser, nebst Silberzeug hingelegt, und bald erschien die Suppe. Die Wirtin wurde zu den Schauspielern gerufen, wo sich ein lauter Streit über den Anteil erhoben hatte, den die Mitglieder an der Rechnung haben wollten, oder zu haben leugneten; ihre durchdringende Stimme, Überredung und einiger Scherz wußte bald die Ruhe wiederherzustellen. Ein stiller Blick des Juden lud sie ein, sie ging in seine Ecke, stellte sich nahe zu ihm und rechnete heimlich mit ihm. Er schien zufrieden, und zog ohne Widerrede ein ledernes Beutelchen, bezahlte sie, sie dankte ihm freundlich, und geleitete ihn, so wenig er auch verzehrt hatte, bis zur Tür[250] hinaus, offenbar in der guten Absicht, ihn vor den Späßen oder Angriffen der rohen Fuhrmannsbursche sicherzustellen. Unsern beiden Freunden entging diese Behendigkeit und Vielseitigkeit nicht, und sie teilten sich heimlich ihre Bemerkungen über die Menschenkenntnis der Frau, sowie über die Ordnung des Hauses mit. Indem saß sie wieder bei einem alten verdrüßlichen Fuhrmann, dem sie zärtlich die runzlichten Wangen streichelte, und unter Erzählungen von der Vortrefflichkeit seiner verstorbenen Frau die Rechnung mit ihm ins reine brachte. Dann kam sie zu einem jungen Burschen, der, weil er vielleicht im Hause noch fremd war und die Weise der Frau nicht kennen mochte, sich, indem sie ihn ebenfalls freundlich anfaßte, Freiheiten nehmen wollte, aber auch mit der größten Schnelligkeit eine nicht unsanfte Ohrfeige empfing, worüber alle Anwesenden, hauptsächlich des Barons junger Fuhrmann, ein lautes Gelächter aufschlugen. Dieselbe Frau, indem sie jetzt von einem andern Kärrner, der an der Reihe zu sein schien, herbeigewinkt ward, änderte jetzt ihre stille Weise mit diesem Zänker und fing ein solches Geschrei an, daß man meinte, es müsse zu Gewalttätigkeiten kommen; so laut die Stimme des Mannes war, so übertönte sie ihn doch; so grob und anzüglich seine Ausdrücke lauteten, so hatte sie doch noch gröbere und beißendere in Bereitschaft, so daß er endlich beschämt und grimmig bezahlte, was sie verlangte. Mit der ruhigsten Art setzte sie sich nun zu den Geistlichen nieder, und nahm, da sie ihr bekannt schienen, alsbald an ihrem Gespräche teil und bedauerte, daß es manchmal im gemeinschaftlichen Zimmer dergleichen Störungen geben müsse. Die Suppe war verzehrt, und mit einer anständigen Verbeugung nahm sie unsern Fremden die Teller weg und trug sie in die Küche, um ihnen eine andere Speise zu senden. »Ein Kapitalweib!« sagte der grimmige Fuhrmann zu einem andern, indem sie hinausgingen, »sie macht doch auch die Rechnung nie um einen Groschen höher, um sich abhandeln zu lassen, ob sie gleich meine Art wohl kennt, wie es alle die andern dummen Weiber in den übrigen Gasthöfen machen.« Die Frau kam zurück und fragte, wie den Herrn der Wein vorkäme, und freute sich, da sie ihn loben hörte. Bei aller dieser Tätigkeit, dem vielfachen Getümmel und Geschrei saß der Wirt indes fast unbeweglich in seinem ledernen Stuhl, ohne die Augen von seiner Schüssel oder seinem Glase aufzuheben.

»Deutschland«, sagte Elsheim, »ist vielleicht das einzige Land, wo in mancherlei Gewerben die Frau so oft den müßigen Mann ernähren muß.« Sie wollten dieses Gespräch eben fortsetzen, als[251] sie durch eine sonderbare Erscheinung unterbrochen wurden, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Stolpernd und schreiend trat eine große Figur herein, ein ziemlich starker Mann, in grünem Rock und Weste, beide mit schmalen Tressen besetzt, mit großen Stiefeln angetan; er trug einen Zopf und zwei Locken im frisierten Haar, von welchem man nicht unterscheiden konnte, ob es vom Puder oder von Natur weiß sei; sein Gesicht war rot und aufgelaufen, das Haupt bedeckte ein kleiner dreieckiger Hut. Mit lautem Freudengeschrei bewillkommte ihn sogleich die Wirtin: »Ei! bester Herr Wassermann, sind Sie schon zurück?« – »Ja, Alte«, schrie der Fremde, und gab ihr einen starken Schlag auf den Rücken: »ei« – indem er sich gegen die Schauspieler wandte – »da treff ich ja das lustige Gesindel auch wieder! Gelt, liebes Volk, wir sind neulich vergnügt gewesen?« Alle antworteten dem fröhlichen Herrn nur, wie sie ihn nannten, mit einem lauten Gelächter, er aber riß die Türe schon wieder auf und schrie hinaus: »Nur hier herein! hier herein! meine Freunde!« worauf eine Bande Bergmusikanten in das Zimmer brach. »Nicht wahr, meine Herren«, wandte er sich an die Gesellschaft, »wir lassen eins aufmachen? und wenn Sie es auch nicht mögen, so bin ich wohl Manns genug, allein zu bezahlen! Komm, Dicke« (indem er die Wirtin unter den Arm faßte); »und nun einen Walzer! aber lustig!«

Sogleich bewegte sich bei betäubender Musik der Wirrwarr aus allen Ecken und drehte sich durch den Umfang des Saales; der fröhliche Herr tanzte mit der Wirtin vor, die Komödianten flogen sich in die Arme, einige Mädchen, die übrigblieben, winkten die jüngsten der Fuhrleute herbei, und unter Schreien, Stampfen, Händeklatschen und Gelächter wälzte sich der Tumult immer wilder und wilder; doch wußte es die Wirtin so geschickt zu machen, daß keiner ihrer Gäste, am wenigsten unsere Reisenden die sie als die Vornehmsten behandelte, gestört wurden; aber das Springen und die Schnelligkeit des Walzers wurde so heftig, daß sie bald das Tuch vom Kopf verlor, und jetzt mit aufgelöstem Haar einem wilden Gespenste in toller Bewegung glich. Indem sich der Alte einmal umdrehte, rannte sie, die durch das Schiebefenster in der Küche eine Unordnung bemerkt hatte, in diese hinein, stieß und schalt die Mägde am Feuer zurecht, kam zurück, setzte ihren Kopfputz wieder auf, und bald hatten die Wut und der lärmende Tanz ihr Ende erreicht. Sie setzte sich wieder zu den Geistlichen nieder, um in aller Ehrbarkeit weiter am Gespräch teilzunehmen, und der Fremde nahm seinen kleinen Hut[252] ab, um sich den Schweiß abzutrocknen. »Es macht warm, meine Herren«, sagte er keuchend, indem er sich zu Elsheim und Leonhard wandte, »aber so unvermutet und plötzlich macht es auch das größte Vergnügen. Wenige Menschen, dem Himmel sei's geklagt, wissen das Lebens zu genießen und die Freude gleichsam im Fluge zu haschen; wohin ich gekommen bin, bin ich noch immer an Geist und Munterkeit der Jüngste gewesen; denn unsere jetzige Jugend ist, wo man nur hinsieht, trübsinnig und schwerfällig, und ich muß, wie ein alter Anakreon, die Bursche beschämen.«

Es wurde dem Baron sehr schwer, nicht laut aufzulachen, aber dennoch bezwang er sich und sagte: »Gewiß, wären alle Menschen von Ihrer Fröhlichkeit, so würde das Leben noch einmal so leicht und anmutig sein.«

»Wer zweifelt daran?« erwiderte jener, und setzte sich, ohne zu fragen, nahe zu den beiden Freunden nieder, so daß Leonhard, dem der Mensch verhaßt war, etwas von der Seite rückte. »Inkommodieren Sie sich nicht«, rief der Tänzer, »ich sitze schon gut hier, ich habe Platz genug.«

Es ergötzte den Baron, seinen Freund in dieser verdrüßlichen Stimmung zu sehn, er wandte sich daher zum Fremden und sagte: »Sind Sie aber zu allen Zeiten so vergnügten Humors?« – »Fast immer«, erwiderte jener mit Selbstzufriedenheit, »nichts ist mir widerwärtiger als Kopfhängen und Kalmäuserei, oder das duckmäuserische Pietisten- und Herrnhuterwesen; in meinem Hause muß alles alert sein, ich schreie vom frühen Morgen, was ich aus der Kehle bringen mag, und da ich selten zu Hause ganz meine Lust büßen kann, so besuche ich Freunde, die ebenso heiter sind, als ich, und regelmäßig treffen wir des Abends im Wirtshause zusammen. Herr, ich versichere Sie, unser Brüllen, Singen und Schreien hört man oft über das ganze Städtchen weg, und jedes Kind weiß davon zu erzählen, was ich für ein lustiger Mann bin.«

»Wie glücklich sind Sie«, sagte der Edelmann, »ein solcher Humor ist ein unschätzbares Kleinod, und ich wollte nur, Sie könnten meinem jungen Freunde etwas von Ihrem Lebensmute mitteilen, der, wie Sie wohl bemerken werden, an der Melancholie leidet.«

Wassermann packte gewaltsam des jungen Tischlers Hand, schüttelte sie kräftig und sagte: »Ach! was da! was da! wer wollte melancholisch sein, solange einem Essen und Trinken schmeckt und man nur halbweg gesund ist.« Leonhard wurde immer mehr[253] verstimmt, aber der Baron fuhr fort: »Ja, Herr Wassermann (denn so heißen Sie, wie ich gehört habe), es gibt aber doch Leiden, die, ohngeachtet aller Lebensphilosophie, in der Sie sehr stark zu sein scheinen, das Herz zu sehr angreifen, zum Beispiel, die Leiden einer unglücklichen Liebe, an welchen mein Freund eben ohne Hoffnung darniederliegt.«

»Das ist ja eben zum Totlachen«, sagte die widerwärtige Figur; »die Liebe ist auch eine neuerfundene Modekrankheit. Daß man die Weibsen gerne hat, ist wohl sehr natürlich, und wo ich nur hinkomme, bin ich in alt und jung, in schön und häßlich verliebt. – Ihr wißt auch davon zu sagen, lustiges Gesindel!« schrie er zu dem weiblichen Teil der Schauspielergesellschaft hinüber. – »Aber, meine Herren, sich grämen, seufzen, krank werden, ist eines Mannes unwürdig, und davon weiß ein anakreontischer Liebhaber nichts. Ich bin Bräutigam gewesen, ich war verheiratet, aber ich blieb einen Tag wie alle Tage. Ja, meine Herren, ich bin jetzt wieder mit einem recht schönen Mädchen, das zwar nicht so ganz jung mehr ist, versprochen, aber ich wäre wohl ein Narr, wenn mir nicht unterweges auch andere gefielen; nein, nichts gereut einen in späteren Jahren so sehr, als ein Kuß, den man nicht appliziert hat, wenn sich die Gelegenheit dazu anbot.« Mit diesen Worten sprang er auf, küßte erst die Wirtin und dann die übrigen Frauenzimmer nach der Reihe, ohne die Mägde zu übergehen, die das Zimmer aufzuräumen hereingetreten waren, dann lief er hinaus, um nach seinem Reitpferde zu sehen.

»Ein gottloser Mensch«, nahm die Wirtin das Wort, »er kommt jetzt mit einer ansehnlichen Erbschaft zurück, die ihm ein Vetter auf seinem Sterbebette vermacht hat. Dadurch ist sein eigenes Vermögen um so größer; und je wohlhabender er wird je toller wird er auch.«

»Wer ist denn der Unhold?« fragte Leonhard heftig, »wo hat er denn seine Scharfrichterei? und welches weibliche Wesen kann denn so ganz ohne Empfindung sein, sich mit einem Tollhäusler zu verbinden?«

»Ei, bewahre, Ihr Gnaden!« sagte die Wirtin scheu, indem sie sich etwas zurücksetzte: »behüte Gott, daß Herr Wassermann das hören sollte! Er ist ein reicher Mann aus dem Würzburgischen, wo er viele Weinberge hat; sein meister Handel ist auch mit Wein, darum bereist er oft diese Gegend. Und warum sollte denn auch ein Frauenzimmer, wenn sie nur irgend solide denkt, einen ehrlichen wohlhabenden Mann nicht heiraten können? Sie soll arm sein, er hat keine Kinder, und so kommt sie gleich in einen[254] guten Hausstand. Ei! ei! freilich sind das wohl so von den melancholischen Reden, wie der gnädige Herr hier vorhin zu sagen beliebten.«

Indem kam Wassermann lärmend wieder hereingetreten, er stellte sich vor Leonhard hin, rückte den Hut ein wenig und sagte: »Herr Patron! sollten Sie vielleicht einmal in das Würzburgische Städtchen kommen« (indem er den Namen nannte), »so bitte ich es mir aus, daß Sie bei mir einsprechen, und der Teufel soll mich holen, wenn ich Sie nicht von aller Liebe und Melancholie kuriere.« – Da Elsheim sah, daß der verstimmte Leonhard im Begriff sei, loszubrechen, hielt er es für Zeit, den Spaß zu endigen, indem er dem Schreier die Hand gab und sagte: »Ich hoffe, mein lebensfroher Herr Wassermann, daß wir uns in diesem Leben nicht zum letzten Male gesehen haben.« Er berichtigte schnell die Rechnung, und stieg mit Leonhard wieder in den Wagen, da der junge Fuhrmann sie schon eine Weile erwartet hatte.

»Ich kenne dich nicht wieder«, fing der Baron an, als sie die Stadt hinter sich hatten, »diese kränkliche Verwundbarkeit habe ich noch niemals an dir bemerkt. Wie hat dich ein solcher Narr nur verletzen können?«

»Mein Freund«, antwortete Leonhard, »diese heftige Verstimmung mag seltsam und unnatürlich scheinen, aber dieses Wesen hat mich von neuem darin bestätigt, das zu glauben und dem zu folgen, was man sonst Sympathie und Antipathie genannt hat. Sowie dieser Mensch nur zur Tür hereintrat, fühlte ich einen gewissen Haß in meinem Busen sich regen, den ich nicht bemeistern konnte. Zuletzt überwältigte mich der Gedanke, wie vielleicht ein armes, hülfloses Mädchen, von Eltern und Verwandten bestürmt, um sich nur vor den nächsten Blutsfreunden (ja wohl, die nach ihrem Blute lüstern sind) Ruhe zu schaffen, sich einem solchen Wüterich aufopfert, um eine lange qualvolle Lebenszeit hindurch zu bereuen, daß sie in einer Viertelstunde schwach genug war, ihre Einwilligung zu geben.«

»Die Braut«, sagte Elsheim, »soll aber über die erste Jugend hinüber sein, so daß dies nicht zu besorgen steht.«

»Immer schwebt mir doch«, fuhr Leonhard fort, »das gräßliche Bild solcher Ehe vor Augen, was von den meisten Menschen auf Erden so genannt wird. Jenes fürchterliche Verhältnis ohne Liebe und Achtung, und aus welchem auch die letzte Spur von Heiligkeit verschwunden ist, gegen welches mir jenes der Orientalen mit ihren Sklavinnen als ehrwürdig und unschuldig erscheint. Ist es schon traurig genug, daß Liebe und gegenseitige[255] Leidenschaft nicht immer zum Glücke führen, so ist es gegenüber wahrhaft fürchterlich, daß Staat und Religion ein gegenseitiges Ermorden sanktionieren können.«

»Wenn ich dir auch recht gebe, wie ich muß«, sagte Elsheim, »so wirst du mir, trotz deines Eifers, nicht angeben können, wie es denn sein müßte, um besser zu werden, wenn wir nicht geradezu die treffliche goldne Zeit, oder das belobte tausendjährige Reich herbeirufen wollen. Gewinnt dir denn aber dieser neue liebe Anakreon und seine Lebensphilosophie kein Lachen ab?«

»Ich vermag es nicht«, sagte der junge Meister völlig verstimmt, »denn ich fürchte, daß das, was uns hier als Karikatur erschienen ist, nur das wahre Bild eines großen Teils der Welt sei. Mir war es, als würde dieser Abgesandte ihrer Trübsal, Nichtigkeit und Niedrigkeit umhergeschickt, um recht zu verkündigen, wie verderbt und armselig sie sei, und statt zu lachen, wären mir in diesem gräßlichen Getümmel und den springenden Larven und Gespenstern die Tränen fast aus den Augen gebrochen.«

»O so bist du ja unheilbar«, sagte der Baron nicht ohne Lachen, »ich sehe, daß du Anlage zur Hypochondrie hast; immer hat es solche mißverstandene Phrasen in lebendiger Figur gegeben, und die Erde wäre ohne diese grellen Toren viel ärmer und dunkler. Ich hoffe also, du nimmst seine freundliche Einladung an, ihn zu besuchen, damit er dich von deiner Melancholie heile.« Er wandte sich zu seinem jungen Kutscher und sagte: »Ihr habt recht gehabt, mit der Wirtin im Hause, sie ist eins der liebenswürdigsten Weiber, die ich noch gesehen habe.«

»Sagt ich's nicht vorher«, rief der junge Mensch erfreut aus: »Ihr Gnaden glauben nicht, was das für eine große Kunst ist, mit so vielen Menschen tagtäglich umzugehen und es allen recht zu machen. Alle Kärrner und Fuhrleute aus dem Reich kennen sie auch, und machen lieber eine Meile mehr, um nur in diesem Hause auszuspannen, und diese Art Leute, die täglich und immer mit vielen Pferden kommen und selber viel verzehren, sind für einen Gasthof die einträglichsten. Wenige Menschen wissen auch mit ihnen recht umzugehen, der eine will lachen, der andere schwatzen, der dritte klagt gerne, noch ein anderer ist nur froh im Zank und wenn man ihm grob begegnet, und mit allen trifft sie es genau, verabsäumt keinen und zieht keinen vor, ist allenthalben wie durch ein Wunderwerk, schießt zugleich durch Küche, Keller und Boden umher wie ein Drache; mit einem Wort, sie ist ein Engel von Frau, und ohne sie würde der gute dicke Melchior verhungern müssen.«[256]

Die Freunde saßen eine Zeitlang stumm nebeneinander, denn Leonhard war verstimmt, und Elsheim wußte nicht recht, wie er den Faden der Unterhaltung anknüpfen, oder welchen Gegenstand er berühren solle, um die Mißlaune seines Gefährten nicht zu vermehren. Endlich sagte er: »Du hast dich nun, mein lieber Jugendfreund, und hoffentlich auch Freund meines Alters, meinen Bitten und meiner Liebe gefügt, daß du mich nie anders als mit dem vertraulichen Du anredest; ich hoffe, daß du es auch nie, und in keiner Gesellschaft unterlässest, und du würdest mich empfindlich kränken, wenn du es je wieder aus der Acht ließest.«

»Du willst es«, sagte Leonhard, »und es sei also. Aber die Deinigen, deine Gäste, so wie alle Fremden dort, werden diese, nach den hergebrachten Meinungen der Welt, ein solches Verhältnis nicht unbegreiflich finden?«

»Sie sind von mir das Ungewohnte gewohnt«, antwortete Elsheim: »auch siehst du, daß ich keinen Bedienten mit mir genommen habe, damit wir unterweges um so freier sein können, und so hindert dich und mich auch nichts, dich dort bei mir als Baron Professor, Architekten, reisenden Maler, oder was du sonst willst, vorzustellen.«

Leonhard schwieg erst ein Weilchen still, um seine ganze Empfindlichkeit zu sammeln, dann brach er los: »Früher hättest du es mir sagen sollen, daß du dich in deinem erlauchten Zirkel schämst, mich als deinen Freund und den aufzuführen, der ich wirklich bin, so wär ich dir nicht vergeblich bis hierher gefolgt, und wir beide hätten nicht nötig gehabt, eine Rolle zu übernehmen, die unserer unwürdig ist. Es ist aber doch noch gut, daß du mir die Entdeckung zeitig genug gemacht hast, um umkehren zu können, und künftig werde ich den Warnungen und Vorstellungen meiner verständigen Friederike eine bessere Folge leisten.«

»Sprich und zürne dich nur aus«, sagte Elsheim: »denn endlich ist zur rechten oder unrechten Zeit gesagt, was ich gestern dir zu sagen verabsäumte; das ist doch, beim Licht besehn, mein ganzes Verbrechen; in deiner frohen Laune damals hättest du den Scherz als Scherz betrachtet, und nur gefühlt, wie sehr ich dich liebe, um dich da draußen unter narrenhaften Menschen recht wahr und ungestört zu besitzen; du würdest eingesehen haben, daß man das Komödienspielen nicht besser einleiten kann, als wenn man gleich in einer Rolle auftritt; dann wäre es dir wohl etwas nähergerückt, daß es keine so ungeheure Forderung sei,[257] dem Freunde dies kleine Opfer zu bringen, der, wenn es die Gelegenheit fordert, sich mit dem größten nicht wird saumselig finden lassen; und mit einem Wort, mein Geliebter, du wärst in deiner Ansicht jugendlich gewesen, und es hätte dir nicht so widerwärtig gedünkt, mit den Weisen weise, und mit den Törichten töricht zu sein.«

Leonhard konnte sich nicht enthalten, seinem Freunde die Hand zu geben, doch fügte er hinzu: »Alles zugegeben und vorausgesetzt, daß ich mich deiner Laune füge, wer steht mir denn dafür, daß diese Maskerade sich nicht mit meiner Erniedrigung endigen wird? Dir ist es bequem, wenn ich mich füge, aber wie soll ich mit meinen bessern Gefühlen die Rechnung abschließen?«

