XIV

[438] Bald darauf kamen die Kinder, um gute Nacht zu sagen. Nachdem die Kinder jedem einen Kuß gegeben, die Erzieher und Gouvernanten sich verbeugt hatten, verließen sie das Zimmer. Nur Dessalles und sein Zögling blieben zurück. Der Erzieher forderte seinen Zögling flüsternd auf, mit nach unten zu kommen.

»Nein, Monsieur Dessalles, ich möchte meine Tante um die Erlaubnis bitten, noch bleiben zu dürfen«, antwortete Nikolenka Bolkonski, gleichfalls flüsternd.

»Liebe Tante«, sagte der Knabe, indem er zu Gräfin Marja hintrat, »erlauben Sie mir, noch hierzubleiben.«

Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck inständiger Bitte und schwärmerischer Erregung. Gräfin Maria sah ihn an und wandte sich zu Pierre.

»Wenn Sie hier sind, kann er sich immer gar nicht losreißen«, sagte sie zu ihm.

»Ich werde ihn Ihnen sogleich nach unten bringen, Monsieur Dessalles. Gute Nacht!« sagte Pierre, reichte dem Schweizer die Hand und wandte sich lächelnd an den Knaben: »Wir beide haben einander noch gar nicht recht gesehen. Marja, wie ähnlich er wird«, fügte er, zu Gräfin Marja gewendet, hinzu.[438]

»Dem Vater?« fragte der Knabe, der dunkelrot geworden war und Pierre von unten herauf mit begeisterten, glänzenden Augen anblickte.

Pierre nickte ihm zu und fuhr in der Erzählung fort, die die Kinder vorhin unterbrochen hatten. Gräfin Marja arbeitete an einer Kanevasstickerei; Natascha blickte ihren Mann an, ohne ein Auge von ihm abzuwenden. Nikolai und Denisow standen auf, forderten Pfeifen, rauchten, ließen sich Tee von Sonja geben, die demütig und geduldig beim Samowar saß, und fragten Pierre aus. Der lockige, kränkliche Knabe mit seinen glänzenden Augen saß, von niemand beachtet, in einem Winkel; er wandte seinen lockigen Kopf auf dem schlanken Hals, der aus dem zurückgeschlagenen Hemdkragen hervorkam, nach der Seite hin, wo Pierre saß, zuckte mitunter zusammen und flüsterte etwas vor sich hin: offenbar befand er sich in dem Bann einer neuen, starken Empfindung.

Das Gespräch drehte sich um jenen Klatsch über die derzeitigen höchsten Persönlichkeiten der Regierung, in welchem die meisten Menschen das wichtigste Interesse der inneren Politik sehen. Denisow, der wegen des Mißerfolges in seiner dienstlichen Laufbahn mit der Regierung unzufrieden war, hörte mit Vergnügen von all den Dummheiten, die seiner Meinung nach jetzt in Petersburg begangen wurden, und machte zu Pierres Mitteilungen in starken, scharfen Ausdrücken seine Bemerkungen.

»Früher mußte man ein Deutscher sein, jetzt muß man mit Frau Tatarinowa und mit Frau Krüdener tanzen und Eckartshausen und die Bruderschaft lesen! Oh! Am liebsten würde ich unsern schneidigen Bonaparte wieder loslassen; dann sollten ihnen wohl alle diese Dummheiten vergehen. Na, das ist denn doch unerhört, daß dem Gemeinen Schwarz das Semjonower Regiment gegeben wird!« rief er.[439]

Nikolai war zwar frei von Denisows Neigung, alles schlecht zu finden, hielt es aber gleichfalls für ein sehr verdienstvolles, wichtiges Werk, die Regierung zu kritisieren, und war der Ansicht, die Ernennung des Herrn A. zum Minister des und des Ressorts und die Entsendung des Herrn B. als Generalgouverneur da und dahin und die und die Äußerung des Kaisers und die und die Erklärung des Ministers, das seien alles sehr wichtige Dinge. Und er hielt es für erforderlich, sein Interesse dafür an den Tag zu legen, und befragte Pierre über all dergleichen. Und infolge der Fragen, die Nikolai und Denisow stellten, kam das Gespräch aus dem Geleise des gewöhnlichen Klatsches über die höchsten Regierungskreise nicht heraus.

