[115] Gleich beim Anfang dieses Kapitels stößt mir eine Bedenklichkeit auf, die nicht so klein ist, als sie vielleicht dem Leser scheinen mag. Wie bekannt, erzählt mir Mutter Marthe eine Geschichte, um mir zu sagen, wer meine Eltern sind; nun entsteht aber die große Frage, wie ich diese Erzählung vortragen soll? – Soll ich meiner guten alten Pflegmutter, die kein größer Glück kannte, als etwas zu erzählen, das Wort aus dem Munde nehmen und in meiner eigenen Person sprechen? Das wäre wahrlich eine große Undankbarkeit von meiner Seite, das hieße ihre zärtliche Sorgfalt für mich in meiner Jugend, ihre Freude, als sie mich jetzt wiedersah, sehr schlecht vergelten. Wenn ich sie redend einführe, wird meine Erzählung auch überdies noch dramatischer die Darstellung wird lebendiger und für den Leser um so interessanter. – Ich war so eben schon entschlossen, die Erzählung anzufangen, als mir wieder meine alten Bedenklichkeiten einfielen. Mutter Marthe erzählte nämlich so weitläuftig, daß ihre Geschichte allein größer sein würde, als der ganze erste Teil dieses Werks. Das wäre aber eben kein groß Unglück gewesen, denn der Weitschweifigkeit sind die Leser schon an den Geschichten die recht dramatisch sein sollen, gewöhnt; auch das schlechte und unrichtige Deutsch würde mich nicht abhalten, ihre Erzählung wörtlich nachzuschreiben, denn viele Leser würden die Unrichtigkeiten gar nicht bemerken und bei den andern könnten sie immer noch für treue Nachahmungen der Natur gelten; aber man würde schwerlich aus meiner guten alten Pflegemutter recht klug werden können, und obgleich meine Leser auch daran vielleicht durch viele der neusten Bücher gewöhnt sind, so lieb ich doch die Deutlichkeit gar zu sehr als daß ich ihr nicht ohne Bedenken alle übrigen Schönheiten aufopfern sollte.
Ich erzähle also im Namen der Mutter Marthe:
Der Herr von Bührau hatte bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr sehr fromm und eingezogen gelebt, als er von ungefähr auf den Gedanken kam, sich zu verheiraten. Es war leicht vorauszusehn, daß er als Ehemann nichts von seiner Frömmigkeit verlieren würde, denn seine Geliebte, das Fräulein Dölling, war noch frömmer, als er. Sie sprachen oft zusammen, wie sie sich in ihrem künftigen Ehestande die Schriften des Alten und Neuen Testamentes erklären wollten; ob sie das Hohelied zu den apokryphischen[115] Büchern rechneten, kann ich nicht sagen; genug, sie verlobten sich und der Hochzeitstag ward festgesetzt.
Alles ward zu diesem feierlichen Tage vorbereitet, die Gäste erschienen, der Tag selbst brach an, sie wurden getraut, man gratulierte, sie weinten fromme Tränen und die Gäste fingen an, sich im Rheinwein zu betrinken, als sie sich in eine stille einsame Laube des Gartens zurückzogen, um noch einmal miteinander zu überlegen, welche schwere Pflichten sie beide in ihrem jetzigen Stande zu tragen hätten. Sie rechneten sich die Liebe und die Geduld vor, die alle Eheleute, vermöge ihres Amtes, gegeneinander und miteinander haben müssen: die Sorgfalt für die Erziehung ihrer Kinder; kurz, sie machten sich mit allen den Pflichten Langeweile, die die meisten Verheirateten schon im ersten Vierteljahr der Ehe vergessen. – In der Nähe des Gartens war eine Kirche, und die Orgel schallte so feierlich in ihr frommes Ohr, daß sie dem Drange nicht widerstehn konnten, dem Gottesdienste beizuwohnen. Sie schlichen durch eine Hintertür aus dem Garten in die Kirche hinein. Ein begeisterter Kapuziner predigte gerade über den bekannten Text des Paulus: Es ist besser freien, denn Brunst leiden. – Er gab dem Apostel insoweit recht, daß er seinen Satz nicht geradezu für Unwahrheit erklärte; aber nach und nach erhob er den Stand der Unverehlichten mit so großen Lobeserhebungen, wie sie Gott und seinem Throne näher ständen, wie sie einst reinere Freuden schmecken würden, von denen die übrigen Menschen keinen Begriff hätten, daß Weiber und Mädchen häufige Tränen der Andacht vergossen. – Aber niemand ward von der Predigt so hingerissen, als die beiden Neuvermählten: sie gingen wieder mit frommen Vorsätzen nach Hause. Die Gäste hatten sie nicht vermißt, oder die sie vermißt hatten, mochten ihre Abwesenheit vielleicht einer ganz verschiedenen Ursache zuschreiben. Man brachte den Abend sehr fröhlich zu und die beiden Eheleute begaben sich in ihr Schlafzimmer.