»Liebster Freund«, sagte der Baron, »laß uns aufrichtig zu Werke gehn. Ist es dir auf deinen Reisen, oder auch sonst nie begegnet, daß man dich in deiner guten Kleidung, mit deinem feinen Anstand in irgendeiner öffentlichen Gesellschaft für etwas genommen hat, was man so im Leben etwas Höheres nennt, und hat dir dieses Gefühl noch kein einzigesmal wohlgetan, hast du die Täuschung auch kein einzigesmal stillschweigend oder mit freigebigerm Bezahlen und herrschenderm Ton befördert? Hast du sie jedesmal vorsätzlich zerstört? Ich kann von mir dergleichen nicht rühmen, auch weiß ich nicht einmal, ob es etwas Besseres sei, was wir täglich ausüben, daß wir unter Unbekannten für vortrefflicher und weiser gelten wollen, als wir unserm Bewußtsein nach sind. Wir kommen an, ich gebe dich für gar nichts aus, ich nenne dich meinen Freund, der mir in den Einrichtungen des Hauses und des Theaters helfen will: das alles ist die strengste Wahrheit; ich gebe dir keinen fremden Namen und keine Würde, die dir nicht zukömmt, nur führe ich dich der Schwachen wegen nicht geradezu als Tischlermeister auf, weil ich hoffe, du bist wirklich immer noch mehr, mein Leonhard, als Schreiner durch diese ganz unschuldige List, wenn wir es noch so nennen wollen, gehst du mit allen frei und wie mit deinesgleichen um, da es eine unbillige Forderung wäre, daß jene Fremden sich aus allen ihren anerzogenen, angewöhnten und mit ihnen verwachsenen Vorurteilen heraussetzen sollten, um dich als Mensch sich selbst gleichzustellen. Durch diese einzige stumme Nachgiebigkeit vergibst du dir gar nichts, und schenkst mir unendlich viel, indem durch diese Kleinigkeit mir das Leben mit dir dort möglich wird, was mich einzig zu dieser Reise bestimmt hat. Und käme es zum Äußersten, würde ich dich verlassen, nicht deine[258] Liebe höher als alle kindische Rücksichten schätzen? Bei der kleinsten Veranlassung, die dich nur beschämen könnte, trete ich für dich auf, und nehme alle Verantwortung über mich.«

»Wenn alles dies«, sagte Leonhard, »auch nur Sophistereien sind, auf die sich noch vieles erwidern ließe, so mag diesmal die Freundschaft für dich alles überwiegen und übertönen. Es mag als Maskerade gelten, die einen unschuldigen Endzweck hat; du wirst auf jeden Fall mir das Zeugnis geben müssen, daß ich mich dir und deinen Masken nicht aufgedrängt habe.«

»Wunderlicher Geist«, sagte der Baron, »der du noch so jung bist, und einer solchen Kleinigkeit wegen schon so viele Skrupel haben kannst! Und wie lange wird es denn währen, so sehe ich dich ein großes Magazin von Möbeln einrichten, Meister unter dir arbeiten, denen du nur Zeichnungen und Bestellungen gibst, und Kommissionsrat, oder wie sonst, heißen; deinem Vermögen nach, und da es der Ton des Tages so mit sich bringt, könntest du das auch gleich tun.«

»Das geschieht niemals«, rief Leonhard lebhaft aus, »dann erst würde ich es auf immer bereuen, mich meinem Berufe gewidmet zu haben, wenn ich ein solches totes und tötendes Fabrikleben führen sollte, wenn mir die Freude am Material, die ich mit meinen tätigen Gehülfen teile, die Lust, das bestimmte Wesen nach und nach immer reiner und ausgebildeter hervortreten zu sehen, das Gefühl, daß ich als Vater und Lehrer für meine Mitarbeiter sorge und ihnen weiterhelfe, die Bewegung des Lebens, wenn mir alles das unter den Händen absterben sollte, um so oder so zu heißen, Meister zu drücken, und von ihrer Geschicklichkeit und ihrem Schweiße zu prassen, mich der Tätigkeit zu schämen, und durch die Auslage des Geldes mir ein Recht zu erwerben wähnte, daß ich andere despotisieren und quälen dürfe, und so weit ich reichen kann, Leben, Heiterkeit und Wohlstand zerstören.«

»Du siehst es von der finstersten Seite«, sagte der Baron, »es hat doch immer mehr den Anschein, daß die Zünfte und alle Einrichtungen, die damit zusammenhängen, eingehen werden.«

»Leider«, fuhr Leonhard fort, »es gewinnt aber auch immer mehr den Anschein, daß der wahre Bürgerstand, der Kern und das Mark aller Staaten, verschwinden muß. Ich will der Willkür nicht einmal gedenken, daß plötzlich Privilegien aufgehoben werden, die der Bürger, der allgemeinen Sicherheit vertrauend, hat bezahlen müssen, und für welche Auslagen, die bedeutend genug sind, ihm vom Staate keine Entschädigung wird; ich will darauf kein Gewicht legen, daß nur dieser Gewähr vertrauend,[259] der Mann seine Jugend und wohl auch ein Kapital eingelegt hat, um geschirmt von vernünftigen und billigen Einschränkungen ein Mitglied dieses geschlossenen Standes zu werden; sondern ich frage nur, ob man denn wirklich bei denen Gewerben, bei denen die fabrikmäßige Einrichtung schon lange hat stattfinden können, oder in jenen Ländern, wo es Fabrikstädte gibt, das Glück finde, das uns reizen könne, alles umzustoßen, um auch dergleichen bei uns zu haben? Statt vieler wohlhabenden Menschen einige reiche Leute und einen Haufen armen, verkümmerten und lüderlichen Gesindels, immer in der peinigendsten Abhängigkeit von seinem Brotherrn und dessen quälenden und magern Vorschüssen, ohne Lebenslust, ohne Fähigkeit, Tugend und Liebe, kränkliche Kinder zu erziehen, bei einem ganz mechanischen und seelenlosen Geschäfte verdummend, und dadurch angetrieben Genuß, den der Mensch einmal nicht entbehren kann und will, bei schlechten, berauschenden Getränken zu suchen, früh absterbend, ohne gelebt zu haben, verzweifelnd und sich selbst verachtend zu allen niedrigen Streichen aufgelegt, und nicht fähig, Glück und Unglück zu erleben oder zu ertragen. So habe ich viele Hunderte, schlimmer als Sklaven, in berühmten Fabriken verschmachten sehen, und über die zunehmende Kultur wie anwachsende Barbarei die Schultern gezuckt, daß wir es in unsern Tabellen für Gewinn halten, Menschen, die höchsten Staatskräfte aufzuopfern, um die Ware wohlfeiler zu liefern.«

Als der Baron lächelnd und ungläubig den Kopf schüttelte, fuhr Leonhard, ohne seinen Eifer dämpfen zu lassen, in seiner heftigen Rede so fort: »Ich verlange nicht, daß alles, ohne Ausnahme, auf die alte Weise geschehen soll, auch sind ja Fabriken und die gepriesene Verteilung der Arbeit schon eine alte Erfindung; gewisse unbedeutende Dinge, wie Nadeln, Nägel und dergleichen, können nicht schnell und wohlfeil genug geliefert werden; bei vielen scheinbaren Kunstzusammensetzungen hat sich früh dies Handwerk und die Kunst in eine Fabrikanstalt umgesetzt; und ob selbst dabei der Nutzen so groß ist, daß jetzt jedermann eine schlechte, unbrauchbare Uhr in der Tasche tragen kann, lasse ich dahingestellt sein, da die wahrhaft guten Werke in London und Paris auch jetzt teurer verkauft werden, als nur immer in den ersten Zeiten der Erfindung. Aber weh muß es mir tun, daß der deutsche Handwerker, der sich so schön mehr oder minder dem Künstler anschloß, der mit den Seinigen und den einheimischen und fremden Gehülfen wahrhaft patriarchalisch lebte, jetzt untergehn und die ehrwürdige Zunft neuen[260] Modeeinrichtungen weichen soll. Mit diesem seelenvollen Leben war eine ganz andere bürgerliche Ehre verknüpft, als herablassende Vornehme oder Geschäftsleute uns jetzt zuwerfen, oder der jüngere Handwerker durch Umtreiben auf Kaffeehäusern und leichtfertiges Tavernengeschwätz im halbmodischen Frack sich erringen kann. Und wenn ich nur die philosophische Seite des neuen Systems begreifen könnte. Ohne den Namen finde ich alles in der Welt so umschlossen, und mit Recht. Der Staat läßt mich nicht auf gutes Glück, und ob ich es vielleicht treffe und Beifall finde, in seine Geschäfte pfuschen, weil seine Diener auf Schulen und Universitäten, oder als subalterne Arbeiter ihre Lehrjahre überstehen müssen, sie werden geprüft, und rücken nur langsam und nach vielfacher Überlegung in die offenen höhern Stellen ein. Derselbe Fall ist es mit den Geistlichen, sowenig man sie auch von Seiten des Staats wichtig nimmt. Ebenso mit den Schulen und Universitäten, und ich darf nicht abenteuernd herumziehen, und die Bude meines Unterrichts und meiner Vorlesungen aufschlagen wollen. Alle diese Stände legen dem Staate ein Kapital von Zeit, Studien, Arbeit und Lehrjahren ein, und rechnen darauf, in spätern Jahren geschützt zu werden. Ebenso ist es beim Kaufmann, ja wenn ich mich zur Grundlage des Staats, zum Bauernstande, wende, finde ich dieselbe Beschlossenheit, denn das Grundeigentum ist doch in gewisse bestimmte Güter geteilt, deren Anzahl ebensowenig, wie sonst die der Handwerker in Städten, überschritten wird, und der Sohn oder der Fremde muß sich erst vom Knechte zum Bauern hinaufdienen. Die wahren Mißbräuche des Zunftwesens, die sich durch die Länge der Zeit eingeschlichen hatten und nicht zu leugnen sind, konnten abgeschafft werden, ohne die ehrwürdige Stiftung selbst, der wir Künste, Wohlstand und Freiheit zum Teil zu verdanken haben, zu Boden zu reißen. In melancholischen Stimmungen möchte ich aber manchmal glauben, daß wir alle gern einer allgemeinen Knechtschaft entgegengehen, und daß man uns vorpredigt, nur Geld zu erwerben zu suchen, um in Luxus, Ausschweifung und Sklavenhochmut Ketten wie Freiheit verlachen zu können.«

»Nun, nun«, sagte Elsheim, »du fällst ja in den wahren Prophetenton: soll man dich einen Obskuranten oder Revolutionsmann nennen?«

»Weder so noch so«, sagte Leonhard, »denn die Menschen, die man wirklich mit Vernunft so nennen kann, sind mir beiderseitig gleich verhaßt. Aber ich kann es mir doch nicht ableugnen, daß wir so ziemlich in der Anarchie schon befangen sind, wenn die[261] Menschheit und die Staaten doch aus Ständen vereinigt sein sollen. Die Geistlichen waren schon seit lange, erst einer stillen, dann einer öffentlichen Proskription ausgesetzt, die Freude über ihre Besiegung, dieses Staates im Staate (wie man alles nannte, was nicht unmittelbar dem Einen und unbedingt unterworfen war), sprach sich allgemein aus; doch wurde ebenso der Einfluß und die Selbständigkeit des Adels gebrochen, dem Bürgerstand und seiner Beschlossenheit erklärte man aus philosophischen Prinzipien öffentlich den Krieg, und den Bauern, die man eigentlich schützen will, fällt man wenigstens mit einer engherzigen, ebenso albernen als unpassenden Erziehung, und mit einem unnützen Tabellenwesen zur Last.«

»Ja, die Tabellen!« rief der Baron aus, »sie gehören recht zu den Surrogaten und dem Geiste der Zeit, den die Gesetzgeber sich auch nur in Tabellen strömend vorstellen können.«

»Seit diese Mode des Bewußtseins«, fuhr Leonhard nicht ohne Bitterkeit fort, »die Staateneinrichter wie ein Schnupfen befallen hat, der eigentlich umgekehrt ein dumpfes Unbewußtsein hervorbringt, geschieht ordentlich mit Gewissen und frommer Lust die Zertrümmerung der edelsten Überlieferungen, über die ein abergläubisches Schaf, wie ich, das eine Wasserscheu vor diesem Strome der Zeit hat, weinen möchte. Doch, du hast recht, es ziemt mir besser, meinen Sinn von diesen großen Weltfortschritten abzulenken, und wenn du noch einige Geduld übrig hast, so möchte ich wohl noch einmal zu meinen Zünften zurückkehren.«

»Sprich dich nur aus«, sagte der Edelmann, »der Wagen geht auch ganz sanft im Sande, wir sitzen hier auf unserm eigenen Grund und Boden, und dürfen denken, was wir wollen.«

»Muß ich nicht wieder«, sprach der Meister, »auf meine frühere Ansicht kommen, an die ich mich so gewöhnt habe, daß sie mir bei allen Dingen vorschwebt? Die gerade und die krumme Linie ist es, deren Umspielung oder innige Durchdringung alle Formen hervorbringt. Ist es nicht sonderbar, daß die neuern Gesetzgeber schon seit lange den Menschen als ein Vernunftwesen betrachten, und um so mehr, je mehr er im niedrigern Stande lebt; der ohne Leidenschaften ist, oder die man ihm aberziehen und ihn zu allen vernünftigen Tugenden, des Fleißes, des Gelderwerbes, der unermüdlichen Arbeitsamkeit, hinaufbilden soll wo sie etwa fehlen möchten? Die Gesetzgeber behalten sich und ihresgleichen stillschweigend vielen Zeitvertreib und Zeitverderb vor, wovon sie das Anständigste unter die Rubrik ›Bildung‹ schieben, die der Gemeinere freilich entraten kann. Die Weisheit der[262] alten Welt aber sah ein, daß Leidenschaften, Torheiten, Spiel, Scherz, Lust und Genuß die Elemente sind, die kämpfend und sich verbindend in der Menschheit ringen, und daß die Vernunft nur das Gleichgewicht sein kann, welches dieses unsichtbare Feuer, Luft, Wasser und Erde schwebend trägt, damit eins nicht das andere vernichte; daß Begeisterung zum Guten und Bösen die Sturmwinde sind, die zertrümmern und die Atmosphäre reinigen, und die hülflose Vernunft an sich selber noch nie etwas in Wirkung und Wirklichkeit hat setzen können. Ihr Bestreben war daher nicht, der Menschheit die Menschheit abzugewöhnen, sondern sie waren Kinder mit den Kindern, und Toren mit den Toren, und fühlten wohl, welcher heilige Ernst in dieser Kindlichkeit aus der Tiefe heraufspiele, weil es edler und frommer ist, jeden Trieb in uns auszubilden, als ihn zu vernichten, und daß jenes neumodige Entwöhnen, in der keiner seine Lust sättigen und büßen soll, nur zum moralischen Tode und zur kalten Verzweiflung führt. Ihnen waren daher alte überkommene Spiele, Lieder, Scherz und Trunk, selbst Ausgelassenheit ehrwürdig, und wenn die neuere Welt dergleichen auch nicht so unmittelbar, wie die alte, zum Gottesdienst rechnete, so nahm sie doch alles dieser Art in ihren Schutz. Volksfeste, Aufzüge, Prozessionen, Musik und Tanz öffentlich bei feierlichen Gelegenheiten, die Verwandlung des gemeinen Lebens in ein poetisches Schauspiel: alle diese innigsten Bedürfnisse suchte sie zu befriedigen, ließ das Bestehende und Überlieferte, verbesserte, fügte hinzu, erhöhte den glänzenden Schein, und edle Greise, Väter des Volks, Geistliche und Fürsten hielten es nicht unter ihrer Würde, ganz mit vollem Herzen in den Jubel einzustimmen, und die gute Vernunft daheim unter alten Reflexionen kramen zu lassen. Denn nicht will der Mensch bloß Mensch sein (sooft dies auch vor einigen Jahren von Aufklärern ist geprediget worden), er will auch nicht bloß nützlich und erwerbend und Bürger sein, sondern zuzeiten etwas anders außer sich vorstellen. Dieser Trieb, uns außer uns zu versetzen, ist einer der gewaltigsten und unbezwinglichsten, weil er wohl gerade die tiefste Eigentümlichkeit in uns entbindet. So waren im Kreise des Staats tausend kleinere Kreise die sich in- und durcheinander bewegten, selbstständig spielten und doch dem größern dienten; an jeden Menschen kam seine Stunde und sein Tag, und öfter im Jahr oder im Monat, wo er, dazu autorisiert, etwas Fremdes vorstellen durfte, und dem Adel, der Geistlichkeit schlossen sich hier schön die Zünfte an, die vielfach in Scherz und Ernst Aufzüge, Spiele, Repräsentationen aller[263] Art, allegorisch oder komisch gaben, oder auch nur zur Verherrlichung ihres Handwerks und des Bürgerstandes auftraten. Der Meister konnte Vorsteher seiner Innung und Brüderschaft werden, der Gesell Vortänzer und Vorfechter, Sprecher und Schauspieler, ja bis zum lernenden Burschen hinunter gab es Gelegenheit, daß dieser sich wieder unter seinesgleichen geltend machen durfte. Neu gestärkt, gesunder und lebensfroher kehrte der Mensch dann zu seinem gewöhnlichen Beruf zurück, ja getröstet über diesen und mit der nahen Aussicht, das Jungbrunnen-Bad bald wieder gebrauchen zu können. Bleibt der Stoiker ganz fest auf seinem Standpunkte der Vernunft stehen, oder sagt zur Freude: du bist toll! so kann er doch den Gedanken wenigstens nicht als Lüge abweisen, daß dieses Dehnen, Recken und Gähnen der Schläfrigkeit (wofür er dies Torenspiel ausgeben würde) die Lungen stärkt und hebt, und das vollkommene Erwachen wie die Munterkeit befördert.«

»Ein medizinischer Statistiker könnte dir auch in deiner Schilderung recht geben«, fügte Elsheim hinzu, »wenn er sagte: alle jene unnützen Zeitvertreibe, ja reelle Narrheiten seien vielleicht notwendig, um aus der Menschheit eine Menge Laster- und Dummheits-Anlagen abzuführen, damit Weisheit und Tugend Raum gewinnen. Ich gebe dir ohne alle Bedingung recht, und füge nur noch hinzu, daß wir in neuern Zeiten kaum noch einen Menschen finden, der repräsentieren kann; selbst die Diplomatiker, die es verstehen, werden immer seltner, vom Höchsten bis zum Geringsten trägt jeder eine Art von Scham mit sich herum, daß er noch etwas anders, als ein Mensch sein soll, daher das linkische, verlegene, stotternde Benehmen unserer Großen; die militärische Haltung in der Uniform und im Dienst ist die einzige, die geblieben ist, und in die sich alle übrige Repräsentation zurückgezogen hat.«

»Dein Mediziner, den du eben erwähntest«, fing Leonhard wieder an, »hat nach meiner Meinung ebenfalls recht, nur möchte ich die Sache etwas anders ausdrücken. Ich glaube in der Tat, daß die Masse der übertriebenen und krankhaften Eitelkeit unserer Tage, die Sucht, eine lügenhafte Rolle vor der Welt und vor sich zu spielen, dieses Heucheln von süßlicher Bildung, unechter Frömmigkeit, affektierter Liebe zur Natur und dergleichen mehr, nur möglich geworden ist, seitdem es dem Menschen untersagt ist, eine Rolle von Staats wegen zu spielen, seitdem er so ganz auf die Haushaltung in seinen vier Pfählen, und auf sein Herz in seinem sogenannten Innern angewiesen ist, denn ich fühle es, daß der[264] Trieb, sich zu entfliehen, sich selbst fremd zu werden, und als ein anderes Wesen wieder anzutreffen, mächtig in uns ist.«

»Es ist sonderbar«, antwortete der Baron, »daß ein Gespräch, das empfindlich anfängt, gewöhnlich auch so fortgeführt und geendigt wird, wie man den ganzen Tag hindurch auch in der Wärme den Wind spürt, wenn es am Morgen gestürmt hat. Übrigens hat uns unsere lehrreiche Unterhaltung gehindert, die Schönheit der Gegend zu genießen, und dort liegt wahrlich schon der Hafen, die Stadt mit ihrem Gasthofe vor uns.«

So war es auch; sie stiegen aus, bestellten Zimmer und ein Abendessen. Schon auf der letzten Viertelmeile war ihnen ein schmächtiger Mensch aufgefallen, der neben dem Wagen hertrippelte, und der jetzt fast mit ihnen zugleich in das Wirtshaus eintrat. Er forderte Wein, und fing mit den beiden Reisenden, die unten noch die Einrichtung ihres Zimmers abwarten wollten ein Gespräch an. »Also Sie haben die armseligen Wracks der elenden gescheiterten Truppe angetroffen?« fuhr er fort, als er gehört, daß der Baron im letzten Städtchen einige Schauspieler gesehen hatte; »nicht wahr, mein Herr, es sind unwürdige Subjekte, die den Wert ihrer Kunst nicht einsehen, und des Enthusiasmus nicht fähig sind?

Als das letztemal der benachbarte König die Gnade hatte, mit mir zu sprechen« (deklamierte er laut, indem er sich vornehm und breit niedersetzte und den dienstfertigen Wirt kalt ansah, der ihn mit noch größern Augen anstarrte), »fragte er mich, wie es denn komme, daß wir noch immer kein solches Schauspiel besäßen, wie es eine so edle, poetische und kräftige Nation doch ohne Zweifel verdiene? ›Geruhen Ew. Majestät zu bemerken‹, erwiderte ich (denn da ich ihn öfter sehe, so kann ich ziemlich dreist und ohne Umstände mit ihm sprechen)« – der Wirt warf schnell die baumwollene Mütze in einen Winkel, die er bisher zwischen der Achsel eingeklemmt hielt – »daß es nicht an der Nation, an den Dichtern oder an irgend etwas anderm liegt, sondern lediglich an den verächtlichen Menschen, wie es die meisten sind, die sich diesem hohen Berufe widmen. Diese Armseligen, die ihre Kunst nur wie eine jämmerliche Zunft, wie ein seelenloses Handwerk treiben wollen und können, diese sind es, die den freien Adel dieser edlen Ausübung immer noch hindern.«

»Sie lieben die Kunst sehr, wie es scheint«, sagte der Baron. – »Ich bete sie an«, rief der Fremde, »sie ist das Leben selbst, und alles übrige ist nur Schein, Flachheit, trüber Nebel. Darum eben habe ich mich mit jenem elenden Direktor entzweit, der außerdem,[265] daß er fast nie richtig bezahlte, mir auch meine Rollen schmälerte, und dieselben Darstellungen von Stümpern verhunzen ließ, in denen ich den allgemeinsten Beifall einzuernten gewohnt war. – Herr Wirt, der Wein ist aber sauer!«

»So?« sagte dieser, der durch die Stube ging, ohne sich umzusehen, und seine Mütze schon wieder hoch auf dem Kopfe trug.