Aber Natascha, die alle Gebärden und Gedanken ihres Mannes kannte, sah, daß dieser sich schon längst vergeblich bemühte, das Gespräch in eine andere Bahn zu bringen und die Idee auszusprechen, die ihm ganz besonders am Herzen lag, eben die Idee, um derentwillen er nach Petersburg gefahren war, um dort mit seinem neuen Freund, dem Fürsten Fjodor, zu konferieren, und so kam sie ihm denn mit der Frage zu Hilfe, was er eigentlich mit dem Fürsten Fjodor zusammen vorhabe.

»Ja, worüber habt ihr denn verhandelt?« fragte Nikolai.

»Immer über denselben Gegenstand«, erwiderte Pierre und blickte rings um sich. »Jeder sieht, daß die Dinge einen so schlimmen Gang nehmen, daß man es nicht so weitergehen lassen darf und es die Pflicht jedes ehrenhaften Mannes ist, dem nach Kräften entgegenzuwirken.«

»Was können denn die ehrenhaften Männer dabei tun?« erwiderte Nikolai und zog die Stirn ein wenig zusammen. »Was ist dabei zu machen?«

»Die Sache ist die ...«

»Wir wollen in mein Zimmer gehen«, sagte Nikolai.[440]

Natascha, die schon längst erwartet hatte, daß man sie rufen werde, um den Kleinen zu nähren, hörte den Ruf der Kinderfrau und ging ins Kinderzimmer. Gräfin Maria ging mit ihr. Die Männer begaben sich in Nikolai Rostows Zimmer, und Nikolenka Bolkonski ging, ohne daß sein Onkel es bemerkte, auch mit und setzte sich in den Schatten, an den Schreibtisch beim Fenster.

»Na also, was werden Sie denn tun?« fragte Denisow.

»Immer Phantastereien«, sagte Nikolai.

»Die Sache ist die«, begann Pierre; er setzte sich nicht hin, sondern ging bald im Zimmer auf und ab, bald wieder blieb er stehen; beim Reden lispelte er und gestikulierte lebhaft mit den Armen. »Die Sache ist die. In Petersburg steht es so: der Kaiser kümmert sich um nichts. Er hat sich ganz dem Mystizismus in die Arme geworfen.« (Mystizismus verzieh Pierre niemandem.) »Er verlangt nur nach Ruhe, und diese Ruhe können ihm nur diese Männer ohne Treue und Gewissen verschaffen, die skrupellos alles niederschlagen und ersticken: Magnizki, Araktschejew und diese ganze Sorte ... Du wirst zugeben: wenn du selbst dich nicht mit der Wirtschaft abgäbest und nur deine Ruhe haben wolltest, so würdest du deinen Zweck um so schneller erreichen, je strenger ein Vogt wäre«, sagte er, sich zu Nikolai wendend.

»Na, wozu sagst du das!« antwortete Nikolai.

»So geht nun alles zugrunde. In den Gerichten blüht das Bestechungsunwesen; beim Heer regiert nur der Stock; immer nur Exerzieren, dazu die Militärkolonien; das Volk wird gequält, die Bildung unterdrückt. Alles, was jung und ehrenhaft ist, richten sie zugrunde. Jedermann sieht, daß es so nicht weitergehen kann. Alles ist zu straff gespannt und muß mit Notwendigkeit reißen«, sagte Pierre, wie das, seit es überhaupt Regierungen gibt, die Menschen stets im Hinblick auf die Handlungen irgendeiner[441] Regierung sagen. »Ich habe ihnen in Petersburg meine Meinung gesagt ...«

»Wem?« fragte Denisow.

»Nun, ihr wißt schon, wem«, antwortete Pierre, indem er den beiden unter der gesenkten Stirn hervor einen bedeutsamen Blick zuwarf. »Dem Fürsten und ihnen allen. Ich habe ihnen gesagt: ›Zu wetteifern in Wohltätigkeit und in Verbreitung von Bildung, das ist ja alles ganz schön, selbstverständlich. Ein schönes Ziel, zweifellos; aber unter den jetzigen Umständen ist noch anderes vonnöten.‹«

In diesem Augenblick bemerkte Nikolai die Anwesenheit seines Neffen; sein Gesicht verfinsterte sich, und er ging auf ihn zu.