Die Nacht ward nicht so hingebracht, wie es bei den meisten Leuten zu sein pflegt, die sich nun mit der Bewilligung des Priesters und dem Segen der Kirche umarmen dürfen; sondern sie fielen beide auf die Kniee und schickten andächtige Gebete zum Himmel, nicht etwa, um Segen für ihre Nachkommenschaft herabzuflehen, sondern um sich in ihrem sonderbaren Vorsatze zu stärken. Der Mann erklärte jetzt der Frau, daß er fest entschlossen sei, diese Nacht nicht anders als in Gebeten mit ihr hinzubringen, die Frau freute sich über diesen Entschluß: dann[116] machten sie aus, daß sie in den künftigen Nächten, voneinander abgesondert, schlafen wollten, um den Versuchungen des bösen Geistes desto weniger ausgesetzt zu sein. Der Himmel verlieh ihnen die verlangte Stärke, oder Schwäche, wie man es nennen will und sie sahen mit unbeflecktem Gemüte den Aufgang der Sonne. Die Gäste gratulierten und brachten die gewöhnlichen Späße an, die ein jeder von seinem Vater schon geerbt hatte und die ohne Zweifel hergesagt werden müssen, wenn man eine Hochzeitfeier nicht für höchst mangelhaft erklären soll.
Kaum war ein Vierteljahr verflossen, als der Herr von Bührau, zum Erstaunen seiner Bekannten und zur Freude seiner Verwandten in ein Mönchskloster ging; als unbefleckte Jungfrau ging die Frau in ein Nonnenkloster. Seine Verwandten erbten seine Güter und nannten ihn einen frommen Mann; einige seiner Freunde, die gern an seinem Tisch gegessen hatten, nannten ihn einen Narren. – So verschieden ist das Urteil der Leute: man kann es unmöglich allen recht machen.
Meine Leser werden sich bei dieser Stelle gewiß überrascht finden, aber das ist eben die Kunst, um eine Episode interessant zu machen. Die meisten hätten gewiß darauf geschworen, daß der Herr von Bührau mein Vater wäre, und nun geht er plötzlich in ein Kloster und seine Frau wird Nonne. –
Kaum war der Herr von Bührau seit einem halben Jahre im Kloster, als er anfing blaß und mager zu werden und beständig über Krankheit, Herzensbangigkeiten und Brustbeschwerden zu klagen. Eine gewisse melancholische Wehmut hatte sich seiner bemeistert, er konnte stundenlang seufzen und die trüben Wände seiner Zelle ansehn. Er hatte ängstliche Träume, das Kloster ward ihm zu eng, er wünschte sich in die weite Welt zurück. Er dachte dann an seine Frau und verwünschte seine Frömmigkeit und den Kapuziner. Der Arzt fand seinen Puls mit jedem Tage bedenklicher; sein Zustand ward für gefährlich erklärt und der Prior gab endlich seine Einwilligung, daß der Pater Placidus, (so hieß der Herr von Bührau als Klosterbruder,) auf einen Monat ein Bad besuchen könne. Er reiste ab und atmete schon zufriedener die freie Luft des Himmels ein.