»Ja«, fuhr der Künstler fort, »ich zeige ihm nun schon seit geraumer Zeit, daß ich auch ohne ihn leben kann, und, meine gnädige Herren, ich bitte um die Vergünstigung und die Ehre, daß ich denenselben eine kleine Probe meiner Kunst und meines wahren Talents zeigen darf; ich würde untröstlich sein, wenn so ausgezeichnete Männer, von diesen Kenntnissen und der hohen Bildung, diese meine dargebotene Huldigung verweigern würden, da es doch bekannt ist, wie sehr dieselben die Künste lieben, und selbst von den Musen begünstigt sind.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er eiligst einige Tische und Stühle beiseit, rannte in des Wirts Schlafkammer, brachte ohne Umstände etwas in seinen Armen Verdecktes heraus, welches er auf den Tisch stellte und mit einem weißen Kleide verhüllte. Mit untergeschlagenen Armen folgte ihm die Wirtin in höchster Verwunderung, um zu sehen, was aus diesen sonderbaren Anstalten sich ergeben solle. Er setzte eilig sich gegenüber den beiden Reisenden, wie dem Wirt und dessen Frau, Stühle hin räusperte sich, machte eine Verbeugung und fing an: »Hochzuverehrende! ich werde jetzt die Kunstdarstellung wagen, das berühmte Stück unsers Dichters, ›Menschenhaß und Reue‹, mit geringen Änderungen und den notwendigsten Abkürzungen ganz allein darzustellen, und ich bin überzeugt, daß die Wirkung dieselbe ergreifende, tieferschütternde sein wird, wie sie nur immer das versammelte Personale der vorzüglichsten Bühne hervorbringen kann.« Er fing hierauf an zu gestikulieren, und die hauptsächlichsten Rollen mit großem Eifer herzusagen, indem er alles, soviel es sich tun ließ, in Monologe verwandelte. Wo dies unmöglich war, ließ er die Stimme grell wechseln, und sprang behende von einer zur andern Seite; als aber Eulalia auftreten sollte, riß er schnell die Verhüllung weg, und es zeigte sich der Haubenkopf der Wirtin mit schwarzen Augen und dunkelroten Wangen, mit einer Mütze der Eigentümerin geschmückt. An diese Repräsentantin wandt er als Bittermann und Major seine Reden, und antwortete in ihrem Namen, und sooft sie abgehen sollte, warf er das Gewand wieder über. So näherte er sich der pathetischen Erkennung, und die rührende letzte Versöhnung schloß damit,[266] daß er wirklich weinend und schluchzend den Haubenkopf in die Arme nahm, laut rief: »Ich vergebe dir!« und ihn dann wieder an seine Stelle in das Schlafzimmer trug.

Den beiden Reisenden hatte der Scherz schon zu lange gewährt; der Wirt schüttelte bei jeder Szene den Kopf, und war immer nur über diese Anstalten und die Unermüdlichkeit des Künstlers verwundert; die Wirtin aber war heftig bewegt und weinte laut. Der erhitzte Deklamator kam zurück, und da er die Rührung der Frau sah, nahm er ihre Hand und küßte sie zärtlich. »Dies ist der schönste Lohn des Künstlers«, sagte er, selber gerührt. »Ja«, schluchzte die korpulente Frau, »es ist wirklich gar zu trübselig, daß ein Mann, der so reputierlich einhergeht, sich so sauer sein bißchen Brot verdienen muß.« »Darüber«, fragte der Schauspieler empfindlich, »haben Sie geweint?« »Worüber denn sonst?« antwortete sie: »sehn Sie nur selbst, wie heiß Sie geworden sind.« Der Künstler wandte sich unwillig von ihr, und sagte zu Leonhard gewandt: »Auf diese Art kann ich die berühmtesten Meisterwerke der deutschen Bühne darstellen, ohne alle andere Beihülfe, besonders bequem lassen sich die Räuber so spielen, vorzüglich nach der ersten Ausgabe, in welcher die Brüder nicht zusammenkommen; auch Macbeth und die Braut von Messina; die Iphigenia macht etwas mehr Schwierigkeit.«

»Es ist ein erfreulicher Anblick«, sagte der Baron, »wie unser deutsches Theater sich immer mehr in seine wahren und ursprüglichen Bestandteile auflöst; ehemals hatte wir nur Melo- und Monodramen, aber jetzt sehn wir so häufig ein epigrammatisches Stück von zwei oder drittehalb Personen mit leichtem Witz über Eitelkeit, Eifersucht, Schwachheit der Männer und Weiber (der Fall Adams, kann man wetten, kommt in jedem vor), und es läßt sich darnach an, daß wir auch derlei schönbeschränkte epigrammatische eng zusammengezogene Tragödien erhalten werden, wozu wenigstens schon ein löblicher Anfang gemacht ist, in welchem ein Messer, ein Nagel, oder eine Uhr eine große Rolle spielen müssen. Noch erfreulicher aber ist es daß selbst große Meister oft auf dem Theater oder in Musiksälen die sogenannten Deklamatorien geben und was sonst nur Schüler zur Übung in Schulen taten, eine Fabel oder ein erzählendes Gedicht hersagen oder ablesen. Wird Musik dazwischen gemacht, etwa gar eine Symphonie, so ist der Genuß einzig, und das sonderbar Widersprechende des scheinbar Läppischen ist es gerade, was in unschuldigen und kindlichen Menschen eine ganz vorzügliche Ergötzung und Rührung hervorbringt.«[267]

»Sie sprechen ganz wie ein Kenner, mein gnädiger Herr«, sagte der Kunstmann, und empfing von Leonhard, vorzüglich aber vom Baron weit mehr, als er für seine Bemühung erwartet hatte. Nach einer zu tiefen Verbeugung sagte er: »Wahrlich, meine gnädigen Herren, Sie übertreffen noch meinen großmütigen Patron und Mäzen, der im Reiche sich und der Heiterkeit lebt, den lebensfrohen Liebling der Musen und der Scherze, den liebenswürdigen Wassermann.« Er empfahl sich, um zu essen und sich niederzulegen; die beiden Freunde begaben sich auch auf ihr Zimmer, und der Baron sagte: »Wir dürfen stolz sein, mit diesem, wie ich sehe, berühmten Sokrates in eine Klasse gestellt zu werden, in welchen sich eben der benachbarte König am Schluß des Stückes verwandelt hat.« – »Der Mensch hat mich völlig verstimmt«, sagte Leonhard. – »Vielleicht«, fragte der Baron, »weil er nicht zünftig ist? Weil sich dir so herrlich die freie ungebundene Kunst in ihm dargestellt hat? Ich bin vergnügt, denn ich gestehe dir, ich habe die Eulalia fast noch nie so würdig dargestellt gesehen, als seine Gehülfin sie uns zeigte; diese Milde und Ruhe im vollen großen Auge, dieser gehaltene Ernst, diese stille Würde, selbst bei einigen sehr anzüglichen Redensarten, die sie anhören mußte; und es ist nur zu bedauern, daß dieses großzügige fast antike Spiel in keinem der Theater-Almanache psychologisch und künstlerisch wird gepriesen und entwickelt werden; aber ich kann nur soviel sagen, mir ist dadurch über diesen Charakter ein neues Verständnis aufgegangen, und ihr unbegreiflicher Fall, ihre Reue und Besserung, sowie die Versöhnung erscheinen mir jetzt recht sehr begreiflich.«

Man scherzte beim Abendessen und Wein; dann trennten sich die Freunde, und jeder begab sich in sein Zimmer und zur Ruhe.

Die Freunde hatten von der letzten Stadt aus Post genommen, um schneller zu reisen, und befanden sich am dritten Tage schon in Bergen und anmutigen Wäldern, mit frisch grünen Talen und rinnenden Quellen aus bemoostem Gestein. Sie waren erfreut über die wechselnden Aussichten, sie unterhielten sich von der Lieblichkeit der Natur, und der Baron erzählte vieles von seinen Reisen. Diese Geschichten erweckten auch in Leonhards Seele die frohesten Erinnerungen, und so entschwanden ihnen die Stunden, die Meilen; Dörfer und Städte, Berge und Wälder glitten ihnen vorüber, wie im lieblichen Traum.

Von einem der höchsten Punkte des Gebirges, den sie am vierten[268] oder fünften Tage ihrer Reise erreichten, entdeckten sie ganz in der Ferne die fränkischen Berge. »Dort liegt mein geliebtes Land«, rief Leonhard aus, »das ich eine lange Zeit wie mein Vaterland geliebt habe, wo ich einst zu wohnen träumte, und das mir mit einem unerklärlichen Zauber an die Seele geheftet ist, obgleich ich seitdem wunderbarere, reichere und schönere Gegenden gesehen habe.«

»Es ist«, sagte Elsheim, »mit der Liebe zur Natur und zu Gegenden, wie mit jeder Liebe, sie hat etwas Unerklärliches; dergleichen kann und soll auch nie begriffen werden, denn im Geheimnis liegt ein höheres Verständnis. Auch gibt es gewiß zur Natur Sympathien und Antipathien, und mir stehn die schönen Gegenden geradeso individuell vor meiner Seele, wie verschiedene liebe Menschen und befreundete Wesen.«

»Das ist eine sehr richtige Beschreibung«, sagte Leonhard, »und jede schöne Gegend, der wir uns mit Rührung erinnern, zieht uns mit einer ganz eigentümlichen Sehnsucht an, die bei mir so stark werden kann, daß ich in der Einsamkeit über Landkarten, Bildern oder Beschreibungen in gewissen bewegten Stunden Tränen vergieße. Es ist, als zieht mich dieses Tal, jener Berg, ein altes Schloß, die Höhe mit der wundervollen Aussicht, wie mit Gewalt zu sich, und ich bin gerührt, wenn ich mir denke, daß ich diese Freunde wohl nie wiedersehe.«

»Mit Kunstwerken«, sagte Elsheim, »geht es uns ebenso; wie oft stehe ich mit meinem Geiste auf meinen Lieblingsstellen in den Galerien, sehe ich diese dann einmal wieder, so empfängt mich auch dort eine gewisse Heiligkeit, ein alter Gruß, wie das vertrauliche Reichen der Hand von einem Geiste. O mein Freund, was könnte der Mensch außer sich und in sich für ein edles, gediegenes, verklärtes Leben führen, wenn er nicht so viel der Zerstreuung, dem Leichtsinn, dem Zeitverderb und leerem Müßiggange opferte!«

»Lieber«, sagte der junge Meister, und faßte des Freundes Hand, »wie teuer wirst du mir mit solchen Worten! Warum bist du denn selbst oft auf gewisse Weise leichtsinnig, daß du mir gleichsam den edleren Geist in dir zu verhöhnen scheinst?«

Elsheim errötete leicht und sagte: »Bester, du kennst die Geschichte mit der Katze, die in eine schöne Prinzeß verwandelt ward, sich aber in ihrer erhabensten Umgebung vergaß, wenn sie eine Maus laufen sahe. So geht es leider mir, nach den schönsten Stunden, ja während denselben; und lieber springe ich denn doch den Mäusen nach, als daß ich mein ehemaliges Katzenwesen in[269] mir durch Heuchelei überkleidete. Diese ist überhaupt das Laster, welches ich am meisten hasse, vielleicht übertreibe ich zuweilen meine geringere Natur in Gegenwart von Heuchlern, um ihnen nur nicht gleich zu werden. Und wie jede Frucht ihre Reife nur zur rechten Zeit erlangt, so auch im Menschen; meine Stunde hat noch nicht geschlagen, die rechte Mittagssonne hat mich noch nicht getroffen, soll es sein, so wird sie mich schon auch zu rechter Zeit finden.«

»Wir sollen aber immer ernsthaft wollen«, sagte Leonhard: »dasein, in uns, gesammelt, damit uns diese Sonne treffen und durchwürzen könne.«

»Liebster, Bester«, rief Elsheim halb scherzend, halb im Eifer: »nur verlange ums Himmels willen nicht von mir diese steifen, rechtwinkligen und aufgezimmerten Zurüstungen zur Bildung, mit denen sich so viele unserer gutmeinenden Landsleute abquälen, und munter wie die Eichhörnchen in dem Sparrwesen auf und nieder klettern. Oder sie holen, wie die Kanarienvögel, an der Kette selbst ihren Glasbecher mit Wasser und Hanfsamen abgerichtet herauf, oder picken wechselnd religiöse Stimmung und Geschichtsansicht heraus, und saufen dazu ein Schlückchen Poesie und Mystik, und recken den Hals in die Höhe, um es hinterzubringen, wetzen dann scharrend den Schnabel am Draht, um in Scharfsinn und Kritik nicht zurückzubleiben, und knuspern an Festtagen mit besonderm Bewußtsein am Zucker der Liebe. Das Schauspiel ist aber nur für den, der es ansieht, auf einige Minuten spaßhaft, nicht für den gelangweilten Vogel selbst. Nein, Lieber, dieser Schnupfen der Zeit, der nichts tut, als sich im wohlriechenden Tuch der Bildung mit Zierlichkeit schneuzen und selbst das Unsichtbarste, Fernste und Glücklichste, das dem Sterblichen nur in blitzenden Momenten der Entzückung wie eine sondre Gabe der Göttin gegönnt ist, als Nektar, den sie im Obermut herunterschütten, und wovon man wohl einmal, indem man fast dumm in den blauen Frühlingshimmel schaut, ein Mäulchen aufschnappt, diese Dumpfheit, wie gesagt, daß sie auch diese Lebensmomente im Eisenkäfig ihres Bewußtseins auffangen und festhalten wollen, dieses mißverstandene Wesen wolle mir nicht ankurieren, wenn ich dich nicht für einen Wunderdoktor halten soll.«

»Wer spricht davon«, sagte Leonhard lachend, »nur-«

»Ich verstehe dich«, rief der andere aus, »und freilich- bei alledem – indes – denn wenn – und so weiter, mein Freund, die wahren Minister-Vertröstungen der Altklugheit, wenn sie nichts[270] geben mag und sich abzuschlagen scheut, um nicht an Ansehen einzubüßen. Bist du imstande, ein Butterbrot zu essen, und in jedem Augenblicke zu wissen, jetzt schmeck ich die Butter, jetzt wieder das Brot, so will ich dir vollkommen recht geben. Und nun gar Braten hinaufgelegt! Bester, wie kompliziert, verwickelt, geheimnisvoll ist dann das Wesen, und keiner Auseinandersetzung fähig. Käue! schluck! rufe ich nur, und es wird dir bekommen; beim Grübeln möchte es gar in die unrechte Kehle fallen, und ein erschreckliches moralisches Husten veranlassen.« – Sie lachten, und damit war das Gespräch geendigt.

Nach einer Pause fing Elsheim wieder an: »Du siehst also, daß ich in Hoffnung stehe, bald Früchte zu tragen, oder ein solider Mann zu werden, welches eben deshalb sehr wahrscheinlich ist, weil ich bisher meinem Leichtsinn etwas zu viel nachgegeben habe; aber wie ist es denn mit dir, mein Bester, der du schon seit so vielen Jahren in dem Wagen des Ernstes und gründlicher Bürgerlichkeit ziehst? Wirst Du denn nicht vielleicht zur Abwechselung einmal ausspannen, und ohne Zügel und Zaum nackt ins Feld laufen, um vorn und hinten auszuschlagen? Es ist dieselbe Wahrscheinlichkeit wie bei mir, da dies Umändern die natürlichste Sache von der Welt ist. Überhaupt, du Gründlicher, hast du noch nie in deinem Leben einen recht eigentlich dummen Streich gemacht?«

»Was wollen wir so nennen?« fragte Leonhard.

»Die Definition ist schwierig«, sagte der Baron, »jeder Stand, jedes Alter, jeder Mensch denkt sich etwas anders dabei. Der Vornehme, wenn jemand eine Mesalliance schließt, der Bürgerliche, wenn einer sich ohne großes Vermögen adeln läßt, der Geistliche, wenn ein Kandidat früher Vater als Pfarrer und Ehemann wird, und der Bauer, wenn ein Sohn ungezwungen unter die Soldaten geht. Den einzelnen Menschen charakterisiert es sehr, was er damit bezeichnen will, er sucht gegenüber die verständigen Streiche auszuführen, wie der Wucherer, der jemand ohne Zinsen Geld leihen einen ausgemacht dummen Streich nennt. Gehn wir also lieber zu den tollen Streichen über, zu den recht bizarren, wunderlichen, auffallenden, und frage dein Gewissen; denn das Wort ›dumm‹ ist wirklich ein dummes Wort, und man wird dumm, wenn man sich etwas dabei denken will.«

»Ich kann mich nichts entsinnen«, sagte Leonhard, »sosehr ich auch suche; der Gedanke kömmt mir wirklich heut zum ersten Male, daß man in eine solche Gefahr geraten könne; wie sehr ich alles, auch das Seltsamtste, an Fremden begreiflich und verzeihlich[271] fand, so wäre mir alles der Art an mir unbegreiflich und unverzeihlich vorgekommen.«

»So bist du hierin wieder viel besser als ich, denn ich habe lange an mir mit diesem tollen Egoismus kämpfen müssen, daß ich vieles Auffallende und Unregelmäßige an Fremden unverzeihlich fand, und mir selbst die widersinnigsten Dinge in Gedanken für erlaubt und sogar edel hielt, weil ich mir so viel besser als die andern vorkam. So wollte ich einmal für einen Bekannten einem schlechten Mann seine Frau entführen; ein andermal wollte ich mich sogar mit der Tochter eines stolzen adligen Hauses verheiraten, um mich gleich wieder scheiden zu lassen und sie einem verliebten Freunde abtreten zu können; aber es kam nicht zur Ausführung der Tollheiten, die jedoch die größten Plane sind, zu denen ich mich verstiegen habe.«

»Ich kann von mir nichts anführen«, sprach Leonhard, »als daß ich in meiner Jugend, ohne bestimmtes Talent dazu, einmal Schauspieler werden wollte.«

»Das ist mehr eine Kinderei gewesen«, sagte der Baron. »So sitzen also,« fuhr er mit ernster Stimme und bedenklicher Miene fort, in diesem kleinen Wagen zwei der vernünftigsten Männer des deutschen Reichs, welche, ohngeachtet sie noch jung sind, doch dem ehrbaren Wandel tugendhafter Altvordern nachgeahmt und nachgeschritten; nur hält man es für möglich, daß gerade jetzt das Schicksal mit einem Blicke herunterschaut, welchem Kenner eine gewisse Ironie zuschreiben wollen, und daraus schließen möchten, aber vielleicht voreilig, daß sie jetzt auf der Wallfahrt nach Mekka begriffen sind, die jeder gute Muselman wenigstens einmal getan haben muß, um sich auch mit der grünen Binde schmücken zu dürfen, und wie andere von wunderbaren Dingen erzählen zu können. Ja, wenn uns nun gar jener Tollheits-Geist erschiene, um uns mit dem verfluchten Versprechen anzuschnauzen: »Bei Philippi wirst du mich wiedersehn!« möchten wir ihm so kaltblütig wie Brutus antworten: »Nun, so werde ich dich wiedersehn!«

»Wahrlich, Freund«, rief Leonhard, »dein ängstlich gesuchter Scherz könnte mich ängstlich machen, daß uns so was bevorstehen möchte, wenn ich nicht an meinen guten Dämon glaubte.«

»Wie, wenn derselbe nun«, fuhr Elsheim fort, »nur auf ein Stündchen etwa zu den Äthiopen, den frömmsten der Menschen, wanderte, um sich auch einmal einen guten Tag zu machen? Doch, ernsthaft gesprochen, findest du es denn nicht auch, der alles Alte verteidiget, von unsern Vorfahren gut und recht getan,[272] daß sie beizeiten zugriffen, um nicht das erste Feuer verrauchen zu lassen, und in früher Jugend ihre tollen, oder dummen, oder Narrenstreiche abzumachen? Wozu auch, vernünftig gesprochen, das Zaudern, das Hin- und Hertreten, das unnütze Händereiben und zweifelnde Umschauen? Da gilt's kein Bartwischen; opfre dein schwaches Selbst, so ruft die Pflicht, dem hohen Beruf, laß fahren die falsche Scham, zu früh weise sein zu wollen, stirb wie Codrus für dein Vaterland, und komm, bist du in den Strom gesprungen, der dich mit seinen Wirbeln einzieht, besser, richtiger und verständiger jenseit wieder zum Vorschein! Das heißt doch noch Haushaltung und Sparsamkeit, statt daß wir jetzt die Sache auf den Kopf stellen.«

»Wenn es sein müßte«, sagte Leonhard, »so laß unser Bestreben sein, uns auch darin mit Anstand zu fügen; ich glaube aber für mich an keine Gefahr, doch scheint mir unter deiner Warnung davor eine Lust darnach verborgen zu liegen.«

»Nein, mein Lieber«, rief der scherzende Freund, »ich käme ebensogern wie jedes Mädchen mit Ehren unter die Haube, um dann mit Seelenruhe unter den Pantoffel zu kommen; aber in der gestrigen Nacht schien mir eine so seltsame Konstellation am Himmel, daß ich wenigstens auf alles gefaßt bin. Doch schau umher, wie wunderbar diese Bäume und Felsen unser Geschwätz anhören, wie lächelnd die fernen Berge herüberschauen, und wie heilig der Glanz der Landschaft uns dräut, daß wir dem Tempel nicht mit würdigern Gedanken huldigen. O verzeiht uns, meine Freunde, ihr habt freilich den Terenz nicht gelesen, und könnt daher auch nicht sprechen: Homo sum, humani nil a me alienum esse puto, eine Stelle, die mancher Affe oder Hund seitdem sehr gemißbraucht und abgenutzt hat.«

»Wie kömmst du nur zu dieser seltsamen ausgelassenen Laune?« fragte Leonhard.

