XVI

[99] Sobald die Gräfin die Nachricht von Nataschas Erkrankung erhalten hatte, kam sie, obwohl sie noch nicht recht gesund und noch sehr schwach war, dennoch mit Petja und allem, was an Hausrat und Dienerschaft erforderlich war, nach Moskau, und die ganze Familie Rostow siedelte von Marja Dmitrijewna in das eigene Haus über und richtete sich zu dauerndem Aufenthalt in Moskau ein.[99]

Nataschas Krankheit war von so ernstem Charakter, daß, zu Nataschas und ihrer Angehörigen Glück, der Gedanke an alles das, was die Ursache ihrer Krankheit war (ihr Verhalten und ihre Absage an ihren Verlobten), dagegen in den Hintergrund treten mußte. Sie war so krank, daß man nicht daran denken konnte, inwieweit sie an allem Geschehenen schuld trug; denn sie aß nicht, schlief nicht, magerte sichtlich ab, hustete und befand sich, wie die Ärzte zu verstehen gaben, in Lebensgefahr. Alle Gedanken mußten einzig und allein darauf gerichtet sein, wie man ihr helfen könne. Die Ärzte besuchten sie bald einzeln, bald, um ein Konsilium zu halten, mehrere zugleich, redeten viel Französisch, Deutsch und Lateinisch, beurteilten ein jeder die Methode des andern sehr abfällig und verschrieben die mannigfachsten Arzneien gegen alle möglichen ihnen bekannten Krankheiten; aber keinem von ihnen kam der einfache Gedanke in den Sinn, daß ihnen die Krankheit, an der Natascha litt, überhaupt nicht bekannt sein konnte, wie denn keine Krankheit, von der ein lebendiger Mensch befallen wird, bekannt sein kann; denn jeder lebendige Mensch hat seine besonderen Eigentümlichkeiten und hat immer eine besondere, ihm speziell eigene, neue, komplizierte, der medizinischen Wissenschaft unbekannte Krankheit, nicht eine Krankheit der Lunge, der Leber, der Haut, des Herzens, der Nerven usw., wie sie in den medizinischen Lehrbüchern beschrieben sind, sondern eine Krankheit, welche in einer der zahllosen Kombinationen von Leiden dieser Organe besteht. Dieser einfache Gedanke konnte aber den Ärzten nicht in den Sinn kommen (ebensowenig wie einem Zauberer der Gedanke in den Sinn kommen kann, daß er nicht imstande ist zu zaubern), weil ihre Lebenstätigkeit darin bestand, Krankheiten zu kurieren, und weil sie dafür Geld erhielten, und weil sie auf diese Tätigkeit die besten Jahre ihres Lebens verwendet hatten. Und (was die[100] Hauptsache war) dieser Gedanke konnte den Ärzten darum nicht kommen, weil sie sahen, daß sie zweifellos von Nutzen waren: sie waren tatsächlich für alle Mitglieder der Familie Rostow von Nutzen. Sie waren von Nutzen, nicht deshalb, weil sie die Kranke zwangen, allerlei größten teils schädliche Substanzen hinunterzuschlucken (diese Schädlichkeit war allerdings nur wenig zu spüren, da die schädlichen Substanzen nur in geringer Quantität gereicht wurden), sondern sie waren nützlich, notwendig und unentbehrlich (und dies ist der Grund, weshalb es zu allen Zeiten vermeintliche Heilkundige gegeben hat und geben wird: Zauberer, Homöopathen und Allopathen), weil sie einem seelischen Bedürfnis der kranken Natascha und der Menschen, die sie liebhatten, entgegenkamen. Sie kamen jenem ewigen menschlichen Bedürfnis nach Hoffnung auf Besserung entgegen, dem Bedürfnis nach Mitgefühl und freundlicher Tätigkeit anderer, das der Mensch während des Leidens empfindet. Sie kamen jenem ewigen, menschlichen, beim Kind in der primitivsten Form zu beobachtenden Bedürfnis entgegen, die Stelle streicheln zu lassen, die einen Puff bekommen hat. Wenn das Kind sich stößt oder fällt, so läuft es sofort in die Arme der Mutter oder der Wärterin, damit diese ihm die schmerzende Stelle küssen und streicheln; und wenn das geschieht, so fühlt es davon eine Erleichterung. Dem Kind ist es unglaublich, daß Menschen, die stärker und klüger sind, als es selbst ist, kein Mittel haben sollten, ihm von seinem Schmerz zu helfen. Und die Hoffnung auf Erleichterung und der Ausdruck des Mitgefühls, während die Mutter ihm seine Beule streichelt, trösten das Kind. So waren auch die Ärzte für Natascha dadurch von Nutzen, daß sie gleichsam ihr »Au-au« küßten und streichelten und versicherten, der Schmerz würde sogleich vergehen, wenn der Kutscher nach der Apotheke am Arbatskaja-Platz fahre und für einen Rubel und[101] siebzig Kopeken Pülverchen und Pillen in hübschen Schächtelchen hole, und wenn die Kranke diese Pülverchen genau alle zwei Stunden, nicht früher und nicht später, in abgekochtem Wasser einnehme.

