[15] Wir, die wir nicht damals gelebt haben, als halb Rußland erobert war und die Bewohner Moskaus nach fernen Gouvernements flüchteten und ein Landwehraufgebot nach dem andern sich zur Verteidigung des Vaterlandes erhob, wir stellen uns unwillkürlich vor, alle Russen, jung und alt, wären zu jener Zeit mit nichts anderem beschäftigt gewesen als damit, sich aufzuopfern, das Vaterland zu retten oder über sein Unglück zu weinen. Die Erzählungen und Schilderungen aus jener Zeit reden alle ohne Ausnahme nur von der Opferwilligkeit, der Vaterlandsliebe, der Verzweiflung, dem Gram und der Heldenhaftigkeit der Russen. In Wirklichkeit aber verhielt sich das anders. Jene Vorstellung haben wir nur deswegen, weil wir von der Vergangenheit nur die allgemeinen welthistorischen Bestrebungen jener Zeit sehen und nicht alle die persönlichen, menschlichen Interessen, welche die Leute hatten. Und doch wird in Wirklichkeit das allgemeine Streben durch die persönlichen Interessen der Gegenwart in solchem Maß an Bedeutung übertroffen, daß es sich durch diese hindurch niemals fühlbar macht und überhaupt nicht zu bemerken ist. Der größte Teil der damals lebenden Menschen wandte dem allgemeinen Gang der Dinge gar keine Aufmerksamkeit zu, sondern ließ sich nur durch die persönlichen Interessen der Gegenwart leiten. Und die Tätigkeit gerade dieser Menschen war in jener Zeit das nützlichste.
Diejenigen dagegen, die den allgemeinen Gang der Dinge zu verstehen suchten und mit Selbstaufopferung und Heldenhaftigkeit[15] dabei mitwirken wollten, waren die nutzlosesten Mitglieder der Gesellschaft; sie sahen alles verkehrt, und alles, was sie taten, um zu nützen, stellte sich als nutzloser Unsinn heraus, wie Pierres und Mamonows Regimenter, die die russischen Dörfer ausplünderten, und die Scharpie, welche die Damen zupften und die nie bis zu den Verwundeten gelangte, usw. Sogar wo Leute in dem Wunsch, ihr Licht leuchten zu lassen und ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, über die derzeitige Lage Rußlands redeten, trugen ihre Reden entweder den Charakter der Heuchelei und Lüge oder den Charakter nutzloser Krittelei und Bosheit gegen andere, denen sie Dinge zur Last legten, an denen niemand schuld sein konnte. Bei historischen Ereignissen zeigt sich klarer als sonstwo, wie richtig das Verbot ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Nur die unbewußte Tätigkeit bringt Früchte, und diejenigen Menschen, die bei einem historischen Ereignis eine Rolle spielen, verstehen niemals dessen Bedeutung. Wenn sie sie zu begreifen versuchen, wird ihre Tätigkeit unfruchtbar.
Die Bedeutung des Ereignisses, das sich damals in Rußland vollzog, kam den Leuten um so weniger zum Bewußtsein, je näher sie daran beteiligt waren. In Petersburg und in den von Moskau weit entfernt liegenden Gouvernements beweinten Männer in Landwehruniform und vornehme Damen Rußland und die Hauptstadt und sprachen von Selbstaufopferung usw.; aber in der Armee, die sich hinter Moskau zurückzog, redete und dachte man fast gar nicht an Moskau, und niemand schwur beim Anblick des Brandes von Moskau den Franzosen Rache; sondern man dachte an die demnächst fällige Rate der Löhnung, an das nächste Quartier, an die Marketenderin Matroschka und ähnliche Dinge.