»Vielleicht«, rief der Freund, »weil wir uns schon mehr und mehr den Weinländern nähern, und weil durch dieses Schütteln und Rütteln auf den Steinen dieses holprigen Weges mir so manche Erinnerung, manche Empfindung losgemacht wird, die ich ganz vergessen hatte, weil sie schon so fest eingewachsen war, und die nun wieder in mein Gedächtnis und meinen Wörtervorrat hineinfällt. Außerdem habe ich heute morgen des guten Weines etwas viel genossen, der jetzt erst nachwirkt. Doch auch dieser Moment geht vorüber, in dem mir wohl war, und ich sehe schon immer deutlicher und wie im Zusammenhange eines Gemäldes die herrliche Landschaft vor mir. Du mußt damals so[273] ziemlich diesen nämlichen Weg gemacht haben, als du das erstemal Franken besuchtest; in jener Zeit, nachdem du so kürzlich erst über die Schwelle des Jünglings geschritten warest, hätte ich wohl mit dir sein mögen, da du vorher noch gar keine Gebirge kanntest, um deine Entzückungen mit dir zu teilen.«

»Die erste Reise«, erwiderte Leonhard, »hat viele Ähnlichkeit mit der ersten Liebe, und um im Bilde zu bleiben, so geschah in den gesegneten Fluren Frankens das Geständnis zwischen mir und der Natur. Man reiset auch nachher wieder, man ist wieder entzückt, man sieht und lernt, und kann wahrhaft glücklich sein, aber jener erste Jugendzauber ist doch auf immer entflogen. Ich hatte manches über Deutschland und seine schönen Gegenden vorher gelesen, vorzüglich hatte ich mich mit den alten Bergschlössern und ihren Schicksalen bekannt gemacht, aber am gewaltigsten trieb mich, wie du es weißt, der Götz von Berlichingen, um sein Bamberg, ja töricht genug, Weislingens Schloß und Götzens Heimat aufzusuchen. Bei Eisenach auf der Wartburg erschien mir zuerst die hohe Jungfrauengestalt der vaterländischen Naturschönheit. Dieser Blick in die grüne Taleinsamkeit, in die Unendlichkeit der Eichen- und Buchenwälder, diese schöngeschwungenen hohen Hügel, vom tiefen Fenstersitz oben im alten Zimmer rief mir alle Erinnerungen und Rührungen zurück; ich horchte auf die Legende von der Elisabeth, und besuchte ihren Brunnen unten am Berge, auch Luthers Zimmer, was mich aber nicht so erfreute, weil er mir in keinem poetischen Lichte erscheinen konnte, dort, in der Umgebung der alten Ritterwelt. Zwar war ich ein eifriger Lutheraner, und mein Vater, der es noch mehr war, hatte für den Doktor die ungemessenste Hochachtung, aber eine desto größere Geringschätzung gegen den Teufel, so daß er seinem Patron den nachgiebigen Glauben an diesen nie vergeben konnte, und gern die oft erzählte Geschichte mit dem Dintenfasse ganz aus dessen Leben gestrichen hätte. Daher sahe ich den schwarzen Fleck an der Wand auch ohne alle Andacht. Aber in Rausch der Entzückung versetzte mich die Höhe des Thüringer Waldes mit seinen herrlichen Tannen, die von oben wie unübersehbar sich immer weiter und höher auf dem herrlichen Bergrücken ausbreiten. So kam ich durch Hildburghausen und Coburg, und näherte mich nun dem vielgeliebten Bamberg.

Herz und Brust wurden mir erweitert, als ich die langersehnte Grenze betrat. Die Gläubigen, die zum heiligen Grabe wallfahrten, müssen eine ähnliche Empfindung haben, wenn sie sich dem[274] geweihten Boden nähern. Es war kurz vor dem Frohnleichnamsfeste, als ich in die katholische Stadt eintrat, die unter ihrem geistlichen Fürsten einen ganz andern Charakter, wie die sie umgebende Welt hatte. Mein gutmeinender Vater hatte mich vor meiner Reise ermahnt, ja nicht bei Gelegenheit der Feste in katholischen Städten zu lachen, weil ihm dies, als einem reinverständigen Mann, der seinen Anteil an der damals entstehenden Aufklärung schon frühe genommen hatte, nicht unnatürlich vorkam. Es war aber gut, daß er nicht zu gegen sein konnte, denn gewiß hätte er über meine Rührung und Erhebung bei den Prozessionen, der Musik, den Posaunen und den singenden Chören, bei diesen auf den Straßen geschmückten Altären, bei der betenden Volksmenge, welches alles mich bis zu Tränen begeisterte, seinen Zorn gegen diesen Götzendienst, wie er dergleichen nannte, und noch mehr gegen mich ausgelassen. Ich nahm Arbeit in dieser Stadt, und blieb lange dort, denn die Menschen, die Gegend, die alte Ruine, der Dom, die Spaziergänge umher, alles gefiel mir so sehr, umgab mich mit solcher eignen Rührung und Anmut, daß ich manchmal wünschte, mein Leben dort zu beschließen.«

»Wie dir Bamberg«, sagte Elsheim, »so ist mir Heidelberg eine der liebsten Erinnerungen meiner Reisen. Es gibt Gegenden, bei denen uns ist, als hätten sie schon seit Jahren mit rechter sehnsüchtiger Liebe auf uns gewartet, oder als sei seit lange unser Geist schon dort einheimisch gewesen, so bekannt, so lieb ist uns alles; dieser schöne Ort mit seiner herrlichen Ruine, Baden-Baden und die Neckartäler, vorzüglich die Gegend um Hornberg sind nächst den Rheinufern das Lieblichste, was ich in Deutschland kenne, denn auch das warme Klima gehört dazu, um eine Gegend wahrhaft schön zu machen.«

»Ja wohl die Neckartäler«, sagte Leonhard, »denen ich meines geliebten Götz wegen nachreisete, wohl sind sie so poetisch wechselnd, so schön geschwungen, so lieblich von dem herrlichen Strome durchfrischt, daß man dort so recht von süßen Empfindungen und Erinnerungen eingewiegt und eingesungen wird. Erinnerst du dich gleich hinter Heidelberg der schönen Täler bei Neckarelz mit ihren kleinen Wasserfällen und rinnenden Bächen; des sonderbaren Dilsberg; am Neckar hinunter kommt man dann nach Hirschhorn, einem sehr alten Schlosse, und Eheheim, dann nach Hornberg, wo der alte treuherzige Götz eigentlich lebte, und in dessen Ruine, die noch leidlich erhalten ist, ich mich einige Tage aufhielt man hätte damals mit wenigem Geld das alte Haus gegen Wind und Wetter bedecken können. Hier herum[275] sind herrliche Wälder, auf der einen Seite nach dem Flusse die Weinberge; von da ging ich nach Heilbronn, wo ich den Saal des Rathauses anders fand, als ich mir ihn vorgestellt hatte; ich sah und las dort einige Briefe des Ritters, die er dem Rat mit seiner linken Hand geschrieben hat, und die freilich anders lauten, als unser Dichter ihn mit diesen Herren sprechen läßt. Von hier ging ich über Mergentheim, und suchte an den zerrissenen kiesigen Ufern der Jagst das unten beschränkt liegende Jagsthausen auf, wohin Goethe die vorzüglichsten Szenen seines Gedichtes verlegt hat, obgleich der Ritter nur in seiner frühen Jugend dort lebte. Hier sah ich seine eiserne Hand, die in einem neuen Hause seine Nachkommen aufbewahren. Das Kloster Schönthal hat eine frische grüne Einsamkeit um sich her, und im Kreuzgange steht auf dem Grabe des Ritters sein ungeschickt ausgehauenes Bildnis, nach welchem, wenn es irgend treu ist, sein Gesicht ein ziemlich unbedeutendes muß gewesen sein.«

»So sonderbar oder rührend, schaurig oder sehnsüchtig«, sagte der Baron, »uns die Eindrücke der Landschaften auch bleiben mögen, und so individuell, wie du vorher sagtest, wie wirkliche Menschen, so sind die Gegenden doch wohl mit dem schönsten Glanz umgossen, sehn am meisten mit winkenden Blicken nach uns zurück, wo ein kleines Abenteuer, eine Szene der Zärtlichkeit, eine anmutige Bekanntschaft, oder ein freundlicher Kuß uns begegnet sind. Hast du diese Bemerkung nicht auch gemacht?«

Leonhard wurde rot und wollte antworten; aber sein Freund fuhr fort: »Gewiß, mein Freund, denn alsdann ist es, als stiege die Seele der Landschaft sichtbar zu uns empor, und ich kann mir vorstellen, daß wenn ich einmal wahrhaft liebte, mir jeder Strauch, jeder Baum, jedes Gräschen eine heilige Stelle, ein ewiger Frühling, ein Orient und Land der Wunder und der Religion werden würde. Fast, du Zurückhaltender, muß ich glauben, daß in oder bei Bamberg, wenn auch nichts Leidenschaftliches, doch etwas recht Zärtliches vorgefallen ist. Erzähle; es ist eine so schöne, heitre Beichtstunde, und es kann sein, daß mir nachher auch etwas beifällt.«

Leonhard sagte nach einigem Zaudern: »Warum sollte ich es dir verschweigen, da diese Erinnerung meiner Jugend mir so wohltut, ohne mich zu beschämen? Schon am Tage der Frohnleichnams-Prozession fiel mir eine junge weibliche Gestalt auf, von einer Schönheit, wie man sie wohl zuweilen auf alten Gemälden zu sehen pflegt. Sie war groß und stark, aber doch schlank gewachsen, ihr Gesicht oval, ihr Haar dunkelbond, von[276] einem rötlichen Goldschimmer durchzogen, die Augen groß und dunkelblau, und die Farbe von der durchsichtigsten Zartheit. Sie war unter dem betenden und singenden Volke, und ging neben einem bejahrten Mann und einer ältlichen Frau, die Handwerker oder Landleute, und ihre Eltern zu sein schienen. Ihre Andacht und Rührung hatte etwas so Mildes, das so lieblich gegen die meisten Gesichter umher auffiel, daß ich mit dem Zuge ging, und meine Augen sie unfreiwillig immer wieder aufsuchten. Einigemal schien mich ihr heller Blick zu treffen. Ich folgte ihr in den großen Dom. Hier ergriff mich die Musik noch gewaltiger, die Messe und der Pomp der Priester dünkten mir etwas sehr Ehrwürdiges; ich stand in ihrer Nähe. Wundersam ergriffen ward ich hier von ihren Augen, und meine Gedanken wurden Gebet und Liebe; die Gemeine kniete nieder, sie sank in einer himmlischen Stellung demütig hin, und ein streifender Blick glitt an mir vorüber, der mich ebenfalls niederzog. Ich war erschüttere. Plötzlich reichte sie mir einen Rosenkranz, indem sie unten das Kreuz küßte, weil sie meine Hände leer sah, und ich beschämt und unwissend verstand nur ihre freundliche Meinung, aber nicht, den Zeremonien auf die gehörige Art zu folgen. Als der Gottesdienst zu Ende war, ging ich mit dem Strom des Volks aus der Kirche, aber in dem Wellenschlag des Gedränges verlor ich sie aus den Augen, und als ich auf die Straße trat, war sie nirgend mehr zu sehn. Es war mir, als wenn mir plötzlich alles fehlte, ich suchte sie in allen Gassen, vor den Toren, in den Kirchen, wo ich nur Leute wahrnahm oder vermuten konnte, aber sie war mir entschwunden.«

»Und der Rosenkranz des frommen Kindes?« sagte Elsheim.

»Blieb natürlich in meinen Händen«, antwortete Leonhard; »ich konnte ihn nicht ohne Rührung betrachten, und ließ ihn niemals von mir kommen.« – Er öffnete ein kleines geheimes Fach seiner Brieftasche, und überreichte ihn seinem Freunde. »Dieser nämliche«, sagte er lächelnd, »ist es, mein Friedrich.«

»Dieser«, sagte Elsheim, »und den trägst du noch jetzt nach zwölf oder dreizehn Jahren bei dir? Du bist zum Sammler geboren. Sonderbar! Aber die Geschichte ist doch damit noch nicht zu Ende?«

»Freilich nicht«, fuhr Leonhard fort, »denn sonst hätte ich doch den Paternoster schwerlich so sorgfältig aufgehoben. Es waren wohl sechs Wochen verflossen, als ich an einem Sonntage durch die einsame Gegend streifte. In der Nähe des kleinen Flusses, von schönen Hügeln umgeben, liegt ein Dörfchen, aus dem[277] ich gegen Abend Tanzmusik herschallen hörte. Ich folgte dem Ton und fand eine frohe Gesellschaft von Landleuten, und die Jugend um die Linde im Tanz sich schwingend. Schon wollte ich mich vom Getöse wieder entfernen, als ein Gezänk mich aufmerksam machte; ein halbtrunkner junger Mensch stritt nämlich mit einem andern um die Tänzerin, auf welche jeder Ansprüche machte; der Gegner war schwächer und blöder, und der Trunkene schien stark und von den Anwesenden gefürchtet; mit einer heftigen Gewaltsamkeit stieß er den zweiten Tänzer zurück und fuhr auf das Mädchen schreiend los, die ihm auswich. Jetzt erst erkannte ich sie wieder, sie war es selbst, die ich so lange vergeblich gesucht hatte. Fast ohne zu wissen, was ich tat, sprang ich in den Kreis, und riß den Störenden zurück, der nicht wenig verwundert sich zur Wehre setzte. Wir rangen miteinander, und er bot im Zorne alle seine Kräfte auf, aber da ich gewandter war, gelang es mir endlich, ihn niederzuwerfen, worauf denn der Friede so geschlossen wurde, daß er die Gesellschaft verlassen mußte. ›Wir sind Euch‹, sagte der alte Vater des Mädchens, ›großen Dank schuldig, junger Mann, daß Ihr Euch als ein Unbekannter meiner Tochter so wacker angenommen habt, und der Raufer wird nun gedemütigt sein, daß er doch endlich seinen Stärkern gefunden hat, da er uns mit seiner Unverschämtheit jedes Fest und jeden Tanz verstört.‹- Ich war ermüdet und man reichte mir Getränk, das Kunigunde, so hieß die Tochter, mir selber freundlich einschenkte. Nachher ward ich mit in den Tanz gezogen, und die übrigen Bursche schienen mir ohne Neid das schöne Mädchen zur Gefährtin zu überlassen, weil ich mich durch die Besiegung jenes Zänkers bei allen in Achtung gesetzt hatte.

Ich schwatzte nachher in der Dämmerung und Finsternis mit den Alten, das junge Volk fing ein Pfänderspiel an; Kunigunde wußte es so zu machen, daß, wie ich auch die übrigen Mädchen herzte, ich doch niemals einen Kuß von ihr erhielt. Ich war empfindlich und sie lachte mich aus. Die Nacht trennte uns, und sie begleitete mich auf den Weg. ›Kennt Ihr mich noch wieder?‹ fragte sie. Ich erwiderte, daß ich sie nicht vergessen hätte, und nur froh sei, daß ich ihr nicht ganz fremd erschiene. Sie hatte meine Empfindlichkeit bemerkt und sagte: ›Lieber Freund, was kann man nur in der Gesellschaft, bei dem dummen Herumküssen an einem Kusse haben, besonders von jemanden, dem man etwas gut ist? Liegt Euch daran, so gebt mir jetzt, da wir allein sind, einen recht lieben Kuß, und ich will so Abschied von Euch nehmen.‹ Ich drückte zitternd meine Lippen auf den vollen roten Mund,[278] und verließ sie mit schwerem Herzen, indem ich nachdenkend durch die Finsternis langsam zur Stadt zurückging.

Jetzt schwebte mir immer die tanzende Gestalt vor den Augen, denn noch nie hatte ich so lebendige, zierliche Bewegungen gesehen, eine solche Freude, die sich oft bis zum Mutwilligen erhob, und plötzlich dann wieder zum stillen Ernst und sanfter Milde zurücksank. Ich besuchte das Dörfchen wieder, und wurde bald mit den Eltern, welches gute Leute waren, vertraut. Die Tochter behandelte mich wie einen Bruder oder längstgekannten Freund. ›Daß du nicht zu unserer Religion gehörtest‹, sagte sie zu mir an einem Nachmittage, ›hättest du mir nicht zu sagen brauchen, denn ich bemerkte es schon in der Kirche; deine Andacht war zu neu und still, ich sah, daß du alles unrecht machtest und nichts von der Messe verstandest, und weil um dich her Leute standen, die sich für gar zu fromm hielten und an deiner Unwissenheit Anstoß nahmen, reichte ich dir den Rosenkranz, um dich mit ihnen mehr zu befreunden. Behalt ihn zu meinem Angedenken. Hier schildern uns viele‹, fuhr sie fort, ›die Fremden aus den andern Ländern, die sie Ketzer nennen, als erschreckliche Menschen; ich habe nie daran glauben können, und seit ich dein stilles, frommes Gesicht kenne, noch weniger. Meine Eltern aber, so gut sie dir sind, werden traurig, sooft sie daran denken, daß du kein Katholik bist, und also verlorengehen mußt. Wie können die Menschen nur so viel Liebe und Haß zugleich in ihrem Herzen haben?‹

Es schien bald, daß wir beide einander unentbehrlich wurden, und auch die Eltern gewöhnten sich an meine Gegenwart. Ich achtete ihre Gebete und Sitten und störte sie durch keine fremde Äußerung, sonst vermieden wir alle das Gespräch über Religion. Mein Zustand war sonderbar dunkel und heftig; ich konnte oft den Augenblick nicht erwarten, bis ich wieder bei ihr in der Stube, neben dem Spinnrade, oder in der Laube saß, oder sie in den Garten begleitete, und die kleinen Geschäfte des Früchtesammelns, Blumenanbindens und dergleichen mit ihr teilte. Oft genügte mir doch diese stille Gegenwart nicht, und ich forderte Kuß und Umarmung; ihre Schönheit, ihr großer Blick aus den hellen Augen, ihr Händedruck beängstigten mich, ja ich konnte wohl zuweilen meine Entfernung beschleunigen, sosehr ich auch nachher beklagte, nicht in ihrer Nähe zu sein. Ich fühlte, daß sie mich liebte, aber von diesem sonderbaren Zauberbann, von dieser Angst und Verwirrung war sie gänzlich befreit; ihr war so recht herzlich wohl, wenn ich bei ihr war, ihr herrliches Gemüt[279] und ihre schöne Ruhe forderten nichts weiter. Es tat ihr wohl, mit mir über alles sprechen zu können, und mancherlei Kenntnisse und Gedanken zu sammeln, die sie in ihrer Umgebung vermißte, dabei empfand sie so ihre reine Hingebung in mein Wesen, daß sie nichts vermißte. Sie sagte mir oft, wie glücklich sie sei, seit sie mich kennengelernt habe, wie sie sich jetzt ihres Herzens und ihres Verstandes bewußt werde, und selbst ihre Religion ihr in höherm Glanz erscheine. So verging der Sommer mir in schönem Glück und freundlichen Stunden; doch war es uns aufbehalten, auch Schmerz und Unlust kennenzulernen.

Jener wilde Mensch, der bis dahin die Rolle eines Unbesiegbaren gespielt hatte, der sich alles erlaubte und dem nur selten jemand widersprach, konnte mir mein Glück oder meine größere Stärke nicht vergeben. Er hatte geschworen, Rache an mir zu nehmen, und Kunigunde warnte mich oft vor ihm. Der unbändige Mensch trank viel und war im Rausche furchtbar, weil er dann jede Rücksicht vergaß, um nur seiner Wut genugzutun. In dieser Stimmung hatte er sich mit einem Knittel bewaffnet, um mir im Eichenwalde auf dem Fußsteige aufzulauern, an einem Tage, an dem er wußte, daß ich hinauskommen wollte. Kunigunde war mir entgegengeeilt, damit ich ihm auf einem andern Wege entgehen könne, der Wilde aber hatte sie gesehen, und ihren Vorsatz geahndet. Welche Szene bot sich mir dar, als ich auf dem wohlbekannten Pfad aus dem Walde trat, um den Fluß hinunterzugehn! Sie rang mit dem Wahnsinnigen, der ein tierisches Gebrüll ausstieß und sie in seinen starken Armen hielt; sie hatte das Tuch verloren, und der blendende, von mir so heilig geachtete Busen glänzte jugendlich in dem ungewohnten Licht der Bösewicht suchte sie nach dem Flusse zu schleppen, ihre Haare flogen aufgelöst, ihre Kleider waren zerrissen, sie stemmte sich besonnen seiner Übermacht entgegen, hätte aber wahrscheinlich seinen Kräften erliegen müssen. Ich stürze auf ihn los, befreie sie, und er, in grimmiger Freude, den Gegenstand seines Hasses vor sich zu sehen, fällt mich wie ein Rasender an. Ich suchte seinen Schlägen auszuweichen, und endlich gelang es mir, ihn zu unterlaufen und ihn fest in meine Arme zu pressen. Er biß, er brüllte, er wandte alles an, sich loszumachen, oder mich zu verletzen. Aber ich warf ihn nieder, und er war so ermattet und zerschlagen worden, weil ich mich im Zorne über seine Mißhandlungen völlig vergessen hatte, daß ihn zwei vorüberfahrende Fischer in ihren Kahn aufnahmen und nach seinem Hause zu bringen versprachen.[280]

Alles dies war so schnell geschehen, daß ich mich kaum hatte besinnen können. Jetzt fand ich sie auf der Anhöhe auf dem Rasen im Schatten der Bäume sitzend, wie sie bemüht war, Tuch und Kleider wieder in Ordnung zu bringen. Ich hatte noch nicht gewußt, wie schön sie sei, und als ich jetzt zu ihren Füßen kniete, und der erste Sonnenstrahl an diesem trüben Tage durch die Wolken brach, Wald, Berg und Fluß vergoldete, am herrlichsten aber auf ihrem himmlischen Gesicht erglänzte, da dünkte ich mir im Paradiese zu sein.