Ein seltsamer Zufall, oder die Natur, hatte es so veranlaßt, daß die Frau von Bührau alle die nämlichen Symptome an sich bemerkte. Ihr Arzt riet ihr ebenfalls die Brunnenkur und ein noch seltsamerer Zufall machte, daß beide Eheleute, ohne daß sie es wußten, sich in einem und ebendemselben Bade aufhielten.
Der Pater Placidus ging häufig spazieren, am liebsten besuchte[117] er einsame Gegenden, wo er sich ganz ungestört seiner Melancholie überlassen konnte; ebendies war auch bei seiner Frau der Fall. Hätte der Zufall, der schon so viel getan hatte, um sie zusammenzuführen, nicht auch das Letzte tun sollen?
Der nachdenkende Pater ging an einem schönen Tage dem Gemurmel eines Baches nach, der sich immer tiefer in dichtverwachsene Gebüsche hinabsenkte. Er setzte sich endlich in das weiche Moos und dachte von neuem über seinen Zustand nach, das Gemurmel des Bachs, der süße Gesang der Vögel versetzten ihn nach und nach in sehr empfindsame Träumereien, als er endlich von ungefähr aufblickte, steht eine schöne, weibliche Gestalt vor ihm, er betrachtet sie genauer, es ist seine Frau.
Anfangs waren sie beide erstaunt, sich hier zu finden; das Erstaunen mußte bald der Freude Platz machen, und die Freude wieder der Reue, daß sie beide einen zu voreiligen Schritt ins Kloster getan hatten. Alle diese Gespräche veranlaßten natürlicherweise eine Vertraulichkeit, die selbst in ihrem ehemaligen Ehestande nicht unter ihnen stattgefunden hatte: die empfindsame Nonne sank in das weiche Moos hinab, die Arme ihres Mannes fingen sie auf. Man vergaß Kloster und Klostergesetze, sie überließen sich ganz der Leidenschaft, die erst jetzt in ihnen erwachte; der Bruder Placidus vergaß seine Gebete zum Himmel zu schicken, Küsse, Seufzer und Umarmungen ließen ihm nicht Zeit, zu Worte zu kommen und als er endlich wieder Atem gewonnen hatte, war es zu spät.
Der Pater ward gesund, die Wangen der Nonne färbten sich wieder: beide reisten in ihr Kloster zurück.
Bald ward die Nonne, die ihr Gelübde vergessen hatte, durch ein Pfand unter ihrem Herzen daran erinnert. – Was konnte man tun? Sie suchte ihre Schwangerschaft zu verbergen, die man demungeachtet bald entdeckte. Sie gestand ihr Verbrechen, man verhörte den Pater Placidus, beider Aussagen stimmten vollkommen überein. – Ihr Verbrechen kam vor billige, menschliche Richter; man erwägte, daß sie durch das Ansehn der Kirche Mann und Frau wären, man verzieh ihnen.
Die Nonne kam mit Zwillingen nieder, wovon der männliche kein anderer ist, als der Held der Geschichte, Peter Lebrecht. Um seine Abkunft zu verbergen, hatte man ihn einer Bäuerin mit diesem unechten Namen zur Erziehung übergeben.
Von meiner Schwester hatte Frau Marthe weiter keine Nachrichten, als daß man sie in ein entferntes Dorf einer gewissen Frau Möhring zu erziehen gegeben habe. –[118]
Es war unterdessen unter der Linde Abend geworden, ich ging mit der Erzählerin wieder in die Hütte, wir ergötzten uns in freundschaftlichen Gesprächen und an einem ländlichen Abendessen, dann ging ich schlafen. Froh und munter erwachte ich, ich beschenkte meine Pflegeeltern und verließ sie nach vielen zärtlichen Umarmungen.
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Peter Lebrecht
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