1. Maigesang

[366] 1786.


Der Greis des Silberhaares,

Der Winter, sank ins Grab;

Der Jünglingstraum des Jahres,

Der Frühling, löst ihn ab.

Er zieht, von Melodien

Der jungen Freud' umhallt,

In goldnen Phantasien

Durch den bekränzten Wald.


Es flüstern leise Weste

Mit jedem Halm der Flur

Vom großen Liebesfeste

Der bräutlichen Natur.

Sie wird den Lenz umfangen –

O diese Wonne bricht

Hervor auf ihren Wangen,

Wie heitres Morgenlicht.


Zum Tanz begeistern Laute

Der Seligkeit den Bach;

Im Moos, im kleinsten Kraute

Wird stiller Jubel wach.

O fühlt, was in den Quellen

Nach Finkenschlägen tanzt,

Und auf geheime Stellen

Der Liebe Myrten pflanzt!


O fühlet! fühlt die Freude,

Die jeden Strauch belebt,

Und über Feld und Heide

Mit Lerchenjubel schwebt![366]

Sie ist ein Kind der Liebe,

Der Liebe, welche tief

Aus Nächten das Getriebe

Der Morgensterne rief;


Die seliges Frohlocken

In stumme Wälder haucht,

Und Hyazinthenglocken

Ins Blau des Himmels taucht.

Es töne laut: Willkommen!

O Freud', um deinen Pfad.

Sei festlich aufgenommen,

Wo deine Gottheit naht!


Still, jedes Rauschgetümmel,

Wohin dein Wandel tritt!

Du bringst aus deinem Himmel

Den sanftern Himmel mit,

Voll Unschuld, wie die Jugend,

Die du in Tänzen übst.

Wir brauchen wenig Tugend,

Wenn du uns Unschuld giebst!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 366-367.
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