Sie sank mir mit Tränen in die Arme, und indem wir uns eng umschlossen hielten und ich alles andere vergaß, wandte sie ihr lockiges Haupt ein wenig von meinem Gesichte weg und sagte: ›Ja, ich bin dein! es gibt keine Macht auf Erden, die unsere Herzen trennen könnte, ich kann dir nun nicht widerstreben, tue mit mir, mein Liebster, was dir recht dünkt und dein Gewissen dir erlaubt; ich kann zu nichts mehr nein sagen. Nur bedenke, daß ich dir nie nach deinem Lande folgen kann; das wäre der Tod meiner Eltern, mich in der irrgläubigen Fremde zu wissen. Du kannst und willst nicht hierbleiben, wie ich von dir weiß, am wenigsten aber die Gemeinschaft meiner Kirche suchen. Wir sind also für die Einrichtungen der Welt getrennt, aber in Liebe bin ich dein, was dich glücklich macht, vollbringe oder lasse, mein Herz soll nur die Stimme des deinigen widerhallen.‹

Es gibt Augenblicke im Leben, die seltensten, wo alles verschwindet, was wir noch eben wünschten und begehrten, ja wo sich alles in uns umwandelt, und in unsern Sinn, wie ich es ausdrücken möchte, eine Geistererscheinung steigt, die so unser Gemüt und Herz anfüllt und überfüllt, daß wir fühlen, als wolle es vor Seligkeit brechen; weh ist uns vor Freude, und doch ist es nichts, was wir nennen könnten, was uns beseligt, es ist kein Besitz, kein Errungenes, nur die seligste Ruhe im Aufruhr und der Vernichtung aller unserer Kräfte. Dies erlebte ich jetzt. Ich wandte mein Auge in ihres, und traf in einen Blick, der in einer überirdischen Wonne glänzte. Ich mußte weinen, und konnte erst nach einiger Zeit in diese Worte ausbrechen: ›Geliebteste! mit diesen Worten hast du mir mehr als alles geschenkt; denn auch das Höchste, die innigste Gunst ist ja auch nur ein Zeichen der Ergebung, der Vereinigung; ich will dich und mich nach diesem heiligen Augenblicke nicht den Verwirrungen der Welt übergeben und vielleicht ein dunkles Schicksal aufregen, daß wir einst beide diese himmlische Minute hassen müßten.‹ Ich begleitete sie nach Hause, nahm Abschied, trug ihr die herzlichsten[281] Grüße an ihre Eltern auf, und verließ die Stadt, ohne sie wiederzusehn.« –

Elsheim sah den Freund mit einem langen Blicke an, nach welchem sich eine leichte Röte auf seinem Gesicht zeigte. »Ich bewundere dich«, sagte er endlich: »ich wäre dessen nicht fähig gewesen.«

»Schätze mich nicht«, sagte jener, »um eine Tugend, die ich nicht besaß; wäre es ein Opfer gewesen, das ich hätte bringen sollen, so wäre ich vielleicht erlegen, aber ich hatte nichts zu bekämpfen, sondern das Gefühl, daß sie mir so ganz und unbedingt gehöre, daß sie, möcht ich sagen, mit Seele und Körper in meinem Herzen sei, verlöschte alle Wünsche. Ich kann dir nicht aussprechen, wie seltsam und wunderlich mir nach diesem Augenblick Welt und Menschen, Liebe und Sehnsucht, Leib und Geist vorkamen. Es war, als sei ich auf eine Minute vom Leben erwacht, und als wirke in dem neuen Traum die Erinnerung der Wahrheit noch eine Zeitlang fort.«

»Ich verstehe dich nicht ganz«, sagte Friedrich, »manches muß man wohl erlebt haben, um es zu begreifen. Es gibt aber Menschen, die das, was mich in deiner Erzählung rührt, nur lächerlich finden würden.«

»Mögen sie doch«, seufzte Leonhard, »die Erde hält sie eben zu gewaltsam fest, ich bin ihnen immer aus dem Wege gegangen.«

»Aufrichtig, Freund«, fing Elsheim wieder an, »hat dich selbst niemals dieser verlorne Augenblick gereut?«

»Bin ich was anders als ein Mensch?« antwortete jener; »wenn aber die Disputiersucht unserer Leidenschaften manchmal die Oberhand über mein Herz gewann, so habe ich mich nachher um so mehr verachtet.«

Das Gespräch wurde hier geendigt, denn der Fuhrmann, der anfangs ebenso rasch als vorsichtig gefahren war, hatte sich, da er die Reisenden in so tiefsinniger Unterhaltung sah, dem Schlummer ergeben, und so fuhr er jetzt mit einem Ruck an einen Prellstein, daß der Wagen heftig erschüttert wurde und die Achse zerbrach. Man stieg ab, der Postillion schüttelte den Kopf, besah den Wagen von allen Seiten, noch mehr den Stein mit zornigen Augen, fluchte, und tat nicht anders, als wenn Weg, Pferde, Wagen und die Reisenden, oder ein unbegreifliches Verhängnis, auf keinen Fall aber er selbst, an diesem Ereignis schuld wären.

»Ich lasse ihn gewähren«, sagte Elsheim beiseite zu unserm Freunde, »ich mag ihn in dieser Fuhrmannsreligion nicht unterbrechen.[282] Nennen doch die meisten Menschen auch das Schicksal, was sie mit einiger Achtsamkeit vermeiden konnten, und den unnützen Zorn, den ich gewöhnlich bei dergleichen Gelegenheiten wahrnehme, habe ich nie begreifen können. Wir hätten ihn nicht sollen einschlafen lassen.«

Der Fuhrmann band und flickte, so gut es sich tun ließ, und Elsheim ermunterte ihn freundlich, und half, um nur den Wagen wieder von der Stelle zu bringen. »Am meisten verdrießt es mich«, sagte er endlich, »daß wir wenigstens heute in dem Städtchen hier liegenbleiben müssen, das mir immer unausstehlich gewesen ist. Es leben hier verschiedene Adlige und reiche Bürgerliche, die in der Einsamkeit der Provinz den langweiligsten und unerträglichsten kleinen Hof mit einer lächerlichen Etiquette haben einrichten wollen. Sie selbst sind die Langeweile gewohnt und sie gibt ihnen eine gewisse Haltung, aber ein Fremder, der unter sie gerät, ist verloren, weil weder Talent, noch Witz, noch Geselligkeit oder wirklich feines Betragen hier Eingang findet.«

Die Stadt war nicht mehr weit, alle drei gingen zu Fuß und der Wagen ward hineingeschleift, den der Fuhrmann unter lautem Schimpfen in den Torweg des Gasthofes zog und gleich fortging, um Stellmacher und Schmied aufzusuchen.

Gleich am Tor war den Freunden ein großer Zettel aufgefallen, welcher ein Konzert auf heute ankündigte. In der großen und eleganten Wirtsstube fanden sie die Tochter des Hauses, ein Mädchen von achtzehn oder neunzehn Jahren, die beim Klavier saß und eben zu spielen aufhörte; nach der ersten Begrüßung gab sie Leonhard sogleich die Einladung zum Konzert, welches sie als höchst merkwürdig rühmte. »Wir freuen uns alle hier in der Stadt«, beschloß sie ihre Rede, »auf den heutigen genußreichen Abend, besonders diejenigen, die etwas von der Musik verstehen.« Mit den letzten Worten machte sie ihr Notenbuch ernsthaft zu.

»Sie haben freilich hier wenig Gelegenheit Musik zu hören«, sagte Elsheim.

Dergleichen Virtuosen, wie heute auftreten, freilich nicht antwortete das Mädchen; »aber sonst sind wir nicht so ganz barbarisch, als Sie vielleicht glauben, denn seit einigen Jahren herrscht ein besserer Geist hier, so daß wir uns alle bestreben, mit der Zeit fortzugehen. Es ist im adligen Zirkel ein concert spirituel eingerichtet, und wir haben dasselbe getan; wöchentlich[283] kommen wir einmal zusammen und musizieren oder deklamieren, ein andermal lesen wir gute Schauspiele, indem jeder eine einzelne Rolle rezitiert, oder üben uns in kleinen Aufsätzen, die wir uns mitteilen.«

Der Vater kam hinzu, und freute sich, daß seine Tochter die Fremden so anständig unterhalte. Als beide wieder hinausgegangen waren, rief Elsheim aus: »Ich wette, daß wir heute das elendeste Abendessen genießen müssen, wenn wir es uns nicht vielleicht beim Klavier und Mozart versüßen lassen. Wie es mich immer ärgert, daß die Menschen nach und nach alle ihren Beruf verlassen und sich dessen schämen. Sahst du wohl, wie unentschlossen sie war, den Mägden und dem Hausknecht zu befehlen? Zu gut zur Wirtin und zu schlecht zur Dame liegt sie unaufhörlich auf Prokrustes' Bett, und wird in dieser Minute schmerzhaft verlängert und in der nächsten noch qualvoller verkürzt. Es gibt nichts so Schreckliches und was dem Menschen so alle Haltung raubt, als dies verletzbare Leben der Eitelkeit. Wie freue ich mich jedesmal, wenn ich noch irgendwo die Reste der Bürgerlichkeit finde. Zufrieden mit seinem Stande, stolz auf seine Arbeit und feststehend auf seiner Stelle im Leben hat ein solcher Mensch Ehrfurcht vor dem Höhern, das er nicht kennt, sei's vornehme Welt, Religion oder Gelehrsamkeit, beneidet keinen, sondern weiß, daß er auch seine notwendige Stelle füllt, und am Abend ein verständiges Gespräch, eine heitere Erzählung beim Glase Wein, ja Schwänke und anstößige Späße und plumper Scherz, von denen die Ergötzungsbücher unserer Vorfahren so viel und zu viel enthalten, sind mir ehrwürdig gegen dieses Aufwimmern falscher Bildung, und ich kann mich wohl zu jenen setzen, wenn ich dieser verbleichten Lüge, die sich nicht einmal mehr der Unwahrheit bewußt ist, auch Meilen entfliehen möchte.«

»Nun bist du menschenfeindlich und kränklich verstimmt, wie du mir neulich vorwarfest«, sagte Leonhard.

»Ich weiß nicht«, sagte jener, »ob es das ist, oder ob ich oder die Welt so sehr irren. Aber so wie es in alten Zeiten, und selbst nahe bis an unsere jetzigen hinan, die Aufgabe aller Gesetzgeber und Religionen war, die Menschen zu mildern und zu zähmen, ihnen Sanftmut, Ruhe und Ergebung annehmlich zu machen, da alles nur gegeneinander tobte und sich biß und schlug, so möchte jetzt ein Lykurg nötig sein, um sie nur wieder zum Leben zu zwingen, sie gegeneinander zu empören, ihre Leidenschaften aufzureizen und sie bei Verbannungs- und Todesstrafe für Lustigkeit empfänglich zu machen. Wo hört man jetzt noch, wie ehemals,[284] Leute auf den Tisch schlagen und ineinander hineinjubeln und schreien? Wenn sich zwei Bauerbursche einmal bei der Kirms prügeln, so möchten sie sechs Meilen rundum den Moses vom Sinai herunterrufen, um das ungeheure Wesen unter fünfzig neuen Gesetztafeln zu begraben. Denn auch bei dem Bauer, der unmittelbar an der Natur wohnt und Leid und Lust aus der ersten Hand empfangen soll, möchten sie die große Cur einführen, und ihm die vornehm sittige Langweile anbilden, die keine Hand mehr rührt, ohne auf den Effekt zu denken, den es auswärts macht. Wenn unsre Bauerweiber erst an Nervenschwäche leiden, dann steht wohl jenes gepriesene goldene Alter echter Humanität an der Ecke lauernd, auf welches wartend die Herren nun schon lange aus dem Fenster geguckt haben.«

Die Tochter kam jetzt herein, mit Blumen auf dem Kopfe und übertriebenem Putze, um in das Konzert zu gehen; sie verneigte sich sehr zierlich und wandelte am Arm eines jungen Menschen, der beständig auf seine seidenen Strümpfe und Schnallen hinuntersah, um zu beobachten, ob alles noch in gehöriger Ordnung sei. »Wirst du nicht auch hingehen?« fragte Elsheim.

»Nein, mein Freund«, antwortete Leonhard, »obgleich ich eigentlich noch nicht weiß, wie ich meine Zeit zubringen werde; denn mir sind die meisten musikalischen Unterhaltungen dieser Art so abscheulich, daß ich ihnen jede Langweile vorziehe. Sie haben eine Kraft, mir den Kopf zu verwirren und mich auf lange für Geschäfte und Gedanken unfähig zu machen; aber wahrlich nicht dadurch, daß sie mich zu sehr über dieses Leben erheben.« –

»Kindereien!« unterbrach ihn der Baron; »und vorzüglich heute paßt deine Furcht nicht, da du Gelegenheit haben wirst, einen der vorzüglichsten Klavierspieler, einen wahrhaften Virtuosen zu hören, sowie die Stimme eines ausgezeichneten Sängers. Wir mögen in manchen Dingen den Alten nachstehen, aber die Wunder der Instrumentalmusik gehören ausdrücklich unserm Zeitalter an. Man soll sich nicht eigensinnig gegen das Edle und Wundervolle verschließen, weil es, wie so vieles, vom Haufen gemißbraucht wird und der Eitelkeit dient.«

Er zog den Freund mit sich. Die Versammlung war in einem geräumigen Saal, aus welchem man sogleich in den Garten kommen konnte. Da es hoher Sommer war, hatte man zwar die Lichter aufgesteckt, sie brannten aber noch nicht. Die Gesellschaft war schon ziemlich zahlreich; vorn prangten die edleren Damen der Stadt, unter diesen ein untersetzter Mann mit einem Stern, den[285] alle mit großer Devotion Exzellenz nannten; hinter diesem saß der Bürgermeister, die Hände über den Bauch gefaltet und auf jede Bewegung des Mannes vor ihm aufmerksam, der ehemals in Diensten eines benachbarten Staates gestanden und sich hieher zurückgezogen hatte, um als der Vornehmste verehrt zu werden. Elsheim beobachtete mit Leonhard die Eintretenden. Unter den Damen fehlte es nicht an reizenden, auch mußte man gestehen, daß die meisten die neueren Moden kannten; aber zugleich war eine gewisse Übertreibung bei allen sichtbar und eine steife Ängstlichkeit, denn jede trat mit dem Bewußtsein herein, sie sei auf die rechte Art geschmückt, jede sitzende musterte sogleich kritisch die wandelnde und verbeugende, und diese betrachtete nach dem Gruß sich selbst, um Vergleichungen mit den schon anwesenden anzustellen, so daß es fast scheinen konnte, die feinen und reichen Kleider führten mehr ihre Besitzer herum, als daß sie von diesen getragen würden. In dieser Kunstausstellung war die Tochter des Wirtes, die abseits an einem Fenster saß, denn freilich nur ein kleines Blumenstück aus der niederländischen Schule, das in der Nähe der großen Altarblätter kaum bemerkt wurde. Noch unscheinbarer verschwand ihr Begleiter, der sich abwechselnd an andere junge Leute machte, laut sprach und sich zum Lachen zwang und dann mit steifer Leichtigkeit zu seiner Dame zurückkehrte. Ein Elegant näherte sich beschützend ihrem Fenster, und sie blühte sichtbar auf, wechselte aber um so auffallender mit verlegener Blässe, als dieser auf einen befremdenden Blick vornehmer Damen, die hereinrauschten, sich etwas zu schnell gehorchend von ihr entfernte.

»O des Elends!« flüsterte Elsheim, »unsre gute Adelaide, Selma, oder welchen idealischen Namen sie führen mag, möchte vor Neid, Mißbehagen und Eitelkeit vergehn! Sei wechselt im Herzen mit einer übertriebenen Ehrfurcht vor diesen geputzten Herrschaften und einer erzwungenen Verachtung aller höhern Stände; sie schämt sich ihres Daseins, und im Ringen dieser Verzweiflung wird die Musenkunst umsonst der matten Seele aufhelfen wollen. Wie, wenn sie nun daheim, wie ihre guten Voreltern, behaglich bei der Insel Felsenburg säße, oder beim lustigen Besuch von Verwandten und Bürgermädchen, jene alten Lieder singend, oder sich in wohlgemutem Tanze umschwenkend, mit Dirnen flüsternd und dem Liebsten winkend: wie höher würden ihre Lebenspulse schlagen!« – Er verließ die Mitte des Saales und setzte sich vertraulich schwatzend zu der Verlassenen, was einige der Damen als ein Wunder bestaunten und dann verhöhnten,[286] die ihm wegen seines Kreuzes schon unter den vordersten Sesseln einen Platz zugedacht hatten.

Leonhard stand im Haufen neben zwei Männern, die schon seine und die Aufmerksamkeit vieler in der Gesellschaft auf sich gezogen hatten. Sie fielen auf, da sie in gelblichen Überröcken und bestaubten Stiefeln nicht nur die Fremden, sondern selbst Kosmopoliten etwas zu gleichgültig darstellten, die den Putz der übrigen Gesellschaft, sowie die ängstlich feinen Sitten nicht beachteten, oder vielmehr geringschätzten; denn, anstatt sich im Hintergrunde bescheiden und still zu verhalten, waren sie gleich vorgedrungen und hatten das große Wort geführt, indem sie nach den Virtuosen, der Stunde des Anfangs und dergleichen die vornehmsten Nachbaren rechts und links ohne Unterschied gefragt hatten. Der Minister hatte sich bei dem Geräusch erhoben, sie mit kurzem Blick gemustert und sich ernst wieder niedergesetzt, und der Bürgermeister, von diesem stillen Mißfallen belehrt, hatte durch einen Bekannten den anstößigen Fremden eine gedruckte Ankündigung des Konzerts übersandt, um dem zu lauten Schwatzen und Fragen nur ein Ende zu machen. Jetzt aber nahmen diese den Zettel und lasen ihn nicht nur laut ab, sondern kritisierten auch unter Lachen und Spott jedes Wort. »Ist es nicht zu arg«, fing der eine an, der, weil er blond war, ein etwas sanfteres Ansehn hatte, »daß in Deutschland Menschen, die sich für Virtuosen ausgeben, nicht eine Zeile richtig in ihrer Muttersprache schreiben können?« – »Weil sie«, erwiderte der Braune, dem dicke schwarze Haare tief in seine dunklen Augen hingen, »in Faulheit nichts lernen und genug zu tun glauben, wenn sie die Finger behende rühren können.« – »Und solches Volk«, fing der andere wieder an, »will einen solchen Zirkel gebildeter und feiner Menschen, wie ich hier versammelt sehe, nicht nur unterhalten, sondern ihren Geist erheben und alle zu den höchsten Genüssen der Entzückung und Andacht stimmen, da sie selbst, wie der gemeine Mann zu sagen pflegt, weder lesen, noch beten können.«

Bei diesem lauten Gespräche waren die Damen enger zusammengerückt, um sich so viel als möglich von der verdächtigen Nähe zu entfernen, der untersetzte Minister hätte gern alles ignoriert, wenn man nicht zu laut gesprochen hätte, er flüsterte daher seiner Umgebung von rohen und gemeinen Menschen zu, und der noch dickere Bürgermeister erhob sich, um den Fremden einen drohenden Blick zu senden.

»Sehen Sie nur, mein Freund«, fing der Schwarzköpfige wieder[287] an, »wie unruhig die verehrungswürdige Gesellschaft schon wird; alles sieht umher, kein Mensch kann begreifen, wo die Kerle nur bleiben, die gewiß wo in einem Weinhause sitzen; und doch steht hier: der Anfang präzise um sechs Uhr, aber die dummen Teufel glauben gewiß, präzise heißt auf deutsch eine Stunde nachher. Und doch sollten sie ja eilen, die armen Schlucker, um so viel als möglich Wachslichter zu sparen.«

Der andre sagte hierauf mit verhaltnem Zorn: »Wir müssen hier alle wie die Narren warten, als wenn wir nicht mehr zu tun hätten; mich gereut schon mein gutes Geld, das ich den Windbeuteln draußen habe erlegen müssen.«

»Wer mag nur der Krüppel sein«, sagte der Schwarzäugige, »der so genau unsere Taler besah, als wenn wir falsche Münzer wären. Wohl gar das gute Schaf von Komponisten selbst, der dem Gelde die Stimme probiert, ob es den gehörigen Diskant singt.«

»Meine Herren, die ich nicht zu titulieren weiß, da ich nicht die Ehre ihrer Bekanntschaft habe«, fing hierauf der Bürgermeister, der sich nicht länger halten konnte, fast stotternd vor Ärger an, »der brave Mann, der Ihnen die Billette gegeben hat, ist unser Kassierer vom Rathause, der sich aus reiner Liebe zur Kunst, und um die beste Ordnung zu erhalten, diesem Geschäfte unterzogen hat. Man muß ihm dafür danken, und er ist nichts weniger, als ein Krüppel. Ich habe die Ehre, hier Bürgermeister zu sein, und ich sowohl, wie der ganze Magistrat können einen solchen Ausdruck übel empfinden.«

»Wir wollen ihm nicht weiter zu nahe treten«, sagte der Schwarze, »aber über die Schlingel von Musikanten dürfen wir uns doch ärgern, die für ihr Geld, das sie uns ablocken, die Stunde nicht besser in acht nehmen. Wir haben mehr zu tun, als hier zu warten.«

Lange hatten die Damen schon gezischelt, um die ungezogenen Fremden war ein leerer Raum entstanden, und mit einer Protektionsmiene gegen seine Umgebung, da der Bürgermeister das Eis schon gebrochen hatte, erhob sich nun der Mann mit dem Sterne und sagte: »Es scheint Ihnen zu entgehen, meine Herren, vielleicht weil Sie bisher nur wenige Gesellschaft frequentiert haben, in welcher man sich etwas genieren muß, daß Sie diese Damen und uns alle mit beleidigen, indem Sie so ohne Rücksicht auf die beiden Künstler schelten, die heute unsere Stadt beglücken wollen. Der Ruhm dieser Männer ist über jede Lästerung erhaben, und da Sie weder warten wollen, noch auch Kenner und[288] Freunde der Musik zu sein scheinen, so war Ihre Bemühung in diesen Saal ein kleiner Irrtum.«

»Es sind halt doch nur Musikanten«, rief der Blonde unwillig aus, »und wenn ich nicht die Ehre hätte, mein Herr Baron oder Graf, dadurch mit Ihnen in Gespräch und Bekanntschaft zu geraten, so würde ich glauben, daß alles, was Sie sagen, diese nachlässigen Menschen zu entschuldigen, unpassend sei.«

»Ja wohl«, rief sein Gefährte mit mehr Ungestüm, »für unser Geld sind wir hier! die ganze Gesellschaft hier in Ehren, und ich mache jedem mein Kompliment, aber die Musikanten, denn wir sind doch hier alle gleich, erkläre ich für wahre Taugenichtse.«

»Und der Herr Graf von hat uns hier nichts zu befehlen, und wir können es sehr übelnehmen, daß er uns zu verstehen gibt, wir wären hier nicht an unserer Stelle, ja uns gleichsam die Türe weiset«, fuhr sein Begleiter fort.

