XV

[84] Als Natascha mit einem geschickten, ihr bereits geläufig gewordenen Griff die Tür zum Zimmer des Fürsten Andrei öffnete und die Prinzessin vor sich eintreten ließ, da fühlte Prinzessin Marja schon, wie ihr das Schluchzen in die Kehle steigen wollte. Soviel sie sich auch vorbereitet und sich zu beruhigen versucht hatte, so war sie doch überzeugt, daß sie nicht imstande sein werde, bei dem Wiedersehen mit ihm die Tränen zurückzuhalten.

Prinzessin Marja glaubte verstanden zu haben, was Natascha mit den Worten: »Vor zwei Tagen trat auf einmal das ein«, hatte sagen wollen. Sie meinte, daß dies bedeuten sollte, er sei auf einmal weich geworden, und diese Weichheit und Rührung sei ein Anzeichen des nahen Todes. Als sie sich der Tür näherte, hatte sie schon im Geist Andreis Gesicht vor sich zu sehen geglaubt, so wie sie es in der Kindheit gekannt hatte, zärtlich, sanft, voll Rührung, wie sie es aber in späterer Zeit nur selten an ihm gesehen hatte, wo es dann eben deshalb immer besonders stark auf sie gewirkt hatte. Sie war überzeugt gewesen, daß er leise, zärtliche Worte zu ihr sprechen werde, so wie es der Vater vor seinem Tod getan hatte, und daß sie das nicht werde ertragen[84] können, sondern an seinem Lager in Schluchzen ausbrechen werde. Aber ob früher oder später, es mußte sein, und sie trat ins Zimmer. Das Schluchzen rückte ihr immer näher an die Kehle, während sie mit ihren kurzsichtigen Augen immer deutlicher seine Gestalt unterschied und seine Züge zu erkennen suchte; und da sah sie auf einmal sein Gesicht, und ihre Blicke trafen einander.

Er lag auf einem Sofa, von Kissen umgeben, in einem mit Eichhornpelz gefütterten Schlafrock. Er war mager und blaß. In der einen seiner mageren, durchsichtig weißen Hände hielt er ein Taschentuch, mit der anderen berührte er, leise die Finger bewegend, den schmalen Schnurrbart, der ihm jetzt ohne Pflege lang gewachsen war. Seine Augen blickten nach den Eintretenden hin.

Als Prinzessin Marja sein Gesicht sah und ihre Blicke einander begegneten, mäßigte sie die Schnelligkeit ihres Ganges und fühlte, daß ihre Tränen auf einmal versiegten und ihr Schluchzen abbrach. Nachdem sie den Ausdruck seines Gesichtes und Blickes erfaßt hatte, wurde sie auf einmal befangen und fühlte sich schuldig.

»Aber inwiefern habe ich mich denn schuldig gemacht?« fragte sie sich.

»Deine Schuld besteht darin, daß du lebst und an einen Lebenden denkst, während ich ...«, antwortete sein kalter, strenger Blick. In diesem tiefen Blick, mit welchem Fürst Andrei nicht aus sich heraus, sondern in sich hinein sah, lag beinahe etwas Feindseliges, als Fürst Andrei ihn langsam auf seine Schwester und auf Natascha richtete.

Die Geschwister küßten sich, indem sie einander zugleich die Hand drückten, wie sie das zu tun pflegten.[85]

»Guten Abend, Marja, wie kommst du denn hierher?« sagte er mit einer Stimme, die so gleichmütig und fremdartig war wie sein Blick.

Hätte er voller Verzweiflung geschrien und gewinselt, so wäre Prinzessin Marja darüber weniger erschrocken gewesen als über den Klang dieser Stimme.

»Und auch Nikolenka hast du mitgebracht?« fuhr er ebenso gleichmütig und langsam fort; es kostete ihn augenscheinlich eine Anstrengung, sich zu erinnern.

»Wie steht es denn jetzt mit deinem Befinden?« fragte Prinzessin Marja; sie war selbst erstaunt darüber, daß sie redete.

