[343] Am folgenden Tag kam Fürst Andrei, da er vom Grafen Ilja Andrejewitsch eingeladen worden war, zu Rostows zum Mittagessen und verlebte bei ihnen den ganzen Rest des Tages.
Alle im Haus merkten, um wessen willen Fürst Andrei kam; auch machte er selbst kein Hehl daraus, sondern suchte die ganze Zeit über mit Natascha zusammenzusein. Nicht nur in der Seele der ängstlichen, aber glücklichen und entzückten Natascha, sondern im ganzen Haus machte sich eine Furcht vor etwas Wichtigem fühlbar, das sich vollziehen wollte. Die Gräfin blickte den Fürsten Andrei mit tiefernsten, traurigen Augen an, wenn er mit Natascha sprach, und begann mit schüchterner Verstellung irgendein gleichgültiges Gespräch, sobald er sich nach ihr hinwandte. Sonja fürchtete sich, von Natascha wegzugehen, und fürchtete sich andrerseits, zu stören, wenn sie bei ihnen bliebe. Natascha wurde ganz blaß vor banger Erwartung, wenn sie ein paar Minuten lang mit ihm unter vier Augen blieb. Sie war überrascht von der Schüchternheit des Fürsten Andrei. Sie fühlte, daß es ihn drängte, ihr etwas zu sagen, und daß er sich doch nicht dazu entschließen konnte.
Als am Abend Fürst Andrei weggefahren war, trat die Gräfin zu Natascha und fragte sie flüsternd: »Nun, wie ist's?«
»Mama, um Gottes willen, fragen Sie mich jetzt nichts; ich kann Ihnen nichts sagen«, antwortete Natascha.
Aber trotzdem lag an diesem Abend Natascha aufgeregt und[343] ängstlich, mit starren Augen, lange im Bett der Mutter. Sie erzählte ihr, daß er sie gelobt habe, und daß er gesagt habe, er wolle ins Ausland reisen, und daß er gefragt habe, wo sie diesen Sommer verleben würden, und daß er sie nach Boris gefragt habe.
»Aber so ... so ... so ist mir noch nie zumute gewesen!« rief sie. »Es ist mir so seltsam in seiner Gegenwart, immer ist mir in seiner Gegenwart so seltsam; was bedeutet das? Bedeutet das, daß dies das Richtige ist, ja? Mama, schlafen Sie?«
»Nein, liebes Kind, mir ist selbst so seltsam«, antwortete die Mutter. »Aber geh jetzt.«
»Schlafen kann ich ja doch nicht. Eine reine Unmöglichkeit. Mamachen, Mamachen, so ist mir noch nie zumute gewesen«, sagte sie erstaunt und erschrocken über das Gefühl, das sie in ihrer Seele wahrnahm. »Wie hätten wir so etwas denken können!«
Natascha hatte die Vorstellung, schon damals, als sie den Fürsten Andrei zum erstenmal in Otradnoje gesehen hatte, habe sie sich in ihn verliebt. Sie erschrak ordentlich über den seltsamen, unerwarteten Glückszufall, daß der Mann, den sie sich schon damals erwählt hatte (davon war sie fest überzeugt), daß dieser selbe Mann ihr jetzt wieder begegnet war und anscheinend eine Neigung zu ihr empfand.
»Da mußte er nun gerade jetzt, wo wir hier sind, nach Petersburg kommen. Und da mußte er mit uns auf diesem Ball zusammentreffen. Das ist alles eine Fügung des Schicksals. Es ist klar, daß das eine Fügung des Schicksals ist, und daß alles darauf abgezielt hat. Schon damals fühlte ich, sowie ich ihn nur gesehen hatte, in meinem Herzen etwas Besonderes.«
»Was hat er denn zu dir noch gesagt? Was waren denn das für Verse? Sage sie mir doch einmal her ...«, sagte die Mutter nachdenklich;[344] die Frage bezog sich auf die Verse, die Fürst Andrei in Nataschas Album geschrieben hatte.