»Es ist unter mir«, sagte der angesehene Mann unwillig, und setzte sich sehr heftig nieder, »mit Menschen zu sprechen, die nur der schlechten Gesellschaft gewohnt sind.«

»Gesellschaft ist Gesellschaft«, riefen die Fremden, »vollends wenn man bezahlt, und dies Betragen schickt sich nicht.«

So fuhren sie fort laut zu schelten auf die Umgebung, auf die Art, mit ihnen zu sprechen, vorzüglich aber über die Verzögerung des Konzertes, aus welchem nichts würde, und das sie gern genossen hätten, da sie doch vielleicht die einzigen wahren Kenner in dem kleinen unbedeutenden Orte wären, so daß man umher murmelte, schalt, sie drängte, von Ungezogenheit und Pöbel sprach, indessen sie sich mit Gewalt Platz zu machen suchten und bald mit Zorn, bald mit Lachen antworteten, bis sich endlich der Bürgermeister, der indessen mit seinem Gönner heimlich gesprochen hatte, in aller Würde erhob und laut sagte: »Meine Herren, Sie mögen Kenntnisse besitzen, oder nicht, so muß ich jetzt das deutlich wiederholen, was Sr. Exzellenz aus übertriebener Gute und Humanität Ihnen nur zu verstehen gegeben hat, sich nämlich aus diesem Zirkel zu entfernen, der offenbar nicht mit Ihrer Art und Weise sympathisieren kann.«

»Herr Bürgermeister, denn der sind Sie, wie ich höre«, sagte der blondhaarige Fremde, »Sie wollen also zwei Leute, die Sie nicht kennen, zweien musikalischen Vagabunden aufopfern, denn derentwegen ist ja nur unser Streit; ich sehe aber gar nicht ein, wie Sie das Recht haben, uns mit solchen recht empfindlichen Reden von hier zu entfernen.«

»Ohne Umstände«, rief ein alter Hauptmann, der sich dienstfertig[289] herbeigemacht hatte, um auch als ein Vorsteher der Stadt seine Rolle zu spielen, »Sie machen sich davon, oder man wird Ihnen etwas anderes zeigen!«

Im Eifer faßte er den Schwarzkopf derb an, der, ohne auf seine Würde zu achten, ihn so kräftig zurückstieß, daß der Offizier gegen ein paar junge Herren flog, und der Puder seiner Frisur den halben Saal anfüllte! – »Wache!« rief der Hauptmann. »Man ist seines Lebens nicht sicher«, schrien die Damen. »Das ist ein Skandal!« ächzte der Bürgermeister. Bei dem Getümmel war der Kassierer herbeigekommen, und diesem wurde von dem besternten Manne, dem alles Platz machte, die Weisung gegeben, Wache herbeizuschaffen, die die Friedensstörer und Arrestanten, denn das verdienten sie zu sein, abführen könnte.

»Wenn es denn Ernst ist«, sagte der Fremde mit den blonden Haaren, »so müssen wir uns wohl dareinfinden, aber es ist doch hart, daß wir unser gutes Geld darüber einbüßen sollen.«

»Hier, mein Herr«, sagte der kleine Kassierer, »empfangen Sie Ihre zwei Taler zurück, denn die berühmten großen Virtuosen werden lieber die Gesellschaft nach Ohren, als nach Talern zählen.«

»In die Wache?« fragte der Schwarzgelockte. – »So ist Ihr Schicksal«, antwortete der Hauptmann. – »Woraus besteht diese?« – »Für jetzt aus Invaliden, aber künftigen Winter bekommen wir wieder wirkliches Militär.« – »Gut«, rief jener, »so hör ich auf der Wachstube vielleicht alte edle Volkslieder, oder biedre Liebesgesänge und kann dem musikalischen Charivari hier mit gutem Gewissen den Rücken wenden. Wir weichen der Gewalt. Aber, wie ist man doch in diesem kleinen traurigen Städtchen noch zurück! Wie ist man doch in den Winkeln der Provinz so gar nicht mit dem Geiste der Zeit fortgeschritten! Wir arretiert, zu Invaliden geschickt, weil wir aus Enthusiasmus die Künstler verwünschen, die uns den Genuß ihrer Kunst so lange vorenthalten! Diese beklagenswürdige Barbarei verdient, daß Sie alle hier nie einen guten Sänger oder Komponisten hören, daß Sie heut umsonst und vergeblich auf jene Tausendkünstler warten, die uns diesen Verdruß zuziehen, daß Sie immer in der barbarischen Dunkelheit und dem skythischen Nebel verharren, denn Orpheus selbst würde hier alle seine Harmonieen vergeblich anwenden.« – Das letzte sagten sie schon draußen, teils fortgedrängt und abgeführt und teils freiwillig den Saal verlassend. »Meine Damen und Herren«, sagte hierauf der Mann mit dem Sterne in großer Bewegung, »ich nehme Sie alle zu Zeugen, daß[290] es keinesweges Barbarei oder Mangel an Humanität ist, was uns zu diesem Betragen gegen diese fremden Gesellen gezwungen hat, auch ist der Vorwurf dieser Ruhestörer gewiß ebenso ungegründet, daß wir zurückgeblieben und mit der Zeit nicht fortgeschritten wären. Geschähe in allen Teilen des deutschen Reiches für Kunst und Bildung so viel, wie in diesen friedlichen Gegenden, so würden wir bald noch schönere Früchte gewahr werden; dies unbestochene Zeugnis war ich dieser Stadt und Ihnen schuldig.«

Alle verneigten sich, am tiefsten der Bürgermeister. Die gewöhnliche ruhige Verfassung einer Gesellschaft, die Musik erwartet hatte, hatte sich völlig aufgelöst, denn dieser Vorfall war zu außerordentlich, um nicht allen Zuhörern eine ungewöhnliche Stimmung zu geben; selbst die akkompagnierenden Musiker, ja sogar die Lichterputzer hatten sich unter die Gesellschaft des Saales gemischt, um zu hören, oder zu erzählen, Meinungen zu vernehmen, oder Vermutungen mitzuteilen. So meinten einige, die unruhigen Fremden wären Bauern und Holzhändler von dem nicht zu entfernten großen Strome, die auch einmal ein geistiges Vergnügen an sich hätten versuchen wollen und daran gescheitert wären; einige wollten Matrosen in ihnen erkennen, und andere waren noch unbilliger und hatten in ihnen Mitglieder einer Räuberbande entdeckt, die damals im südlichen Deutschland viel von sich sprechen machte. Nur nach und nach beruhigte sich das tobende Meer, und man hatte im Eifer der Verhandlung nicht bemerkt, daß es darüber in der Tat schon spät geworden sei daß es schon dämmerte, und daß der Fluch der Fremden in Erfüllung zu gehen drohe.

Die Ruhe und das feinere Gespräch hatte sich indessen wieder hergestellt, als man wegen der Dunkelheit gezwungen war, die Lichter anzuzünden, und nun fiel es der Gesellschaft, vorzüglich den Damen, auf, wie lange sie schon vergeblich gewartet hatten. Einige der Herren, die spazierengegangen waren, kamen auch aus dem Garten zurück und wunderten sich, daß die Sache noch immer nicht vorgeschritten war; am ungeduldigsten aber waren die begleitenden Musiker, welche laut murrten und wegzugehen drohten. In dieser Verfassung zog der Bürgermeister Nachrichten ein, und es ergab sich, daß keiner im Saale wußte, wo die Virtuosen abgestiegen waren, daß keiner sie noch gesehen, denn sie hatten nur schriftlich um die Erlaubnis nachgesucht; und da sehr viele schon längst ihre Augen auf den unbefangenen heitern Elsheim geworfen hatten, der, obgleich ein Edelmann, das Ärgernis[291] gegeben, sich zur Tochter des Gastwirtes zu setzen und sie zu unterhalten, noch mehr aber dadurch, daß er bei dem lauten Streite gelacht und gewissermaßen die Partei der Fremden genommen hatte, sich auch jetzt unverhohlen freute, daß man so spaßhaft und trocken wieder auseinandergehen müsse: so fand der Einfall eines witzigen Kopfes sogleich den größten Beifall, daß dieser fremde junge Herr vielleicht die Bitte um Erlaubnis geschrieben, dann die Ankündigungen habe drucken lassen und dann selbst angekommen sei, um die Verwirrung und den Verdruß der Kunstfreunde schadenfroh zu genießen.

Diese Meinung lief bald durch den ganzen Saal; alles erhob sich, um verachtende oder zornige Blicke auf den Unschuldigen zu werfen; es schien, als wolle man einen Sprecher wählen, der die Vorwürfe der beleidigten Versammlung in einer lauten Rede vortragen solle, und Leonhard fing an, um seinen Freund, dessen heftige Reizbarkeit er kannte, besorgt zu werden, als man einen Invaliden sich eifrig durch den Saal drängen sah, der den Hauptmann aufsuchte, um ihm etwas in das Ohr zu raunen. Der Hauptmann sah mit einer sehr wichtigen Miene empor, schüttelte den Kopf, winkte dem Bürgermeister und begab sich mit feierlichem Anstande zu diesem. Nachdem beide eine Weile leise miteinander gesprochen, nahm mit einem tiefen Seufzer der Amtsbürde und mit hoher Röte der Bürgermeister Hut und Stock und sagte: »Ew. Exzellenz und meine Damen und Herren verzeihen, wenn ich mich auf einige Zeit entferne; die beiden Arrestanten lassen mich dringend und eilig auf die Hauptwache zitieren, indem sie mir sehr wichtige und notwendige Dinge in großer Eile zu eröffnen hätten. Vielleicht ist dies für unsere Stadt ein hochwichtiger Tag, denn mir ahndet, daß Entdeckungen unterwegs sind, die wohl zum Glück des ganzen Landes gereichen mögen.«

Ein Beifallsmurmeln begleitete den Patrioten, die größte Neugier und Spannung hatte sich der ganzen Gesellschaft bemächtigt es schien nun, vorzüglich den Damen, ausgemacht, die Gefangenen könnten nur Mörder und Straßenräuber sein und gewiß die Anführer der Bande, denen das Gewissen plötzlich erwacht sei, um die außerordentlichsten Entdeckungen zu machen. Die Scharfsinnigsten hielten zugleich ein wachsames Auge auf Leonhard und Elsheim, damit diese sich nicht unvermerkt entfernen könnten, und man sprach laut von Verkleidungen und vielfältigen Masken, unter denen sich so oft die größten Bösewichter unkenntlich in die beste Gesellschaft zu schleichen suchten. Diejenigen, die in der Literatur der Räuberromane bewandert waren, führten[292] davon merkwürdige Beispiele an, und einige von den Mädchen rückten näher aneinander, sahen scheu nach der Tür, oder auf Leonhard und Elsheim, in der bangen Erwartung, daß plötzlich ein grauses Wunder unter dem Signal von Pistolenschüssen sich entwickeln, oder die Befreiung der Gefangenen unter Aufruhr und Brand erfolgen werde. Die Tochter des Bürgermeisters weinte unverhohlen Tränen, weil sie ihren Vater schon verloren gab, als dieser zur Befriedigung ihrer und aller keuchend zurückkam und mit verdrüßlichem Kopfschütteln alle stummen und lauten Frager, die sich an ihn drängten, zurückwies, bis er wieder zu seinem Sitze gelangt war. »Exzellenz«, stotterte er, »es war ungegründet, aber die Musik wird vor sich gehen.«

Und zugleich traten zum allgemeinen Staunen durch die Tür gegenüber zwischen Notenpulte und Musiker mit etwas veränderter Kleidung die beiden arretierten Fremden herein, näherten sich anständig der vordern Reihe der Zuhörer und wollten eine Entschuldigung stammeln, doch ließen sie die Ausrufungen der Verwunderung, das Aufstehen, das Fragen und Sprechen der Zuhörer untereinander nicht zu Worte kommen, und Elsheim, der jetzt wieder unter den vordern stand, sich an der Verlegenheit der Gesellschaft und der Schadenfreude der Virtuosen ergötzend, fing laut an zu applaudieren, und alle, die beim Erscheinen von Künstlern dieses Geräusch zu erregen schon gewohnt waren, folgten ihm nach, so daß ein lautes Beifallklatschen wie ein durchbrechender Strom alle anderen Töne in sich aufnahm und verschlang, indessen nur der Graf mit hoher Röte vor sich niedersah und beschämt und mißbilligend das Haupt schüttelte. Da dies die bemerkten, die ihm am nächsten waren, so hörten sie auf, und so verlor sich das Applaudieren wieder decrescendo, welches Elsheim einsam endigen mußte, indem sich jeder zugleich besann, wie unpassend man hier den Beifall Leuten erteilte, die jedermann nicht auf die feinste Art zum besten gehabt hatten.

Eine der schönsten Symphonieen erhob sich jetzt mit ihrem Flügelschlage und nahm alle Empfindungen mit sich; dann spielte der blonde Virtuose ein Klavierkonzert mit einer Fertigkeit und einem Ausdruck, wie man es dort noch nicht gehört hatte, der Sänger, eine Baßstimme, sang unvergleichlich, und man wechselte noch mit einigen Musikstücken, die allgemeinen Beifall verdienten und das Publikum in der Tat entzückten, doch schämte man sich, seinen Beifall zu bezeigen, und hörte alles stillschweigend an.

Es war spät geworden, ehe die musikalische Unterhaltung[293] beendigt war; der kleine Kassierer, der das empfindlichste Gemüt haben mochte, war schon lange vor dem Schlusse nach Hause gegangen, nachdem er durch einen Violinisten den Reisenden die Einnahme übersandt hatte. Diese bezahlten sehr freigebig die begleitenden Instrumente; die Gesellschaft ging, selbst nicht wissend, ob ihre Zufriedenheit, oder ihr Mißvergnügen überwiege, auseinander, und Elsheim bat die Fremden, mit ihm in seinem Gasthofe zu essen, die seine Einladung auch mit heiterer Gleichgültigkeit annahmen.

Der Wirt hatte von seiner Tochter schon das Abenteuer vernommen, und er ging den Fremden mit einem Gefühl, aus Bewunderung und einem gewissen Entsetzen gemischt, entgegen, daß sie es gewagt hatten, die Häupter der Stadt, die ihm die der Welt waren, zu närren, und sie doch zugleich die berühmten großen Virtuosen waren, die zu solchem Wagestück den kecken Mut in sich hatten finden können. Die Tafel ward bereitet, und die gebildete Tochter, sowie der Wirt selbst mußten auf Elsheims Ersuchen Platz daran nehmen, bei welcher der gute Wein das vorzüglichste Gericht ausmachte, weil die Speisen in der Tat schlecht zubereitet waren.

Als der Wein heiter und vertraulich gemacht hatte, erzählte der Komponist, wie sie dem Bürgermeister entdeckt hätten, daß man sie, wenn das Konzert noch zustande kommen solle, frei machen müsse, und wie dieser ihnen nur Glauben beigemessen habe, als sie Briefe vorgewiesen, die an sie gerichtet gewesen.

»Wie kamen Sie nur auf diesen sonderbaren Einfall?« fragte Elsheim.

»Man hört ja«, erwiderte der Komponist, »von Künstlern erzählen, die aus enthusiastischer Zerstreuung während des Spieles vom Instrument aufgesprungen sind, um aus der Ferne die Wirkung ihrer eigenen Musik zu erfahren, und so kamen wir neulich auf den Gedanken, dies hier in dem kleinen Städtchen auf eine ähnliche Art versuchen zu wollen, ob wir uns gleich den Ausgang des Abenteuers nicht so gedacht hatten.«

»Mich wundert«, sagte Leonhard, »daß Sie nicht verlegen waren; ich hätte um alles nicht Ihre Rolle durchführen mögen.«

»Sie sind auch wahrscheinlich kein Schauspieler«, antwortete der dunkelhaarige Bassist; »mir wurde erst etwas beklommen, als das unmäßige Applaudieren entstand, und gewiß, man hätte uns nicht mehr beschämen und bestrafen können, als wenn dieser laute Beifall sich wiederholt bei jedem Musikstücke hätte hören lassen.«[294]

»Sie müssen freilich«, fiel der Wirt ein, »in Ihrem Stande mehr abgehärtet sein, als andere Menschen, denn es kommen wohl oft Fälle vor, in denen Sie Ihre ganze Fassung nötig haben.«

Der Sänger sah hierauf den vorlauten Wirt mit einem Blicke an, wie ihn ein siegesstolzer Student etwa einem sogenannten Philister zuwirft, wenn dieser über Händel oder Duell-Angelegenheiten sein Wort abgeben will. Ohne den Wirt zu berücksichtigen, richtete der Schauspieler seine Worte wieder an den Edelmann, indem er so fortfuhr: »Es ist wahr, wer es in unserm Stande nicht lernt, Fassung zu gewinnen, unvermuteten Störungen, oder Kabalen und Grobheiten mit einer gewissen festen Unverschämtheit entgegenzutreten, der wird diese Tugenden niemals erringen. Mir und meinem Freunde hier ist aber das Talent angeboren, mit dergleichen Fährlichkeiten zu spielen, sie aufzusuchen und im wildesten Sturm und Drang den Kopf niemals zu verlieren.«

Elsheim erwiderte: »Ich kann mich wohl, wenn ich es näher überlege, in Ihre Stimmung hineindenken. Geht es einem beim Reiten, wenn man ein wildes Pferd versucht, doch auf ähnliche Art. Indem man alle Kunst mit Bewußtsein anwendet, gerät man doch zugleich in einen Taumel und so wilde Unbesonnenheit, daß man sich der Gefahr erfreut, und vielleicht das wilde trotzige Roß nur durch diese Vereinigung von Tollheit und Vernunft gebändigt wird. Noch öfter tritt dieser lüsterne Zustand beim Fahren ein, wenn wir etwa vier kräftige Hengste regieren sollen. Es erwacht ein Heldensinn in diesem Taumel, und der Mensch ist nahe daran, die Gefahr herauszufordern. Vielleicht daß, wem von diesem verlockenden Reize gar nichts beiwohnt ein solcher nie etwas Großes tun kann, er müßte denn, wie Fabius der Zauderer, durch seine unerschütterliche Kälte Verderben und Gefahr von sich und den Seinigen abwenden. Wie heroisch braucht Egmont dies als Gleichnis, um seinen Lebenslauf zu bezeichnen: ›Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert man sich doch kaum, woher er kam.‹« –

»Geehrter Herr«, sagte der Klavierspieler, »alles Talent ist nur auf diesem Wege möglich. Noch keiner hat das Wunder, was mit diesem Worte ausgesprochen ist, erklären, oder nur begreifen[295] können. Das ist ja das Rätsel, wie sich in uns der Zustand, den wir unser Bewußtsein nennen, so innigst mit seinem anscheinenden Widerspruch, dem Nichtbewußtsein, vermählen kann, und aus dieser Vereinigung erst unser höchstes, seelenvollstes Leben hervorgehen muß. Ich habe mehr als einmal einer Anzahl trefflicher Sänger akkompagnieren müssen, plötzlich, unvorbereitet, nach einer Partitur einer Oper, die mir noch niemals vorgekommen war, und mein Auge und Sinn fand sich so schnell und sicher in dieser schwierigen Aufgabe zurecht, daß alles gelang, und dieses tollkühne Improvisieren zu den genußreichsten Stunden meines Lebens gehört.«

»Wie oft«, fiel der Sänger ein, »habe ich etwas ähnlich Halsbrechendes unternommen, die schwierigsten, mir fremden Sachen vom Blatte zu singen. Es ist eine Energie in uns, eine Allgegenwart des Geistes, eine Gabe der Prophezeiung, die nur alsdann hervortritt. Und sonderbar! wenn diese Zustände des Seelenrausches vorüber sind, bemerken wir, daß auch alles Zeitmaß in uns aufgehört hat, denn wir wüßten nicht zu sagen, wie viele Stunden uns in dieser Anstrengung verschwunden sind, weil sie uns nur wie Augenblicke erschienen.«

»Ebenso ist es aber auch«, fiel Leonhard bescheiden ein, »wenn wir ein Kunstwerk genießen und wahrhaft verstehen. Die knechtische Abhängigkeit von der Zeit verschwindet alsdann jedesmal.«

Die beiden übermütigen Künstler hatten sich bis jetzt nur wenig um den jungen Meister gekümmert, sie sahen ihn jetzt mit großen Augen an und suchten an seinen Blicken zu erforschen ob er ebenfalls zu ihrer Zunft gehöre, oder vielleicht Maler, oder Dichter sei. Doch Leonhard schlug seine Augen nieder und schien es zu bereuen, daß er an diesem verwegenen Gespräche teilgenommen hatte, sein Freund aber nahm das Wort auf und bemerkte: »Wenn es also wahr sein mag, daß dieser unbeschreibbare Doppelzustand zu unsern allerbesten Lebensäußerungen gehört, sei es, um zu genießen, oder hervorzubringen, so dürfte die Frage sehr wichtig sein, wie weit man nun, um jener höheren Kraft Raum zu geben, Bewußtsein und Nüchternheit einengen, und wieviel Herrschaft jene bacchische Begeisterung ausüben dürfe.«