Und was hätten wohl Sonja und der Graf und die Gräfin angefangen, und wie elend würden sie ausgesehen haben, wenn sie nichts für die Kranke zu tun gehabt hätten, wenn nicht diese nach der Uhr einzugebenden Pillen und das laue Getränk und die Hühnerschnitzel gewesen wären und all die übrigen vom Arzt vorgeschriebenen Einzelheiten der Lebensweise, deren Beobachtung allen Familienmitgliedern Beschäftigung und Trost gewährte? Wie hätte der Graf die Krankheit seiner Lieblingstochter ertragen können, wenn er sich nicht gesagt hätte, daß ihn diese Krankheit schon Tausende von Rubeln gekostet habe, und daß er sich noch weitere Tausende nicht würde leid sein lassen, um seiner Natascha dadurch zu helfen, und wenn er sich nicht bewußt gewesen wäre, daß er bei ausbleibender Besserung immer noch mehr Geld daranwenden und sie ins Ausland bringen und dort die berühmtesten Ärzte zu gemeinsamer Beratung zusammenrufen würde, und wenn er nicht die Möglichkeit gehabt hätte, ausführlich zu erzählen, wie Métivier und Feller die Krankheit nicht erkannt hätten, wohl aber Fries, und wie Mudrow sie noch besser definiert habe? Was hätte die Gräfin angefangen, wenn sie nicht hätte die kranke Natascha manchmal ausschelten können, weil diese die Anordnungen des Arztes nicht genau befolgte?

»Auf die Art wirst du nie gesund werden«, sagte sie und vergaß über dem Ärger ihren Kummer, »wenn du dem Arzt nicht gehorchst und nicht pünktlich die Arznei einnimmst! Damit ist nicht zu spaßen; denn es kann sich bei dir eine Pneumonie herausbilden«, sagte die Gräfin, und schon im Aussprechen dieses ihr[102] (und nicht ihr allein) unverständlichen Wortes fand sie einen großen Trost.

Was hätte Sonja angefangen, wenn sie nicht das freudige Bewußtsein gehabt hätte, daß sie in der ersten Zeit drei Nächte hindurch nicht aus den Kleidern gekommen war, um stets bereit zu sein und alle Anordnungen des Arztes genau erfüllen zu können, und daß sie auch jetzt in der Nacht nicht schlief, um nicht die Zeit zu verpassen, zu welcher die nicht allzu schädlichen Pillen aus dem vergoldeten Schächtelchen eingegeben werden mußten? Ja sogar Natascha selbst sagte zwar, ihr könne keine Arznei helfen und das seien lauter Torheiten; aber auch ihr machte es Freude, daß sie immer zu bestimmter Zeit ihre Arznei einnehmen mußte, und es machte ihr Freude, zu sehen, daß die anderen um ihretwillen solche Opfer brachten. Und auch das machte ihr Freude, daß sie mitunter durch Vernachlässigung der ärztlichen Vorschriften zeigen konnte, sie glaube an keine Heilung und lege auf ihr Leben keinen Wert.

Der Arzt kam jeden Tag, fühlte den Puls, besah die Zunge und sagte ein paar Scherzworte, ohne sich um Nataschas bedrückte Miene zu kümmern. Dann ging er in das Nebenzimmer, wohin ihm die Gräfin eilig folgte, und nun nahm er eine ernste Miene an, wiegte gedankenvoll den Kopf hin und her und sagte, es sei allerdings Gefahr vorhanden, aber er hoffe auf die Wirkung dieser letzten Arznei; man müsse abwarten und beobachten; die Krankheit sei mehr seelischer Natur, aber ...

Nun schob ihm die Gräfin, die sich bemühte, diese Handlung vor sich selbst und vor dem Arzt zu verbergen, ein Goldstück in die Hand und kehrte dann jedesmal mit beruhigtem Herzen zu der Kranken zurück.

Die Symptome der Krankheit Nataschas bestanden darin, daß sie wenig aß, wenig schlief, viel hustete und stets in trüber[103] Stimmung war. Die Ärzte erklärten, die Kranke dürfe nicht ohne ärztlichen Beistand bleiben, und hielten sie darum in der stickigen Luft der großen Stadt zurück. So fuhren denn Rostows im Sommer 1812 nicht aufs Land.

Trotz der großen Menge der von ihr verschluckten Pillen, Tropfen und Pülverchen aus Büchschen, Fläschchen und Schächtelchen (Madame Schoß, die eine Liebhaberin von solchen Dingen war, hatte sich eine ganze Sammlung davon angelegt), und trotzdem sie das gewohnte Landleben entbehren mußte, behauptete doch ihre jugendliche Natur den Sieg: über Nataschas Kummer breiteten die Empfindungen, die ihr das seitdem verflossene Stück Leben gebracht hatte, eine Art von schützender Deckschicht; er lastete nun nicht mehr mit so quälendem Druck auf ihrem Herzen, wich allmählich in die Vergangenheit zurück, und Natascha begann sich auch körperlich zu erholen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 99-104.
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