»Warum bist du hier?«

»Warum sollte er nicht? Laß ihn doch hierbleiben«, sagte Pierre und hielt seinen Schwager am Arm zurück; dann fuhr er fort: »Ich habe ihnen gesagt: ›Das genügt nicht; jetzt ist noch anderes vonnöten. Ihr steht da und wartet darauf, daß im nächsten Augenblick die zu straff gespannte Saite springt; alle warten auf die unausbleibliche Revolution. Aber was nottut, ist, daß wir mit möglichst vielen aus dem Volk und in möglichst engem Zusammenschluß einander die Hände reichen, um gegen die allgemeine Katastrophe anzukämpfen. Alle jungen, kräftigen Elemente werden nach jener Seite hinübergezogen und verdorben. Den einen verlocken die Weiber, den andern die Ehrenstellen, den dritten die Eitelkeit und das Geld, und so gehen sie in jenes Lager über. Unabhängige, freie Männer, wie ihr und ich, gibt es gar nicht mehr.‹ Ich habe ihnen gesagt: ›Erweitert den Umfang des Vereins; das Losungswort soll nicht allein Tugend heißen, sondern Unabhängigkeit und Tatkraft.‹«

Nikolai hatte von seinem Neffen abgelassen, ärgerlich seinen Stuhl an eine andere Stelle gerückt und sich darauf gesetzt;[442] während er zuhörte, was Pierre sagte, hatte er sich unzufrieden geräuspert und ein immer finstereres Gesicht gemacht.

»Und welchen Zweck verfolgt denn diese Tatkraft?« rief er. »Und welche Stellung nehmt ihr der Regierung gegenüber ein?«

»Das will ich dir sagen: die Stellung von Helfern. Der Bund braucht kein geheimer zu sein, wenn die Regierung ihn gestattet. Er ist nicht nur der Regierung nicht feindlich, sondern im Gegenteil ein Bund echt konservativ gesinnter Männer, ein Bund von Gentlemen im vollen Sinn dieses Wortes. Nur damit nicht ein Pugatschew kommt, um meine und deine Kinder zu morden, und damit Araktschejew mich nicht in eine Militärkolonie schickt, nur darum reichen wir einander die Hände, und unser einziger Zweck ist das allgemeine Wohl und die allgemeine Sicherheit.«

»Ja, aber dieser Bund ist ein geheimer, folglich ist er regierungsfeindlich und schädlich und kann nur Böses hervorbringen.«

»Wieso? Hat etwa der Tugendbund, der Europa gerettet hat« (damals verstieg man sich noch nicht zu dem Gedanken, daß Rußland Europa gerettet habe), »irgendein Unheil angerichtet? Der Tugendbund ist die Liebe, die gegenseitige Hilfe; er ist das, was Christus am Kreuz gepredigt hat ...«

Natascha, die mitten während dieses Gesprächs ins Zimmer gekommen war, betrachtete mit lebhafter Freude ihren Mann. Sie freute sich nicht über das, was er sagte. Das interessierte sie nicht einmal, weil es ihr schien, daß das alles außerordentlich einfach sei und sie das alles schon längst wisse (das schien ihr deshalb so, weil sie den Boden, auf welchem diese Anschauungen gewachsen waren, Pierres ganze Seele, so genau kannte); sondern sie freute sich beim Anblick seiner Lebhaftigkeit und Begeisterung.

Mit noch größerer Freude und Begeisterung hafteten an Pierres Gestalt die Blicke des von allen vergessenen Knaben mit[443] dem schlanken Hals, der aus dem zurückgeschlagenen Hemdkragen hervorragte. Jedes Wort Pierres setzte sein Herz in hellere Glut, und mit nervösen Bewegungen der Finger zerbrach er, ohne es selbst zu bemerken, die Siegellackstangen und Federn, die ihm auf dem Schreibtisch seines Onkels in die Hände kamen.