»Dafür oder dagegen«, rief der Sänger heftig aus, »kann und darf es keine Gesetze geben. Soll das Gebet aus jener Nüchternheit hervorgehen, die ja eben durch den Gott vernichtet werden soll? Glauben Sie mir, alle großen Genien der Menschheit, seien[296] es Helden, Dichter oder Künstler, haben ihre Schöpfungen nur, von diesem Taumel erst angerührt und dann beherrscht, hervorbringen können. Welche unbändigen Höllengeister waren es denn, mit lichten Engeln geschart, die unser Mozart vor seinen Siegeswagen spannte, um, ein zweiter Dionysos, seinen Triumphzug nach dem fernen, gottgeweihten Indien, dem Land der Fabel und der Poesie, zu feiern, von tanzenden Nymphen, gaukelnden Amoretten, lächerlichen Faunen, rasenden Mänaden und selig liebenden, ewig trunkenen Lieblingen der Aphrodite und des Eros begleitet? So stürmt sein Don Juan, sein siegprangendes Meisterwerk, dahin. In dieser heiligen Raserei haben alle Genien gedichtet und erschaffen. Ja erschaffen, wie der Herr, aus dem Nichts. Dies ist das Unbewußte, der Schlaf, der Tod in uns, wie es die blöden Menschenkinder nennen. Hier ist das Zeughaus der Phantasie, die geheimnisvolle Werkstätte des unsterblichen Geistes. Wer hier das pflegt und nährt, was späterhin als Gedanke, Ton, Bild und Gedicht in die Schöpfung heraustreten soll – wer kann diese Ammen nennen, oder bezeichnen? Was ist dieses Nichts, dieses unbekannte Unerkannte, dieses Namenlose, aus dem aller Glanz und alle Kraft sich entwickelt? O ihr Törichten, die ihr euer Leben damit zubringt, immer Unterschiede zu entdecken und diesen mit nüchterner Weisheit einen Taufnamen zu geben! Stürzt euch, ihr von den Musen Begabten von der Gottheit Begeisterten, ohne zu forschen und zu zweifeln, in den Strom des bewegten Lebens; opfert, wie es das Geheimnis fordert, eure Vernunft und Nüchternheit, die Ordnung und Sitte jenen unterirdischen Geistern und Dämonen, die, wenn ihr dieses Entschlusses nicht fähig seid, euch sonst die Schönheit selbst entreißen, mit eurem Herzblut, wie Vampiren, die Begeisterung wegzechen, so daß ihr nach kurzem Taumel zu Qualm des Ekels und der altklugen Langweile erwacht. Der Weinrausch ist ein Symbol dieses göttlich begeisterten Lebens, in der Wollust spricht mit Entzücken und Wahnsinn jener Tod uns an, der das echte Leben ist, hohnlachend und in süßester Wehmut wird hier jenes Bewußtsein begraben, das die meisten Menschen für das Leben halten. Wer sich also als echter Künstler dem Taumel weiht, der darf nicht rechts, nicht links, nicht rückwärts schauen, nur vor ihm liegt die Bahn, und Glück, Gefahr und Leben und Tod sind eins.«

Auf einen stillen, bedeutsamen Wink des Wirtes hatte die junge Tochter das Zimmer schon verlassen, weil es dem Vater wohl unziemlich dünken mochte, daß ein weibliches Wesen diese[297] wunderlichen Lebensregeln mit anhören sollte. Leonhard sagte nach einer kleinen Pause: »Aber, meine Herren, Sebastian Bach, Gluck, Palestrina- –«

»Still!« entgegnete der Sänger, »ich weiß, wo Sie hinauswollen. Ausnahmen gibt es, und – wer weiß – man soll den alten Bach, unsern Vater und Meister, nicht lästern, – aber jener stürmische Geist ging ihm wohl ab, der unsere neue Kunstwelt treibt. Und Palestrina – wir wissen so wenig von ihm – aber erzählte er nicht, daß er die eine seiner berühmtesten Kompositionen Note für Note vollständig von einer Schar von Engeln vernommen und die überirdische selige Musik nur als mechanischer Kopist niedergeschrieben habe? – In der Musik strömt ein Geist, der, stärker als in allen anderen Künsten, ihren Bekenner der Besonnenheit enthebt. Der Sänger, mehr fast noch der Virtuos eines Instrumentes, der Kapellmeister, wie der Komponist, alle leben dem Augenblick, ohne an morgen zu denken. Der Genuß der Kunst, so gut wie des Weins und der Liebe, reißt sie über Zeit, Sorge und Ordnung hinweg, denn in keiner andern Kunst ist das unmittelbare Gelingen, das Improvisieren so notwendig. Maler, Dichter und Bildhauer mögen sich bedenken; wenn der Musiker es wollte, so wäre der auflodernde Augenblick schon entflogen. Der Grübler nun gar müßte auf lächerliche Weise zuschanden werden. Darum, meine ich, muß man in der sogenannten Moral auch beim Musiker einen ganz andern Maßstab anlegen, wenn der Sittenprediger nicht gegen ihn ungerecht, ja grausam werden soll. Mozart steht höher, als seine Sittenrichter.«

Der musikalische Freund bekräftigte alles, und so, nachdem man noch manche paradoxe Sätze ausgesprochen, die den muntern Elsheim sehr ergötzten, begaben sich alle auf ihr Lager, als der Morgen schon graute.

In der heitern Landschaft fühlte sich Leonhard wieder frei und wurde fröhlich. Elsheim hatte die Verstimmung wohl bemerkt, die seinen Freund am Abend quälte, und sagte jetzt, nachdem sie lange stumm nebeneinander gesessen hatten: »Warum, Freund, bist du oft so schwerfällig und widerstrebst der Laune, die mich mit sich nimmt? Man kann nicht immer weise sein, und dein Gemüt ist selbst oft zur Fröhlichkeit gestimmt, ja, ich habe selbst gesehen, wie Albernheiten und Kinderein dich ergötzen können.«

»Schilt mich nur«, antwortete Leonhard, »denn freilich ist es[298] wohl eine Anlage zur Pedanterie, die mich in manchen Stunden so mißmütig und mürrisch macht. Der ganze gestrige Tag war mir nicht recht. Daß der Wagen zerbrach, machte mich erst ganz verdrüßlich. Nun gar das verwünschte Konzert. Ich begriff deine ausgelassene Heiterkeit nicht. Das ganze Wesen, Zuhörer, Vornehme, Bürgermeister, Männer, Frauen und Mädchen, alles war melancholisch. Diese Ungezogenheit der Musiker war wunderlich genug, aber auch dieser Vorfall konnte mich nicht ergötzen. Wir haben uns mit den andern närren lassen, weil wir eben nichts Besseres zu tun hatten. Und das mag wohl oft, auch im Leben der bessern Menschen, eintreten, daß solche Lückenbüßer und Ausgeburten der Langeweile für Ergötzung gelten müssen. Es sind die Butterküchlein aus Wasser der Schildbürger. Und nun gar das Hymnen-Gespräch am Abend bei den schlechten Speisen. Die haben mir erst Magen und Geist verdorben.«

»Ei, du Allerweltskrittler!« rief Elsheim überlaut und erhob sich vor Erstaunen etwas vom Sitze, um seinem Freunde in die Augen sehen zu können, » – das ist mir denn doch neu, daß diese erquicklichen gedachten und phantasierten Gespräche dir auch zuwider sein können! Mir haben sie so sehr gefallen, daß ich die beiden landstreichenden Musiker dringend auf mein Schloß eingeladen habe, und ich hoffe, daß sie recht bald dort als mir sehr liebe Gäste erscheinen werden.«

»In dein Wesen«, sagte Leonhard etwas empfindlich, »mag diese übertriebene Genialität nicht so zerstörend hineinreißen, wie in meine Brust. Erinnerst du dich denn nicht, daß mir dergleichen von früher Jugend zuwider war, und ich es immer zu bekämpfen suchte?«

»O ja«, sagte Elsheim, »und oft mit einer andern Genialität sogar, die manchen Nüchternen wohl auch erschrecken durfte. Weiß ich doch, daß der eine unserer Lehrer dich oft mit seltsamer Scheu, als wärest du ein Gottloser, betrachtete.«

»Lassen wir das«, unterbrach ihn Leonhard; »es ist gar zu betrübt, daß sich so oft selbst die allernächsten Freunde in den wichtigsten Angelegenheiten nicht verstehen.«

»Besonders«, sagte der Edelmann, »wenn der eine oder der andere von einer Stimmung regiert wird und dieser zu viel nachgibt. Stimmungen können niemals über Gedanken und Ansichten ein richtiges Urteil fällen.«

»Diese Stimmungen aber«, widersprach der Freund eifernd, »wenn sie nicht Grillen und eigensinnige Launen sind, entspringen ja nur aus dem wahren Charakter und der Tiefe des Gemüts;[299] sie sind es ja, die der Mensch nicht vernichten kann und soll, denn sie sind der Boden, in welchem Überzeugung, Tat und Leben aufwachsen.«

»Nun meinetwegen«, sagte der Baron, »so sprich denn aus, was dich quält oder stört; denn freilich, zu viel sollen wir auch nicht an uns selber mäkeln, oder uns das peinvoll abgewöhnen, was mit unserm innersten Selbst verwachsen ist, und wodurch wir erst Individuen werden.«

»Liebster Friedrich«, sagte der junge Meister jetzt ganz weich, »alles, was uns reizt, belehrt, fördert und begeistert, ist immer nur unter Bedingungen und bis zu einer gewissen Grenze hin wahr; überschreite ich beide, so wird das Beste nur Torheit und die höchste Weisheit Wahnsinn. Deshalb ist die Konsequenzmacherei zu fürchten, der logische Zwang, der uns so oft veranlaßt alle Lücken zu überspringen, oder nicht zu erkennen, die zwischen den Wahrheiten liegen, oder die geistige, unsichtbare Scheidelinie zu überschreiten, auf welcher unser Geist in den eigentlichen tiefsinnigen Untersuchungen wandeln muß, wenn er nicht immer wieder aus dem Wahren und Unsichtbaren in die rohe Materie, oder die abergläubige Schwärmerei stürzen soll.«

»Ich glaube dich zu verstehen«, sagte Elsheim.

»So versteht sich aber jener Musiker nicht«, fuhr der Freund fort, »der uns gestern seine bacchantische Begeisterung vortrug. Er schwärmte ganz von jenem Grunde der Wahrheit ab, auf welchem seine Wahrnehmung zuerst wandelte, und geriet in das Reich der Träume und der Willkür. Geht nicht Ordnung, Ruhe Selbstbeobachtung und nüchterner Zweifel mit jenen taumelnden Rossen, so gibt es auch keine Kraft, diese zu lenken und auf dem richtigen Wege zu erhalten. Gewiß hat auch unser Liebling Mozart diese Kräfte nicht verleugnet. Denn das ist eben der Hauptirrtum, daß diese Bacchanten nicht sehen, oder nicht sehen wollen, daß in der Mäßigkeit, Ruhe, in dem stillen Haushalt unserer einsamen Seele, in den Schranken der Ordnung und Notwendigkeit, kurz in der scheinbaren Prosa, die man so oft voreilig der Poesie entgegenstellt, ebenfalls im gesänftigten Raum jene Himmelsblumen emporwachsen, und Begeisterung und Tatkraft auch aus diesen stillen Winkeln hervorschreiten mögen. Wie die alten Himmelsstürmer oder jene Erschaffenen bestellt gewesen sein mögen, die vor aller Geschichte auf unserer Erde hausten, wissen wir nicht; seitdem aber der uns bekannte und verständliche Mensch Regent ist, müssen wir einsehen, daß in diesem die doppelte Natur des Riesen und des sanft Gehorchenden, des Herrschers[300] und des gern und freudig Unterwürfigen erst die Natur in ihm ausbildet, durch welche er ein Recht hat, nach Blumen, Lorbeeren, Palmen und Sternen zu greifen. Der Rausch ist auch oft nüchterner, als wir uns gestehen mögen. Palestrina, der beseligte, sollte jemals haben rasen können? Und unser Sebastian Bach; wie beschränkt, wie bürgerlich, wie so ganz Ordnung, biedere Alltäglichkeit im Leben, wie klein, ruhig und unbemerkt in der Gesellschaft und unter den Schwätzern, und wie groß eben dadurch in seiner Wissenschaft und Kunst!«

Elsheim nahm die Hand seines Gefährten und drückte sie recht herzlich, dann aber überließ er sich einem so lauten und ausgelassenen Lachen, daß der bescheidene Fuhrmann sich einigemal umsah, um zu entdecken, was wohl dieses schallende Gelächter habe veranlassen können. Leonhard war sehr über diesen unerwarteten Ausbruch von Lustigkeit befremdet und erwartete mit einiger Spannung die Erklärung dieser Explosion. Endlich, nachdem er sich beruhigt hatte, sagte der Freund: »Siehe, das ist nun auch meine Eigentümlichkeit und Stimmung, die du mir nicht zu sehr kritisieren darfst. Deine Vorliebe für das Zunftwesen, dein Handwerksgeist geht in allen deinen Gedanken mit auf. Und du magst doch recht haben. Auch in der Kunst, in der geistigsten Beschäftigung, muß wohl neben Begeisterung und Anschauen nun auch das Handwerk mit seiner bürgerlichen Ordnung eintreten, um durch Regel und Beschränktheit dem Geist erst seine wahre Freiheit im Schaffen zu erringen. Du hast recht: ohne Widersprüche, die sich aufzuheben scheinen, und ohne Vermittlung dieser Widersprüche ist nicht Mensch, Kunst, Wissenschaft, Geist. Darum zeigt sich auch eine überraschend ähnliche Ohnmacht in den Gebilden des ganz phantastischen Schwärmers und des philisterhaft Nüchternen, der bloß mit Anstrengung Regel und Bewußtsein ein Kunstwerk hervorbringen will.«

Die Hitze war so drückend geworden, daß sie es vorzogen, in einem kleinen Dorfe, das abseits von der großen Straße lag, haltzumachen, als sich mit ermüdeten Pferden noch nach dem großen Gasthofe der kleinen Stadt hinzuquälen. Der Stall war für die Pferde groß genug, und sie setzen sich unter der schattigen Linde in eine Art von Vorsaal, der durch den Baum vor dem Hause gebildet wurde. Während die Mahlzeit zubereitet ward, erquickten sie sich am Duft der Blätter und Blüten, und Elsheim sagte: »Sieh einmal, mein Freund, wie gescheit unsere Vorfahren in einer Sache waren, die viele des jetzigen Geschlechtes nur lächerlich finden. Dadurch, daß man diese schöne alte Linde oben so[301] stark und regelmäßig beschneidet, entsteht hier unten dieser kühl dämmernde, dunkelnd grüne poetische Saal. Dieser gibt eine so liebliche duftende Kühle, wie sie kein Zimmer mit Vorhängen und Kunstanstalten hervorbringen kann; auch keine Gartenlaube ist so wohnlich und vertraulich. Man sieht von hier in das Haus und auf die Straße und ist von beiden ganz ungestört. Oben, damit die Stuben nicht verfinstert und selbst feucht werden durch die Nähe des Baums, sind alle Zweige weggeschnitten, soweit die Zimmer reichen. Nun hat man in den höheren Zimmern mit dem ersten Frühlinge eine grüne duftende Decke unter sich, ohne von den Ästen gestört zu werden, und die Stuben sind hell und frei. Der schöne Baum ist freilich verdorben; dafür hat dieser Bauer aber auch einen grünen Sommersaal, wie kein Fürst mit allem seinem Prunke ihn aufweisen kann.«

Leonhard erwiderte: »Auch in Städten habe ich oft diese Art, die Linden zu behandeln, wahrgenommen. Dort ist diese Erfindung, womöglich, noch zauberischer, als hier auf dem Lande, weil dieser unten entstehende Saal und die gerade Linie der grünen Wand oben, auf welche man aus den Fenstern niedersieht, im erfreulichen Kontrast mit den Häusern, sowie dem gewöhnlichen bürgerlichen Verkehr auf der Straße stehen. Unsere Vorfahren liebten es überhaupt, Bäume aller Art in ihren Städten zu pflegen, und sie zieren oft eine häßliche Gasse und geben ihr ein wahrhaft trostreiches Ansehen; die Neueren fangen an diese Anstalt als etwas Abgeschmacktes zu verlästern. Es hat etwas Wunderbares, wie der Baum sich erziehen und verziehen läßt, vor allen Buche und Linde. Das Gedicht des Wandsbecker Boten gegen diesen Schneiderscherz, wie er es nennt, ist recht getreu und biederherzig, aber es wird mir die Schönheit dieses Sommersaales, oder gar den Zauberreiz eines echten großartigen französischen Gartens niemals aus der Seele singen können.«

Ein großer Mann von mittleren Jahren war schon einigemal durch die Haustür aus- und eingegangen. Er trug ein großes Buch unter dem Arm, welches eine Bibel zu sein schien. Er setzte sich an einen anderen Tisch und fing an zu lesen, verschloß aber den Band gleich wieder und ging durch die Haustür in den Garten. Jetzt kam er wieder herein, sah sich scheu um und legte sein Buch auf den Tisch der Reisenden, indem er mit heiserer Stimme fragte: »Meine Herren, lesen Sie auch wohl die Bibel?«

»O ja«, sagte Leonhard.

»Und welches Buch«, fragte er weiter, »ist Ihnen in diesem großen heiligen Werke das allerliebste?«[302]

»Das läßt sich wohl nicht so schnell entscheiden«, erwiderte Elsheim; »bald wird unsere Seele von diesem, bald von jenem mehr gereizt, und es hat mir immer wohlgefallen, wenn manche Geistliche es nur als ein einziges, innig zusammenhangendes Buch haben ansehen wollen.«

Der Bauer schüttelte so heftig mit dem Kopf, daß ihm die blonden Haare in das Gesicht fielen. Er nahm den messingenen Kamm und strich sie wieder nach hinten hinüber, indem sich plötzlich in seinem finsteren Gesicht ein helles, aber ironisches Lächeln auftat. »Da sind Sie noch nicht weit gekommen«, sagte er dann. »Die verhüllte Wahrheit sucht sich vorsätzlich in manchen der Bücher zu verbergen; die versteht man nur und findet das Korn der Weisheit heraus, wenn man das rechte Buch aufgefunden hat und Tag und Nacht in diesem studiert. Für jeden Menschen, in welchem nämlich das Licht aufgeht, ist es aber ein apartes, denn unsere Sinnesarten sind sehr verschieden; Gott steht allenthalben, einer darf ihn aber nur schräg, der andere von der Seite, und manche nur ganz von weitem ansehen. Wechseln sie nun ihre Stellung und kommen sie in eine unrichtige, so können sie gar nichts von ihm verstehen. Denn unser Herr ist ein wunderliches Wesen, er ist liebreich und sanft in seiner Allmacht und Hoheit, aber er macht sich nicht gemein. Wir reden ihn alle mit du an, und das verlangt er sogar, aber mit Grobheit und so von ungefähr angesprochen, läßt er sich nicht antreffen, sondern immer verleugnen.«

Ein hoher Greis trat jetzt zu ihnen, eine von jenen mächtigen Gestalten, die sich, in welchem Stande sie auch sein mögen, eine unwillkürliche Achtung erzwingen. »Sohn Daniel«, sagte er mit tönender Stimme, »du fällst ja den fremden Herren zur Last.«

»Gewiß nicht!« rief Elsheim, aber der Sohn entfernte sich schnell mit jenem scheuen Blick im zugedrückten Auge, der den Reisenden gleich anfangs aufgefallen war. »Verzeihen Sie«, sagte der alte Vater, ich kann es nicht immer verhindern »daß mein unglücklicher Sohn fremden Leuten beschwerlich fällt. Er meint es gut, und es ist kein Arg in ihm, aber wer ihn nicht kennt, trägt wohl Scheu, oder fürchtet sich vor ihm.«

Da Elsheim neugierig geworden war, lud er den alten Bauer ein, sich zu ihnen zu setzen, und dieser willfahrte ohne Verlegenheit, als ein Mann, dem Menschen und Welt nicht unbekannt waren. Er erzählte von sich, seinen Schicksalen und seiner Familie. Er hatte, sonderbar verschlagen, einen Feldzug in fernen Weltteilen mitgemacht, hatte bei seiner Rückkehr unvermutet[303] einige wohlhabende Verwandte beerbt und war nun durch Tätigkeit, und daß er seine Grundstücke zu verbessern verstand, zu einem gewissen Reichtum gelangt. »Ich bin«, fuhr er fort, da er sah, daß sich seine Zuhörer für seine Rede interessierten, »wohl ein glücklicher Mann zu nennen, wenn ich so um mich her die meisten meiner Nebenmenschen betrachte. Wir leben hier in einer angenehmen Gegend, ich erzeuge selbst meinen Wein und was ich sonst noch brauche, mein Garten liefert mir den Bedarf für meinen Haushalt, und ich baue, so alt ich geworden bin, noch selbst mit Freuden meinen Acker und halte meine große Wirtschaft in Ordnung. Drüben wohnt mein ältester Sohn, der schon seit lange Schulze dort ist, und durch den ich schon seit lange Großvater und nun seit kurzem auch Urgroßvater bin. Mein Martin und Friedrich werden nächstens heiraten, meine Tochter ist auch versorgt in einem anderen Dorfe, und so kann ich mich als den Stammvater eines zahlreichen, gesunden und lebensfrohen Geschlechtes ansehen.«

»Und dieser Sohn, der eben von uns ging?« fragte Elsheim.