»Mama, muß ich mich nicht schämen, daß er Witwer ist?«
»Rede keine Torheit, Natascha. Bete zu Gott. Die Ehen werden im Himmel geschlossen.«
»Liebes, süßes Mamachen, wie ich Sie liebe, und wie glücklich ich bin!« rief Natascha und umarmte ihre Mutter unter Tränen der Freude und der Aufregung.
Zu derselben Zeit saß Fürst Andrei bei Pierre und redete mit ihm über seine Liebe zu Natascha und über seine feste Absicht, sie zu heiraten.
An diesem Tag fand bei der Gräfin Jelena Wasiljewna eine Abendgesellschaft statt; der französische Gesandte war da, und der Prinz, der seit kurzem ein häufiger Gast in dem Haus der Gräfin geworden war, und viele der vornehmsten Damen und Herren. Pierre war unten, wanderte durch die Säle und fiel allen Gästen durch sein in sich gekehrtes, zerstreutes Wesen und seine finstere Miene auf.
Pierre spürte seit jenem Ball in seinem Innern wieder das Herannahen eines Anfalles von Hypochondrie und suchte mit verzweifelter Anstrengung dagegen anzukämpfen. Seit der Prinz sich Helenen genähert hatte, war Pierre unerwarteterweise zum Kammerherrn ernannt worden und konnte seitdem in größerer Gesellschaft ein bedrückendes Gefühl der Scham nicht loswerden, und es kamen ihm wieder recht oft die früheren traurigen Gedanken über die Nichtigkeit alles Menschlichen.
Gerade in dieser Zeit nahm er die wechselseitige Neigung zwischen seinem Protegé Natascha und dem Fürsten Andrei wahr, und diese Wahrnehmung diente durch den Gegensatz zwischen seiner eigenen Lage und der seines Freundes noch dazu, seine traurige Gemütsstimmung zu steigern. Er vermied es jedoch nach Kräften, an seine Frau und[345] an Natascha und an den Fürsten Andrei zu denken. Wieder erschien ihm alles nichtig im Vergleich mit der Ewigkeit, wieder drängte sich ihm die Frage auf: »Wozu?« Und tagelang und nächtelang zwang er sich dazu, sich mit freimaurerischen Arbeiten abzumühen, in der Hoffnung, so den herannahenden bösen Geist zu verscheuchen.
Pierre hatte sich um zwölf Uhr aus den Gemächern der Gräfin entfernt und saß nun bei sich oben in einem niedrigen, mit Tabaksrauch erfüllten Zimmer in einem abgetragenen Schlafrock am Tisch und war damit beschäftigt, schottische Originalurkunden abzuschreiben, als jemand zu ihm ins Zimmer trat. Es war Fürst Andrei.
»Ach, Sie sind es«, sagte Pierre mit zerstreuter, mißvergnügter Miene. »Ich bin gerade bei der Arbeit«, fügte er hinzu und zeigte auf sein Heft mit der Miene, mit welcher unglückliche Menschen ihre Arbeit ansehen, durch die sie sich aus dem Elend des Lebens zu retten suchen.
Fürst Andrei blieb mit strahlendem, entzücktem, von neuem Lebensmut zeugenden Gesicht vor Pierre stehen und lächelte ihm mit dem Egoismus des Glücklichen zu, ohne Pierres traurige Miene zu bemerken.
»Nun, Teuerster«, sagte er, »ich wollte schon gestern mit dir sprechen und bin heute ausdrücklich deshalb zu dir gekommen. Noch nie habe ich etwas Ähnliches empfunden. Ich bin verliebt, mein Freund.«
Pierre seufzte plötzlich tief und ließ sich mit seinem schweren Körper neben den Fürsten Andrei auf das Sofa sinken.
»In Natascha Rostowa, ja?« fragte er.