Ohne daß er die Absicht gehabt hätte sich aufzuopfern, sondern rein zufällig, weil der Krieg gerade ausgebrochen war, während[16] er im Dienst stand, beteiligte sich Nikolai Rostow aus größter Nähe und andauernd an der Verteidigung des Vaterlandes und blickte daher ohne Verzweiflung und ohne finstere Grübeleien auf das hin, was damals in Rußland vorging. Wenn man ihn gefragt hätte, wie er über die derzeitige Lage Rußlands denke, so würde er geantwortet haben, daran zu denken sei nicht seine Sache; dazu seien Kutusow und andere Leute da; er für seine Person habe nur gehört, daß die Regimenter komplettiert werden würden, und daß die Kämpfe wohl noch recht lange dauern würden, und daß es unter den jetzigen Verhältnissen kein Wunder sein werde, wenn er in ein paar Jahren ein Regiment bekäme.
Bei dieser seiner Auffassung der Dinge nahm er die Nachricht, daß er nach Woronesch abkommandiert werden sollte, um Remonten für die Division zu holen, nicht nur ohne Bekümmernis darüber auf, daß er der Beteiligung an dem nächsten Kampf verlustig gehe, sondern sogar mit dem größten Vergnügen, das er nicht verhehlte und für welches seine Kameraden das vollste Verständnis besaßen.
Einige Tage vor der Schlacht bei Borodino erhielt Nikolai die nötigen Gelder und Papiere und fuhr, nachdem er seine Husaren vorausgeschickt hatte, mit der Post nach Woronesch.
Nur wer so etwas persönlich durchgemacht hat, d.h. mehrere Monate ohne Unterbrechung in der Atmosphäre des militärischen, kriegerischen Lebens verbracht hat, nur der kann das Wonnegefühl begreifen, das Nikolai durchströmte, als er allmählich aus dem Umkreis hinausgelangte, bis zu welchem die Truppen mit ihren Furagerequisitionen, ihren Proviantfuhren und ihren Lazaretten reichten. Als er in Gegenden kam, wo es keine Soldaten, keine Trainwagen, keine schmutzigen Spuren von Feldlagern gab, und die Dörfer mit den Bauern und[17] Bauernfrauen sah und die Gutshäuser und die Felder mit weidendem Vieh und die Stationshäuser mit den verschlafenen Posthaltern, da empfand er eine solche Freude, wie wenn er dies alles zum erstenmal sähe. Worüber er sich aber besonders lange wunderte und freute, das waren die Frauen, junge, gesunde Frauen, die nicht eine jede ein Dutzend courschneidender Offiziere um sich hatten, sondern sich freuten und sich geschmeichelt fühlten, wenn der durchreisende Offizier mit ihnen scherzte.
In heiterster Gemütsstimmung langte Nikolai bei Nacht in einem Gasthof in Woronesch an und bestellte sich allerlei, was er bei der Armee lange hatte entbehren müssen. Am andern Tag rasierte er sich hübsch sauber, zog die Paradeuniform an, die er seit geraumer Zeit nicht getragen hatte, und fuhr zu den Behörden, um sich zu melden.
Der Landwehrkommandeur war ein Zivilbeamter mit Generalsrang, ein alter Herr, der offenbar an seiner jetzigen militärischen Stellung und Tätigkeit sein Vergnügen hatte. Er empfing Nikolai ärgerlich, da er der Ansicht war, hierin bestehe das militärische Wesen, und richtete mit großer Wichtigtuerei eine Menge Fragen an ihn, als ob er ein Recht dazu besäße und als stände es ihm zu, billigend und tadelnd den gesamten Gang der Kriegführung zu kritisieren. Aber Nikolai war so heiter und vergnügt, daß er sich darüber nur amüsierte.
Vom Landwehrkommandeur fuhr er zum Gouverneur. Der Gouverneur war ein kleiner, lebhafter Mann, sehr freundlich und von schlichtem, einfachem Wesen. Er bezeichnete Nikolai die Gestüte, in denen er Pferde bekommen konnte, empfahl ihm einen Pferdehändler in der Stadt sowie einen Gutsbesitzer zwanzig Werst von der Stadt entfernt, bei denen gute Pferde zu finden seien, und erklärte sich zu jeder Hilfe bereit.