»Ja, meine Herren«, fing der Alte wieder an, »in diesem Sohne könnte ich mich auch unglücklich nennen, denn in jeder großen Haushaltung muß etwas sein, das mit dem übrigen nicht aufgeht. Der Mensch muß eben auch immer etwas zu klagen haben. Als Kind war mein Daniel so klug, wie es niemals einer meiner anderen Söhne gewesen ist. Er lernte fast von selbst lesen, er sprach sehr früh und zwar ganz vernünftig. Er war gern allein, und lautes Geschwätz, wie es denn doch oft Bauersleuten vorfällt war ihm zuwider. Weil das Kind nun gern tätig war, so half er, so klein er war, allenthalben. Es machte ihm große Freude, den Hirten zu begleiten, wenn dieser meine Schafe austrieb. Wenn er am Abend nach Hause kam, hielt er manchmal recht nachdenkliche Reden über alles das, was er da draußen im Freien beobachtet hatte. Bald erzählte er von den Wolken, von wunderlichen Tönen im Walde, auch wohl von der Geschicklichkeit und Klugheit des Schäferhundes, den er ganz wie einen verständigen Menschen schilderte. Da das Kind so was Apartes hatte, so ließen die Mutter und ich ihn gern gewähren, und seine Geschwister hörten nicht viel auf ihn hin, weil sie ihn nicht verstanden. Als die Zeit seiner Einsegnung herankam, ließ er sich oft mit unserm Priester und Schulmeister in Disputationen ein, weil er die Bibelstellen anders wollte erklärt haben. – So was können die geistlichen Herren immer nicht leiden, ob es uns gleich, den Lutherischen, wie wir es hier noch alle sind, aufgegeben ist, in der[304] Schrift zu forschen. Das Forschen aber, und soweit haben die Priesterleute recht, ist ein mißliches Ding, und ich habe darum von je an alles unserm lieben Gott anheimgestellt und bin ruhig dabei geblieben. Es traf sich, daß unser Schafhirt plötzlich erkrankte, und Daniel bot sich nun eifrig an, seinen Dienst zu versehen, bis sich ein anderer tüchtiger Knecht wieder gefunden habe. Und nun konnte er im einsamen Felde so recht ungestört seinen Grübeleien nachhangen und brauchte keinen Menschen Red und Antwort zu geben. So ging der Sommer hin. Im Herbst kam er eines Abends ganz zerstört und verwirrt nach Hause, er trieb die Schafe nicht ein, er lief in den Garten und sprach laut mit sich selbst, in der Nacht legte er sich nicht zu Bette, sondern rannte wieder nach dem Walde hinaus, und als der Morgen da war, kümmerte er sich gar nicht um seine kleine Herde und war gar nicht einmal da, als wir alle zum Frühstück zusammenkamen. Als das Haus leer war, und ich schon ausgehen wollte, um ihn zu suchen, kam er ohne Hut und mit fliegenden Haaren von seiner Wanderung zurück. Sowie ich ihn nur ins Auge faßte, sah ich auch schon, daß er ein verwirrter Mensch war. Er stotterte und war ganz außer sich, und als er endlich die Rede wiedergewann, erzählte er mir, daß er im Felde bei den Schafen Bekanntschaft mit Engeln gemacht hätte, die so gütig gewesen wären, sich zu ihm herabzulassen. Diese hätten ihm die Schrift und die schwersten Stellen in derselben ganz zur Genüge erklärt, und er wisse nun mehr, als alle Schriftgelehrten im Lande. Von nun an war der liebe Junge ein verlorener Mensch, und der Doktor, den wir aus der Stadt hatten kommen lassen, sagte auch, ihm sei nicht zu helfen, denn er habe auf zeitlebens den Verstand verloren und würde ihn auch bis zum Tode nicht wiederfinden. Nun lag er Tag und Nacht über dem Bibelbuche, er schlief wenig, und in den Nächten las er laut und predigte mit heftiger Stimme, so daß er oft am folgenden Tage ganz heiser war. Weil er Daniel heißt so studierte er auf seine Art den Propheten Daniel am meisten und bezog dabei alles auf sich. Er sagte oft, dieser Prophet sei der größte, und Ezechiel, vorzüglich aber die Offenbarung Johannis seien nur mißverstandene Übertreibungen, das wahre Wort und Geheimnis sei im Daniel ausgesprochen. Dieser sei auch wichtiger, als das ganze Neue Testament, und wer diesen Propheten recht innehabe, könne die späteren Bücher und die Lehre Christi entbehren. Bei diesen Meinungen wollte er auch nicht mehr unsere Kirche drüben im großen Dorfe besuchen, und wenn er ja einmal mit uns ging, so saß er während der Predigt murrend da und[305] schüttelte zu allem, was der Priester sagte, den Kopf, so daß er oft großen Anstoß gab. Da er hie und da welche aus der Gemeine hatte bekehren wollen und sich gegen diese nicht undeutlich merken lassen, er sei selber der Heiland und der wahre Erlöser in unserer neuesten Zeit, so verklagte der Pfarrer den Unglücklichen beim Konsistorium in der Stadt. Die Sache machte viel Aufsehen, und etliche eifernde Geistliche wollten ihn mit Gewalt zum Widerruf, Pranger und Zuchthaus verdammt wissen. Der menschenfreundliche Arzt nahm sich aber der Sache an. Der Mann ging selbst zum Minister, und die Billigeren von der Geistlichkeit sahen nun auch wohl ein, wo es meinem armen Daniel fehle. So sprachen sie ihn denn los als einen Blödsinnigen, der über seine Reden nicht zur Verantwortung gezogen werden könne, und gaben ihm nur auf, sich alles Predigens und Bekehrens zu enthalten. Das nahm mein Daniel anfangs sehr übel und noch mehr, als er erfuhr, daß sie ihn seit seinem Prozeß hier und in der Umgegend nur den Dummen nannten. Doch forschte er so lange im Daniel und in den Briefen der Apostel, bis er sich überzeugte, ein solcher Ausgang wäre ihm schon vor allen Zeiten prophezeit worden. So treibt er nun sein unschuldiges Wesen, und ich kann ruhig wegen meines Todes sein, denn die Brüder lieben, ja ehren ihn so sehr, daß sie gern einmal seinen Unterhalt und seine Verpflegung übernehmen werden.«

Elsheim und Leonhard hörten dem Alten mit Vergnügen zu, und der Baron sagte: »Es ist nicht ohne Grund, daß uns eine Art von sonderbarer Achtung in der Nähe solcher Wesen beschleicht; wir fühlen die gestörte Harmonie und vermuten dabei, daß irgendeine Geisteskraft, wenigstens für Augenblicke, um so höher gesteigert werde.«

»Das kann wohl sein«, sagte der Alte, »denn wirklich spricht der Kranke so in seinen Abwesenheiten manchmal recht nachdenkliche Sachen. Wenn er am Abend an seinem Tisch sitzt und liest, und wir sprechen dies und das vom Ackerbau, von Einrichtung und Verbesserung der und jener Sache, oder von Familienangelegenheiten; wir alle glauben, er hört gar nicht hin, und mit einemmal wirft er dann ein paar Worte nur so hinein, und alle Schwierigkeiten sind gelöst, über die wir uns den Kopf zerbrechen.«

»Hat er nie Lust bekommen, sich zu verheiraten?« fragte Elsheim.

»Niemals«, erwiderte der alte Bauer, »er hält im Gegenteil alle Weiber und Mädchen für viel geringere Wesen, als die Männer[306] und läßt sich auch nur ungern in Gespräche mit ihnen ein. So ist er denn nun für unsere Feldarbeit und den Haushalt ein verlorner Mensch, das Wohl und Weh der Familie kümmert ihn nicht, er scheint auch alles vergessen zu haben, was er in der Jugend gelernt hat. Nur eine sehr merkwürdige Gabe hat sich seitdem an ihm gezeigt. Wir hatten vor vielen Jahren nur wenige Bienen; jetzt bauen wir außerordentlich viel Honig und verkaufen ihn und das Wachs vorteilhaft. Diesen ungewissen Teil der Landwirtschaft verwaltet er nun ganz allein: er hat sich der Sache bemächtigt und sie in Flor gebracht, ohne gegen uns nur ein einziges Wort darüber zu verlieren. Und wunderbar ist er für diese Verrichtung begabt. Noch niemals hat ihn eine Biene gestochen, und doch zieht er weder Handschuhe an, noch trägt er die Kappe vor dem Gesicht. Die kleinen klugen Tierchen haben Vertrauen und Liebe zu ihm, und er kann alles mit ihnen anfangen, was er nur will. Er kann in den Körben hantieren nach Herzenslust, sie lassen ihn gewähren; beim Ausnehmen des Honigs, bei allem, was er tut, stören sie ihn nie. Fast wunderbar ist es, wie sie ihm folgen, wenn sie schwärmen. Er kann sogleich jeden Schwarm, der sich verflogen hat, wiederfinden, und sie kehren mit ihm wie gehorsame Kinder zurück, wohin er sie haben will. Das wissen auch alle unsere Nachbaren und die Bienenwirte auf den anderen Dörfern. Sie kommen sehr oft und sprechen seine Hülfe an, und er schafft ihnen immer die Wegläufer wieder. In diesem Tun ist er auch unermüdlich und großmütig dabei, denn er nimmt von den Fremden nie was für seine Arbeit, wenn er auch Tage und Nächte darauf verwendet, die verschwärmten Bienen zu finden und einzufangen, unsern Honig verkaufen wir, und er fordert nie etwas davon, wenn wir es ihm nicht freiwillig geben.«

Als der Greis sich wieder entfernt hatte, und den Freunden ein einfaches, kräftiges Mahl aufgetragen war, sagte Elsheim nach einer Weile: »Ist dieser Bauer nun in seiner Umgebung und Bestimmung nicht so glücklich, als der Mensch es nur sein kann? Es gibt viel Unglück auf Erden – wer zweifelt daran? – aber die Hälfte davon zimmern sich doch die Menschen selbst mit großer Mühe zusammen.«

»Gewiß«, sagte Leonhard, »durch ihre stachelnden Leidenschaften; aber doch sind uns diese wieder vom Schicksal verliehen, wir können und dürfen ohne sie nicht sein: und so dreht man sich doch wieder im Zirkel, denn von diesen Unglückstiftern rührt doch auch das Große und Edle her.«[307]

»Maßhalten!« rief Elsheim, »freilich, das ist die oberflächliche Weisheit und Tugend, die so schwer zu finden ist.«

Als die größte Mittagshitze vorüber war, kam der alte Bauer wieder und sagte: »Wollen die Herren vielleicht den Kaffee, oder noch ein Glas Wein jetzt auf der andern Seite des Hauses nach dem Garten zu trinken?«

Die Sonne war in der Tat näher gerückt und hatte die zauberhafte Dämmerung etwas gelichtet. Sie gingen durch das große Haus, und der Wirt sagte, als sie im Garten standen: »Die Einrichtung mit meiner Linde hat Ihnen dort wohl gefallen, daß ich Ihnen noch diesen zweiten alten Lindenbaum zeigen will. Hier auf dieser Seite ist es nachmittags am kühlsten und anmutigsten. Ich habe den Baum so künstlich verschnitten, daß er oben eine große dichte Blätterlaube macht. Nun gehen wir hier eine ziemlich hohe Treppe hinauf und sitzen oben im Schatten und sehen über den Garten weg in die weite Landschaft hinaus.«

Oben war eine große Tenne, von glatten Brettern gefugt; der Baum schützte gegen Regen, Luft und Wind, und der Blick nach den fernen Gebirgen, Wäldern und dem nahen Flusse war reizend. Der Alte freute sich, daß die Gäste überrascht und von der bequemen Anstalt, sowie von der Landschaft, entzückt waren. »Ja, ja«, sagte der Alte lächelnd, »wir gemeinen Leute haben denn auch unsere Einfälle und sozusagen besonderen Prachtanstalten. Sie glauben nicht, meine Herren, wie gern ich von hier aus die Sonne untergehen sehe; sooft ich mich abmüßigen kann, sitze ich alsdann hier gegen Abend in meinem hölzernen alten Lehnstuhl. Nun ist es rührend, wenn nach und nach die Abendröte verschwindet, und ein Sterngebild nach dem andern aus dem dunkeln Himmel heraustritt. Da fällt mir vielerlei ein, Rührendes und Erfreuliches. Absonderlich ist es, wenn es nun immer stiller wird, und sie drin im Hause die Lichter anzünden. Zwischen den grünen Weinranken nehmen diese sich nun von hier und die helle Stube hinter dem Laub und die Schatten von meinen Kindern, die auf und abgehen, recht wunderbar aus. Ich habe manchmal gewünscht, ich könnte das mir alles so abmalen.«

Es gibt eine stille Passivität, die, ohne zu beobachten und ohne sich des Eindrucks bewußt zu werden, in manchen Stunden die Natur wohl am würdigsten genießt. Der Weihe dieses Quietismus ergaben sich die Freunde, als der redselige Alte sie wieder verlassen hatte. Endlich besann sich Elsheim zuerst wieder und sagte: »Was hindert mich denn, diese bäuerliche Erfindung auf[308] meinem Gute nachzuahmen? Mögen die Enthusiasten der englischen Gartenkunst die Nase rümpfen, soviel sie immer wollen, ich werde es ganz gewiß tun. Hier sitzen wir wie Vögel in einem größeren Nest; und ein Liebster mit seiner Braut, Mann und Frau, eine einträchtige Familie, für diese und poetisch gestimmte Menschen ist das ja ein himmlischer Platz. Und für zwei junge Freunde, wie wir hier vorstellen, ja wahrhaftig auch. Mir ist hier zumute, als wenn wir die Figuren aus einem dichterischen Märchen wären. Ich erinnere mich dunkel, einmal gelesen zu haben, daß eine trauernde Schöne den Leichnam ihres jungen Geliebten auf einer Linde hegt und betrauert: da muß sich der Dichter doch wohl einen solchen Lustsaal gedacht haben.«

»Welch Entzücken«, sagte Leonhard, »würde wohl mancher ausrufen, um eine solche Alltäglichkeit! Denn diese Anstalten, mein poetischer Freund, sind wirklich bei Bauern und Bürgern nicht so selten, als du zu glauben scheinst. Ihr vornehmen gebildeten Leute beachtet nur so was selten, und in den Reisebeschreibungen steht es nicht verzeichnet.«

In der besten Laune fuhren sie bei eintretender Kühlung jetzt weiter. Der alte Bauer nahm einen so herzlichen Abschied von ihnen, als wenn er sie schon seit Jahren gekannt hätte, und die jungen Leute konnten sich auch bei dem Gedanken, diese Stelle vielleicht nie wiederzusehen, einer gewissen Rührung nicht erwehren.

»Nun«, fing Leonhard an, »müssen wir doch wohl nach meiner Rechnung bald auf deinem Gute anlangen.«

»Noch heut abend«, sagte der Freiherr, »laufen wir in den Hafen ein, wenn wir nicht noch vorher Schiffbruch leiden.«

»Der Himmel verhüte böse Vorbedeutungen«, sagte Leonhard lachend; »aber freilich, wer kann wissen, was uns bevorsteht, und besonders mir, da ich in ein fremdes Haus und unter lauter Unbekannte trete? Ich bin so gar nicht daran gewöhnt, mit fremden Menschen zu verkehren, daß es mir sehr schwer ankommen wird, meine Verlegenheit zu überwinden.«

»Sobald du dir vertraust« – antwortete Elsheim –, »sobald weißt du zu leben; damit spricht eigentlich dieser gewandte Geist das ganze Geheimnis aus. – Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt, und wer sie meidet, wird sie bald verkennen. – Dies lehrt uns auch unser Dichter bei einer anderen Gelegenheit, und es wäre unbegreiflich, wie die Menschen diese so naheliegenden Überzeugungen so oft nicht finden, wenn wir nicht wüßten, daß das Allernächste gerade das ist, was so oft nicht erkannt wird.«[309]

»Wen find ich nun dort?« forschte Leonhard weiter.

»Zuerst meine Mutter,« antwortete Elsheim, »eine stille, behagliche Frau, die dich in nichts genieren und hindern wird. Dann aber einen lieben Jugendfreund, der nur etwas älter ist, als ich, den Baron Mannlich. Sein kleines Gut liegt nur eine Stunde von dem meinigen, und er war kurz zuvor, ehe ich die Universität besuchte, mein täglicher Gesellschafter, ja in einem gewissen Sinne mein Lehrer. Mir ist es immer sehr merkwürdig gewesen, von Bekannten, sowie von berühmten Männern verschiedener Nationen diejenigen ihrer Freunde kennenzulernen, mit denen sie sich in der Jugend verbrüderten. Jeder Jugendfreund, auch wenn er jenen Bekannten völlig unähnlich erscheint, ist doch wie ein Glied von ihnen anzusehen, und keiner ist noch gewesen, der sich von dem Einfluß dieser Umgebungen hätte lossagen können. Die Erinnerung an das Wesen dieser Freunde, an ihre Gesinnungen und Meinungen wirkt noch spät fort, und sie bleiben ein Maßstab, um vieles Ungekannte, Seltsame, oder Lehrreiche zu erproben. Darum ist auch wohl schlechte Gesellschaft in der Jugend so gefährlich, weil es auch dem starken Charakter kaum möglich ist, alle Eindrücke, die sich in solcher Umgebung bilden, wieder auszutilgen.«

»Auf mich«, unterbrach ihn Leonhard, »kann diese Beschreibung nicht passen. Denn, nachdem ich die Schule und die Lehrjahre überstanden hatte, trieb mich mein Beruf und die Neigung in die Fremde und auf Reisen. So knüpfte ich allenthalben nur wandelbare Bekanntschaften und Freundschaften an, und nur wenige junge Gesellen meines Standes sind mir so lieb geworden, daß ich mich noch jetzt ihrer gern erinnern sollte.«

»Ist es mir denn nicht auf ähnliche Art ergangen?« sagte Elsheim; »auf der Universität fand ich nur selten einen Jüngling zu welchem ich Zutrauen fassen konnte, und als ich bald darauf meine Reisen antrat, erging sich mein flüchtiges Leben wie aus einem Schauspielsaal in den andern. Ich bin nachher nie wieder mit jemand so vertraut geworden, wie ich es mit dir auf der Schule war. Darum suchte ich dich auch gleich wieder auf, als ich von meinen Reisen zurückkam, um mich wahrhaft an deiner Jugend zu erwärmen, da mein Herz in den vielen vornehmen Zirkeln wie erfroren war. Deshalb müssen wir auch immer in wahrer Freundschaft vereinigt bleiben.«

»Mir kann oft bange werden«, erwiderte Leonhard, »wenn ich in meiner kurzen Erfahrung so oft gesehen habe, wie engverbundene Menschen sich trennen, selbst hassen, zuweilen um Kleinigkeiten,[310] oder weil sie Klätschereien zu leichtgläubig ihr Ohr liehen.«

»Da kommen wir auf den Punkt«, fiel der Baron lebhaft ein, »daß es nur so wenige selbständige Menschen gibt. Zu diesen schwachen wollen wir aber nicht gehören. – Dieser Baron Mannlich, von dem ich dir sagte, ist eine schöne, schlanke Gestalt; sein Blick ist frei, sein Betragen edel; er hat in einem gewissen Zeitraum den allergrößten Einfluß auf mein Wesen und meine Bildung gehabt. Wenn ich oft verwirrt mich umtrieb, so zeigte er sich immer klar und fest. In meinen Ansichten über Literatur und Kunst hat er mir vorzüglich fortgeholfen und mich in meiner Liebe zur Poesie gekräftigt. Denn oft ist ein Fingerzeig eines stärkeren Geistes hinreichend, um uns auf lange Zeit in der richtigen Bahn fortzuhelfen.«

»Wohl dem«, sagte Leonhard etwas kleinlaut, »dem das Schicksal solche Freunde zuführt; es kann nichts Kläglicheres geben, als in seiner Umgebung immer der Klügste zu sein, und leider war das unter meinen Zunftgenossen nur zu oft mit mir der Fall. Man lernt auch wohl einmal vom Geringsten, aber das Schulgeld ist dann zu teuer. Der Verlust an Zeit und Stimmung in schlechter und mittelmäßiger Gesellschaft ist ein Kapital, welches die meisten Menschen viel zu gering anschlagen.«

»Auf meinen Mannlich«, fing Elsheim wieder an, »habe ich bei unserm Komödienspiel am allermeisten gerechnet. Er besitzt ein herrliches Talent zur Darstellung, und seine Stimme ist die schönste, die ich jemals gehört habe; darum ist er auch der beste Vorleser, den man finden kann, und die kleine Eitelkeit ist ihm zu verzeihen, daß er nicht leicht, wenn er zugegen ist, jemand anders in der Gesellschaft etwas laut vortragen, oder deklamieren läßt. Von den übrigen Menschen, die du wirst kennenlernen, will ich dir jetzt noch keine Beschreibung machen, du wirst sie selber zu würdigen wissen. Zwei schöne Mädchen finden wir, die Fräulein Charlotte Fleming und Albertine Fernow: die letzte wirklich, wie ihr Name, etwas albern. Sie sind uns weitläufig verwandt und wohnen im Sommer mit einer alten Tante oft bei meiner Mutter. Diese Albertine, so wünscht meine Familie, habe ich schon im vorigen Jahre heiraten sollen, und man ist mir böse, daß ich so bestimmt ausgewichen bin. O über die Ehen und über die Sucht so vieler guten Menschen, sie zu stiften! Wer einem andern zu einer mißlichen Spekulation riete, und jener scheiterte daran und würde bankerott, der würde es bereuen und sich Vorwürfe machen; darum hüten sich die Klügern, hierin zu überreden;[311] aber zu dem noch größeren Wagestück, die Menschen in die Ehe hineinzuschwatzen, sind so viele, besonders ältere Frauen, unermüdlich.«

Als es Abend geworden war, rief Elsheim plötzlich: »Nun, siehst du, Kind, da liegt das Nest vor uns, in dem ich geboren bin und die ersten Kinderspiele trieb!«

Leonhard sah ein großes Gebäude vor sich, das mit großen Linden umgeben war, aus welchen die einzelnen Teile hervorschienen. Waldbekränzte Hügel zeigten sich in der Nähe; die Häuser der Bauern waren geräumig, und Reinlichkeit schien Wohlstand zu verkünden. Man hielt an; Bediente öffneten den Wagen, und ein kleiner alter Mann mit entblößtem weißgepudertem Kopf folgte ihnen; er war in grauem Rock, schwarzseidenen Unterkleidern und weißen seidenen Strümpfen; die zierlichen Manschetten hoben die Feinheit der kleinen Händchen noch auffallender hervor. Er verbeugte sich tief, als der Baron ausgestiegen war, und Leonhard, der nach dem Freunde den Wagen schnell verließ, erwiderte die Begrüßung mit einer ebenso tiefen Verneigung. »Ja«, sagte Elsheim, »das ist mein guter Joseph, ein altes, liebes Inventarienstück unseres Hauses, der Kammerdiener meiner Mutter.« – Leonhard folgte mit einiger Beschämung, weil er den netten geputzten Alten für einen Baron oder Grafen gehalten hatte.[312]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Band 4, München 1963, S. 242-313.
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