»Ja, ja, in wen denn sonst? Ich hätte so etwas nie geglaubt; aber dieses Gefühl ist stärker als ich. Gestern habe ich mich gemartert und habe Pein ausgestanden; aber auch diese Pein würde ich[346] für alles in der Welt nicht hingeben. Mein früheres Leben war kein wirkliches Leben. Erst jetzt lebe ich wahrhaft; aber ich kann nicht leben ohne sie ... Aber kann sie mich lieben? Ich fürchte, ich bin zu alt für sie ... Aber warum sprichst du nicht?«
»Ich? Ich? Was habe ich Ihnen gesagt?« rief Pierre, indem er aufstand und im Zimmer auf und ab zu gehen begann. »Ich habe immer gedacht, daß es so kommen werde ... Dieses Mädchen ist ein solcher Schatz, eine so ... Es ist ein ganz seltenes Wesen ... Lieber Freund, ich bitte Sie, reflektieren Sie nicht, zweifeln Sie nicht, sondern heiraten Sie, heiraten Sie, heiraten Sie ... Und ich bin überzeugt, daß es keinen glücklicheren Menschen geben wird als Sie.«
»Aber sie!«
»Sie liebt Sie.«
»Rede keinen Unsinn ...«, sagte Fürst Andrei und blickte Pierre lächelnd in die Augen.
»Sie liebt Sie; ich weiß es«, schrie Pierre ärgerlich.
»Nein, hör mal«, sagte Fürst Andrei, indem er ihn am Arm festhielt. »Kannst du nachfühlen, in welcher Lage ich mich befinde? Ich muß das alles irgend jemandem gegenüber aussprechen.«
»Nun also, also, dann sprechen Sie; ich freue mich sehr«, erwiderte Pierre, und wirklich änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes, die Falte auf der Stirn verschwand, und er hörte dem Fürsten Andrei mit heiterer Miene zu. Fürst Andrei schien ein ganz neuer Mensch geworden zu sein und war es auch wirklich. Wo waren seine Melancholie, seine Geringschätzung des Lebens, seine Entmutigung geblieben? Pierre war der einzige Mensch, vor dem er sich aussprechen konnte; aber dafür sagte er diesem nun auch alles, was er nur auf dem Herzen hatte. Bald machte er leichten, kecken Sinnes Pläne für eine lange, lange Zukunft und sprach davon, daß er sein Glück nicht einer Laune seines[347] Vaters zum Opfer bringen könne, daß er entweder seinen Vater zwingen werde, seine Zustimmung zu dieser Ehe zu geben und Natascha zu lieben, oder sich ohne seine Zustimmung behelfen werde; bald wieder erging er sich in Ausdrücken der Verwunderung über dieses Gefühl, das sich seiner bemächtigt hatte, wie über etwas ganz Seltsames, Fremdes.
»Ich hätte es nicht geglaubt, wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich so lieben könnte«, sagte Fürst An drei. »Es ist eine ganz andere Empfindung als die, welche ich früher in mir fühlte. Die ganze Welt ist jetzt für mich in zwei Hälften geteilt: die eine Hälfte ist sie, und dort ist alles eitel Glück und Hoffnung und Licht; die andre Hälfte, das ist alles, wo sie nicht ist, und da ist alles Mutlosigkeit und Finsternis.«
»Ja, Mutlosigkeit und Finsternis«, wiederholte Pierre. »Ja, ja, das verstehe ich.«
»Ich kann nicht anders, ich muß das Licht lieben; das hängt nicht von meinem Willen ab. Und ich bin sehr glücklich. Verstehst du meinen Zustand? Ich weiß, daß du dich mit mir freust.«
»Ja, das tue ich«, versicherte Pierre und blickte seinen Freund gerührt und traurig an. In je hellerem Licht sich ihm das Schicksal des Fürsten Andrei zeigte, um so dunkler erschien ihm sein eigenes.
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