»Sind Sie ein Sohn des Grafen Ilja Andrejewitsch? Meine[18] Frau war mit Ihrer Frau Mutter sehr befreundet. Donnerstags pflegen wir Gäste bei uns zu sehen; heute ist gerade Donnerstag; bitte, besuchen Sie uns doch ganz ohne Umstände«, sagte der Gouverneur, als Nikolai sich empfahl.
Sofort nachdem er vom Gouverneur zurück war, nahm Nikolai sich einen Postwagen, setzte sich mit seinem Wachtmeister hinein und fuhr zwanzig Werst weit nach dem Gestüt zu dem Gutsbesitzer. In dieser ersten Zeit seines Aufenthaltes in Woronesch erschien ihm alles leicht ausführbar und vergnüglich, und es ging auch, wie das so zu sein pflegt, wenn man selbst guter Laune ist, alles gut und glücklich vonstatten.
Der Gutsbesitzer, zu welchem Nikolai fuhr, war ein alter Junggeselle, früherer Kavallerist, Pferdekenner, Jäger, Besitzer wundervoller Pferde, einer Teppichfabrik und eines hübschen Vorrates von hundertjährigem Gewürzbranntwein und altem Ungarwein.
Nach ganz kurzer Verhandlung kaufte Nikolai für sechstausend Rubel siebzehn auserlesene Hengste, als Renommierstücke seiner Remonte, wie er sich ausdrückte. Nachdem er dort zu Mittag gespeist und ein bißchen viel von dem Ungarwein getrunken hatte, küßte er sich herzlich mit dem Gutsbesitzer, mit dem er schon auf du und du stand, und fuhr auf dem schauderhaften Weg in vergnügtester Stimmung zurück, wobei er den Postknecht fortwährend zu schnellem Fahren antrieb, um zu der Abendgesellschaft beim Gouverneur noch zur rechten Zeit zu kommen.
Nachdem er sich kaltes Wasser über den Kopf gegossen, sich umgekleidet und sich parfümiert hatte, erschien er beim Gouverneur zwar etwas spät, aber mit der üblichen Redensart: »Besser spät als gar nicht.«
Es war kein Ball, und es war auch nicht vorher angekündigt,[19] daß getanzt werden würde; aber alle wußten, daß Katerina Petrowna auf dem Klavier Ekossaisen und Walzer spielen und man danach tanzen werde, und alle waren, da sie darauf gerechnet hatten, in Balltoilette erschienen.
Das Leben in dieser Provinzstadt war im Jahre 1812 genau das gleiche wie sonst immer, nur mit dem Unterschied, daß es infolge der Anwesenheit vieler reicher Familien aus Moskau reger und munterer war und daß, wie in allem, was damals in Rußland vor ging, sich auch hierin eine eigene Art von flottem Schwung bemerkbar machte, eine Neigung, alles auf die leichte Schulter zu nehmen, und dann noch mit dem Unterschied, daß die alltäglichen Gespräche, die zu führen den Menschen ein Bedürfnis ist und die sich früher um das Wetter und um gemeinsame Bekannte gedreht hatten, jetzt von Moskau, dem Heer und Napoleon handelten.
Die Gesellschaft, die sich bei dem Gouverneur zusammengefunden hatte, war die feinste von Woronesch.