»Es ist ganz und gar nicht so, wie du meinst; ich will dir sagen, was es mit dem deutschen Tugendbund für eine Bewandtnis hatte, und mit dem, den ich in Vorschlag bringe.«

»Na, mein Bester, für die Wurstmacher mag das ja ganz gut sein, dieser Tugendbund; aber ich habe kein Verständnis für ihn und mag seinen Namen gar nicht aussprechen«, ließ sich Denisow in lautem, entschiedenem Ton vernehmen. »Daß alles scheußlich und greulich ist, das ist auch meine Ansicht; bloß für den Tugendbund habe ich kein Verständnis. Der gefällt mir schon deshalb nicht, weil er sich als Rebellion1 bezeichnet. Das ist meine bescheidene Meinung.«

Pierre lächelte, Natascha lachte laut auf, Nikolai aber zog die Augenbrauen noch finsterer zusammen und wollte Pierre beweisen, daß keine Revolution zu befürchten sei und die ganze Gefahr, von der er spreche, nur in seiner Einbildung existiere. Pierre bewies das Gegenteil, und da seine geistigen Kräfte stärker und gewandter waren, so fühlte Nikolai, daß er bei der Debatte den kürzeren zog. Dies brachte ihn noch mehr auf, da er in tiefster Seele, nicht aufgrund von Vernunftschlüssen, sondern aufgrund von etwas, was stärker war als Vernunftschlüsse, die zweifellose Überzeugung hatte, daß seine Ansicht die richtige sei.

»Ich will dir etwas sagen«, hob er an, indem er aufstand; er versuchte mit nervösen Bewegungen seine Pfeife in die Ecke zu[444] stellen, ließ sie aber schließlich hinfallen. »Beweisen kann ich dir das nicht. Du sagst, es sei bei uns alles schlecht und es komme eine Revolution; ich sehe davon nichts. Aber du sagst, ein Eid habe nur einen bedingten Wert, und darauf antworte ich dir: du weißt, daß du mein bester Freund bist; aber wenn ihr einen geheimen Bund bildet und anfangt, euch der Regierung, mag sie sein, wie sie will, zu widersetzen, so weiß ich, daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen. Und sollte mir Araktschejew gleich diesen Augenblick befehlen, mit einer Eskadron gegen euch loszureiten und euch niederzuhauen, ich würde, ohne mich eine Sekunde lang zu bedenken, losreiten. Darüber magst du nun denken, wie du willst.«

Nach diesen Worten trat ein unbehagliches Schweigen ein. Natascha war die erste, die wieder zu reden anfing: sie verteidigte ihren Mann und fiel über ihren Bruder her. Ihre Verteidigung war ja nur schwach und ungeschickt, erreichte aber doch ihren Zweck. Das Gespräch kam wieder in Gang, und zwar nun nicht mehr in dem unangenehm feindseligen Ton, in welchem Nikolai die letzten Worte gesprochen hatte.

Als alle aufstanden, um zum Abendessen zu gehen, trat Nikolenka Bolkonski zu Pierre heran; er war blaß, und seine Augen glänzten und leuchteten.

»Onkel Pierre ... Sie ... nein ... Wenn Papa noch lebte ... würde er mit Ihnen derselben Ansicht sein?« fragte er.

Pierre begriff sofort, welch eine eigenartige, selbständige, komplizierte, starke Arbeit des Empfindungs- und Denkvermögens in der Seele dieses Knaben während ihres Gesprächs vorgegangen sein mußte, und indem er sich schnell alles vergegenwärtigte, was er gesagt hatte, ärgerte er sich, daß der Knabe es mit angehört hatte. Indes mußte er ihm doch eine Antwort geben.[445]

»Ich glaube, ja«, sagte er mit innerem Widerstreben und verließ das Zimmer.

Der Knabe senkte den Kopf und schien jetzt erst zu bemerken, was er auf dem Schreibtisch angerichtet hatte. Er wurde dunkelrot und trat an seinen Onkel Nikolai Rostow heran.

»Verzeih mir, Onkel; ich habe das hier gemacht ... ohne Absicht«, sagte er und wies auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn.

Nikolai zuckte ärgerlich zusammen.

»Gut, gut«, erwiderte er und warf die Bruchstücke des Siegellacks und der Federn unter den Tisch.

Er hielt offenbar nur mit Mühe den in ihm aufsteigenden Zorn zurück und wandte sich von ihm ab.

»Du hattest hier überhaupt nichts zu suchen«, sagte er.

Fußnoten

1 bunt heißt im Russischen die Rebellion.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 438-446.
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