»Danach mußt du den Arzt fragen, meine Liebe«, erwiderte er. Dann machte er offenbar wieder eine neue Anstrengung, um freundlich zu sein, und sagte auf französisch, nur mit dem Mund (es war klar, daß er das, was er sagte, überhaupt nicht dachte):

»Ich danke dir, meine Liebe, daß du hergekommen bist.«

Prinzessin Marja drückte ihm die Hand. Er runzelte bei ihrem Händedruck leise die Stirn. Er schwieg, und sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie verstand nun, was mit ihm vor zwei Tagen geschehen war. In seinen Worten, in seinem Ton und namentlich in diesem Blick, diesem kalten, beinahe feindseligen Blick, machte sich eine bei einem noch lebenden Menschen entsetzliche Abkehr von allem Irdischen fühlbar. Alles, was mit dem Leben zusammenhing, verstand er offenbar nur mit Mühe; aber dabei merkte man, daß ihm das Verständnis hierfür nicht deshalb mangelte, weil er der Fähigkeit zu verstehen beraubt gewesen wäre, sondern weil er etwas anderes verstand, etwas, was die Lebenden nicht verstanden und nicht verstehen konnten, und was ihn jetzt vollständig in Anspruch nahm.

»Ja, sieh, wie seltsam uns das Schicksal wieder zusammengeführt[86] hat!« sagte er, das Stillschweigen unterbrechend, und wies dabei auf Natascha. »Sie pflegt mich immer.«

Prinzessin Marja hörte ihn, hatte aber kein Verständnis für das, was er sagte. Er, der zartfühlende, rücksichtsvolle Fürst Andrei, wie konnte er das in Gegenwart des Mädchens, das er liebte und das ihn liebte, sagen! Wenn er dächte, daß er am Leben bleiben werde, so hätte er das nicht in einem solchen kalten, kränkenden Ton gesagt. Wenn er nicht den Tod mit Sicherheit vor Augen sähe, so hätte er doch Mitleid mit ihr haben müssen und hätte das nicht in ihrer Gegenwart gesagt. Für sein Verhalten gab es nur eine Erklärung: daß ihm alles dies gleichgültig war, gleichgültig deswegen, weil sich ihm etwas anderes, Höheres erschlossen hatte.

Das Gespräch war kühl und unzusammenhängend und kam alle Augenblicke ins Stocken.

»Marja ist über Rjasan gefahren«, sagte Natascha.

Fürst Andrei beachtete es nicht, daß sie seine Schwester mit dem Vornamen nannte. Natascha aber, die es in seiner Gegenwart zum erstenmal getan hatte, wurde sich dessen bewußt.

»Nun, was ist dabei?« sagte er.

»Es war ihr erzählt worden, daß ganz Moskau niedergebrannt sei, vollständig eingeäschert, und daß ...«

Natascha hielt inne: sie durfte nicht weiterreden; er machte offenbar alle Anstrengungen, um zuzuhören, brachte es aber nicht zustande.

»Ja, es ist niedergebrannt, wie man sagt«, erwiderte er. »Das ist sehr traurig.« Er blickte vor sich hin und strich gedankenlos mit den Fingern seinen Schnurrbart zurecht.

»Und du, Marja, bist mit dem Grafen Nikolai zusammengetroffen?« sagte er auf einmal, sichtlich mit dem Wunsch, den beiden etwas Angenehmes zu sagen. »Er hat hierher geschrieben,[87] er habe dich sehr liebgewonnen«, fuhr er in ruhigem, harmlosem Ton fort, offenbar unfähig, die Bedeutung, welche seine Worte für Lebende hatten, in ihrem ganzen Umfang zu ermessen. »Wenn du ihn ebenfalls liebgewännest, so wäre es sehr gut; dann solltet ihr euch heiraten«, fügte er etwas schneller hinzu, als wenn er nach diesen Worten lange gesucht hätte und sich nun freute, sie endlich gefunden zu haben.

Prinzessin Marja hörte seine Worte; aber sie hatten für sie keine andere Bedeutung, als daß sie ihr bewiesen, wie furchtbar fern er jetzt allem stand, was mit dem Leben zusammenhing.

»Wozu sollen wir von mir sprechen!« erwiderte sie ruhig und blickte zu Natascha hin.

Natascha fühlte ihren Blick auf sich gerichtet, sah sie aber nicht an. Wieder schwiegen sie alle.

»Andrei, willst ...«, sagte Prinzessin Marja auf einmal mit bebender Stimme, »willst du Nikolenka sehen? Er hat die ganze Zeit her von dir gesprochen.«

Fürst Andrei lächelte zum erstenmal ganz leise; aber Prinzessin Marja, die sein Gesicht so gut kannte, merkte zu ihrem Schrecken, daß dies nicht ein Lächeln der Freude, der Zärtlichkeit für seinen Sohn war, sondern ein Lächeln stillen, milden Spottes darüber, daß Prinzessin Marja das ihrer Meinung nach letzte Mittel anwandte, um ihn aus seiner Teilnahmslosigkeit aufzurütteln.