Es waren viele Damen da, auch einige, die Nikolai von Moskau her kannte; an Männern war aber niemand anwesend, der mit dem Ritter des Georgskreuzes, mit dem Remonte-Husarenoffizier und zugleich mit jenem gutherzigen, wohlerzogenen Grafen Rostow irgendwie hätte konkurrieren können. Unter den Männern befand sich ein gefangener italienischer Offizier der französischen Armee; und Nikolai hatte die Empfindung, daß die Anwesenheit dieses Gefangenen seine eigene Bedeutung als russischer Held noch mehr erhöhte. Dieser Italiener war gewissermaßen eine Siegestrophäe. Und Nikolai hatte nicht nur selbst diese Empfindung, sondern es schien ihm auch, daß alle andern den Italiener mit gleichen Gedanken ansahen. Nikolai benahm sich gegen diesen Offizier freundlich, jedoch mit Würde und Zurückhaltung.[20]
Sobald Nikolai in seiner Husarenuniform eingetreten war, einen Geruch nach Parfüm und Wein verbreitet und die Redensart »Besser spät als gar nicht« mehrmals selbst gebraucht und mehrmals von andern gehört hatte, umringte man ihn von allen Seiten, alle Blicke richteten sich auf ihn, und er hatte gleich von vornherein das Gefühl, daß er die Stellung des allgemeinen Lieblings einnahm, eine Stellung, die ihm ja in einer Provinzstadt gebührte und die ihm stets erwünscht war, jetzt aber nach der langen Entbehrung geradezu einen berauschenden Genuß gewährte. Nicht nur auf den Stationen, in den Herbergen und in der Teppichfabrik des Gutsbesitzers hatte es weibliche Wesen in dienender Stellung gegeben, die sich durch seine Aufmerksamkeiten geschmeichelt fühlten, sondern auch hier auf der Abendgesellschaft des Gouverneurs war, wie es Nikolai vorkam, eine große, große Menge jugendlicher Frauen und hübscher Mädchen anwesend, die mit Ungeduld nur darauf warteten, daß Nikolai ihnen seine Beachtung zuwende. Die Frauen und Mädchen kokettierten mit ihm, und die alten Herrschaften beschäftigten sich gleich von diesem ersten Tag an mit Überlegungen, wie sie diesen flotten Schlingel von Husar mit einer Frau versorgen und zu einem gesetzten Mann machen könnten. Zu diesen letzteren gehörte die Frau des Gouverneurs selbst, welche den jungen Rostow wie einen nahen Verwandten empfing und ihn mit »Nikolai« und »du« anredete.
Katerina Petrowna begann wirklich Ekossaisen und Walzer zu spielen, und man fing an zu tanzen. Hierbei versetzte Nikolai die gesamte Gesellschaft dieser Provinzler durch seine Gewandtheit in noch größeres Entzücken. Er erregte sogar das Erstaunen aller durch seine eigenartig lässige Manier zu tanzen. Nikolai war selbst einigermaßen verwundert über die Art, in der er an diesem Abend tanzte. In Moskau hatte er nie so getanzt und würde eine[21] so übermäßig lässige Manier zu tanzen sogar für unpassend und unfein gehalten haben; hier aber fühlte er das Bedürfnis, alle Anwesenden durch etwas Ungewöhnliches in Erstaunen zu versetzen, was sie für den üblichen Brauch der Residenzen halten sollten, der ihnen in der Provinz noch unbekannt geblieben sei.
Den ganzen Abend über wandte Nikolai seine Aufmerksamkeit am meisten einer blauäugigen, üppigen, anmutigen Blondine zu, der Frau eines Beamten der Gouvernementsverwaltung. Mit jener naiven Überzeugung lebenslustiger junger Männer, daß fremde Frauen für sie geschaffen seien, wich Rostow nicht von der Seite dieser Dame und benahm sich, wie infolge einer Art von Verschwörung mit ihr, freundschaftlich gegen ihren Mann, als wüßten sie, ohne miteinander darüber gesprochen zu haben, ganz genau, wie vorzüglich sie zueinander paßten, d.h. er, Nikolai, und die Frau dieses Mannes. Der Mann dagegen schien diese Überzeugung nicht zu teilen und suchte gegen Rostow einen verdrossenen Ton anzuschlagen. Aber Nikolais gutherzige Naivität war so grenzenlos, daß der Mann manchmal unwillkürlich in Nikolais Heiterkeit einstimmte. Gegen das Ende der Gesellschaft jedoch wurde, je mehr sich das Gesicht der Frau rötete und belebte, das Gesicht ihres Mannes um so trüber und ernster; es sah aus, als hätten sie beide zusammen nur ein bestimmtes Quantum von Lebhaftigkeit und als nähme diese in demselben Maße bei dem Mann ab, in welchem sie bei der Frau wüchse.
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