»Ja, ich werde mich sehr freuen, ihn zu sehen. Ist er gesund?«


Nikolenka sah, als man ihn zu seinem Vater brachte, diesen erschrocken an, weinte aber nicht, weil keiner der andern weinte. Fürst Andrei küßte ihn und wußte augenscheinlich nicht, was er mit ihm reden sollte.

Als Nikolenka wieder hinausgeführt war, trat Prinzessin Marja[88] noch einmal zu ihrem Bruder heran, küßte ihn und brach, da sie sich nicht mehr beherrschen konnte, in Tränen aus.

Er blickte sie starr an.

»Weinst du um Nikolenka?« fragte er.

Unter Tränen nickte Prinzessin Marja bestätigend mit dem Kopf.

»Marja, du kennst doch das Evang ...« Aber er brach plötzlich ab.

»Was sagst du?«

»Nichts, nichts. Zum Weinen ist hier kein Anlaß«, sagte er, indem er sie mit demselben kalten Blick ansah.


Als Prinzessin Marja in Tränen ausgebrochen war, hatte er recht wohl verstanden, daß ihre Tränen dem Knaben galten, der als Waise zurückbleiben werde. Sich Gewalt antuend hatte er versucht, zu den Interessen des Lebens zurückzukehren und sich auf den Standpunkt der beiden Mädchen zu versetzen.

»Ja, ihnen muß das traurig vorkommen«, hatte er gedacht. »Und wie einfach ist es doch!«

»Die Vögel unter dem Himmel säen nicht und ernten nicht; aber euer Vater nähret sie doch«, hatte er zu sich selbst gesagt und dasselbe auch zur Prinzessin sagen wollen. »Aber nein«, hatte er dann gedacht, »sie würden es auf ihre Art verstehen, sie würden es nicht verstehen! Das können sie nicht verstehen, daß alle diese Gefühle, auf die sie einen solchen Wert legen, alle diese unsere Gedanken, die uns so wichtig scheinen, hohl und nichtig sind. Wir können einander nicht verstehen!« Und so hatte er geschwiegen.


Der kleine Sohn des Fürsten Andrei war jetzt sieben Jahre alt; er konnte kaum lesen und wußte überhaupt noch nichts. Nach diesem Tag machte er in seinem Leben gar vieles durch, erwarb[89] Kenntnisse, Beobachtungsfähigkeit und Erfahrung. Aber wenn er damals schon alle diese nachher erworbenen Fähigkeiten besessen hätte, so hätte er doch die ganze Bedeutung der Szene, die er zwischen seinem Vater, der Prinzessin Marja und Natascha sich abspielen sah, nicht besser und tiefer verstehen können, als er sie jetzt verstand. Er hatte alles verstanden, ging ohne zu weinen aus dem Zimmer, trat schweigend zu Natascha heran, die hinter ihm her das Zimmer verlassen hatte, und blickte sie schüchtern mit seinen nachdenklichen, schönen Augen an; seine hinaufgezogene rote Oberlippe zuckte, er schmiegte sich mit dem Kopf an sie und brach in Tränen aus.

Seit diesem Tag vermied er seinen Erzieher Dessalles, vermied er die Gräfin, die ihn immer liebkoste, und saß entweder still für sich allein, oder er trat schüchtern an Prinzessin Marja und Natascha heran, welche letztere er, wie es schien, noch mehr liebgewonnen hatte als seine Tante, und liebkoste sie leise und verlegen.

Als Prinzessin Marja von dem Fürsten Andrei herauskam, hatte sie alles das, was Nataschas Gesicht ihr gesagt hatte, völlig verstanden. Sie sprach mit Natascha nicht mehr von der Hoffnung auf Rettung seines Lebens. Sie löste sich mit ihr auf dem Platz an seinem Sofa ab und weinte nicht mehr; aber sie betete unablässig, indem sie ihre Seele zu Gott dem Ewigen, Unbegreiflichen hinwandte, der jetzt (das fühlte sie) über dem Haupt eines sterbenden Menschen gegenwärtig war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 84-90.
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