28

[260] Als Alexei Alexandrowitsch beim Rennen erschien, saß Anna bereits auf der Tribüne neben Betsy, in der Loge, wo sich die ganze höhere Gesellschaft zu versammeln pflegte. Sie erblickte ihren Mann schon von weitem. Zwei Menschen, ihr Mann und ihr Geliebter, waren für sie die beiden Brennpunkte des Lebens, und ohne Hilfe der äußeren Sinnesorgane spürte sie deren Nähe. Schon von weitem hatte sie die Annäherung ihres Mannes gefühlt,[260] und sie verfolgte ihn unwillkürlich mit den Augen in den Menschenwogen, durch die er sich hinbewegte. Sie sah, wie er der Loge näher kam, indem er bald untertänige Verbeugungen leutselig erwiderte, bald Gleichgestellte freundschaftlich und zerstreut begrüßte, bald eifrig bemüht war, einen Blick von den Mächtigen dieser Welt zu erhaschen, und dabei seinen großen, runden Hut abnahm, der ihm die oberen Ränder der Ohrmuscheln niederdrückte. Sie kannte alle diese Angewohnheiten, und sie waren ihr alle widerwärtig. ›Nur Ehrgeiz, nur der Wunsch, etwas in der Welt zu erreichen, das ist alles, was in seiner Seele vorhanden ist‹, dachte sie, ›aber jedes höhere Streben, Religiosität, Interesse für die Verbreitung der Bildung, das ist ihm alles nur Mittel, um etwas zu erreichen.‹

An den Blicken, die er nach der Damenloge richtete (er schaute gerade auf Anna hin, konnte sie aber in dem Meere von Tüll, Bändern, Federn, Sonnenschirmen und Blumen nicht erkennen), merkte sie, daß er sie suchte; aber sie tat absichtlich, als sähe sie ihn nicht.

»Alexei Alexandrowitsch!« rief ihn die Fürstin Betsy an. »Sie suchen gewiß Ihre Frau; hier ist sie!«

Er lächelte in seiner kühlen Art.

»Hier ist so viel Glanz, daß die Augen geblendet umherirren«, erwiderte er und trat in die Loge hinein. Er lächelte seiner Frau so zu, wie eben ein Ehemann lächeln muß, wenn er seiner Frau wieder begegnet, mit der er vor kurzem noch zusammengewesen ist, und begrüßte die Fürstin und seine anderen Bekannten, indem er einem jeden zukommen ließ, was ihm gebührte, also an die Damen Scherzworte richtete und mit den Männern Begrüßungen austauschte. Unten neben der Loge stand ein von Alexei Alexandrowitsch hochgeschätzter, durch seinen Verstand und seine Bildung bekannter Generaladjutant; Alexei Alexandrowitsch knüpfte ein Gespräch mit ihm an.

Es war gerade eine Pause zwischen zwei Rennen, und daher wurde die Unterhaltung durch nichts gestört. Der Generaladjutant äußerte sich mißbilligend über den Rennsport; Alexei Alexandrowitsch trat dem entgegen und verteidigte ihn. Anna horchte, ohne ein Wort zu verlieren, auf seine hohe, gleichmäßige Stimme, und jedes seiner Worte schien ihr unaufrichtig, und ihr Ohr empfand gleichsam einen physischen Schmerz davon.

Als das Vier-Werst-Rennen mit Hindernissen begann, beugte sie sich vor und blickte unverwandt zu Wronski hin, der zu seinem Pferde ging und es bestieg, und gleichzeitig hörte sie die widerwärtige, gleichmäßig weitersprechende Stimme ihres Mannes. Die Angst um Wronski peinigte sie; aber noch mehr[261] peinigte sie die hohe Stimme ihres Mannes mit dem ihr so wohlbekannten Tonfall; es schien ihr, als wolle diese Stimme überhaupt nie verstummen.

›Ich bin eine schlechte Frau, ein verworfenes Weib‹, dachte sie. ›Aber ich verabscheue die Lüge, ich kann die Lüge nicht ausstehen; ihm hingegen ist die Lüge geradezu das tägliche Brot. Er weiß alles, er sieht alles; wie mag es mit seinem Gefühl, mit seiner Empfindung stehen, wenn er sich dabei mit solcher Ruhe unterhalten kann? Wenn er mich tötete, wenn er Wronski tötete, so würde ich ihn dafür achten. Aber nein, was er will, ist nur Unwahrhaftigkeit und Wahrung des äußeren Anstandes.‹ So sprach Anna bei sich, ohne recht zu überlegen, was für ein Verhalten sie denn eigentlich von ihrem Manne verlangte und welche Eigenschaften sie an ihm zu sehen wünschte. Auch das entging ihr, daß Alexei Alexandrowitschs jetzige besonders große Gesprächigkeit, die ihr so sehr mißfiel, lediglich ein Ausdruck seiner inneren Erregung und Unruhe war. Wie ein Kind, das sich gestoßen hat, durch Springen seine Muskeln in Bewegung setzt, um dadurch den Schmerz zu betäuben, so bedurfte auch Alexei Alexandrowitsch notwendig einer geistigen Bewegung, um jene Vermutungen über seine Frau zu betäuben, die sich ihm bei Anwesenheit seiner Frau und bei Anwesenheit Wronskis, und wenn er dessen Namen immer wieder hören mußte, gewaltsam aufdrängten. Und wie es dem Kinde die Natur eingibt, zu springen, so gab sie es ihm ein, ein hübsches, verständiges Gespräch zu führen. Er äußerte sich folgendermaßen:

»Die Gefährlichkeit ist bei militärischen Rennen, bei Kavallerierennen, eine notwendige Bedingung. Wenn England in der Kriegsgeschichte auf die glänzendsten Reitertaten hinweisen kann, so wird dies nur dem Umstande verdankt, daß dieses Land sowohl bei den Tieren wie bei den Menschen diese Kraft im Laufe der Zeit zielbewußt ausgebildet hat. Der Sport ist meiner Ansicht nach von hoher Bedeutung; aber wir sehen bei ihm wie bei allen Dingen eben nur das Alleräußerlichste.«

»Doch nicht bloß das Äußerliche«, warf die Fürstin Twerskaja dazwischen. »Ein Offizier soll sich soeben zwei Rippen gebrochen haben.«

Auf Alexei Alexandrowitschs Gesicht erschien das ihm eigentümliche Lächeln, das nur die Zähne sichtbar werden ließ, aber im übrigen völlig nichtssagend war.

»Allerdings, Fürstin«, versetzte er, »ist das nichts Äußerliches, sondern etwas Innerliches. Aber darum handelt es sich nicht«, hier wandte er sich wieder an den General, mit dem er das Gespräch in ernstem Tone fortsetzte; »Sie dürfen nicht vergessen,[262] daß bei dem Rennen Offiziere reiten, die sich für diesen Beruf nach freier Wahl entschieden haben, und Sie werden zugeben müssen, daß ein jeder Beruf auch seine Kehrseite hat. Der gefährliche Sport gehört geradezu zu den Pflichten eines Offiziers. Der rohe Sport des Faustkampfes oder der spanischen Toreadors ist ein Zeichen von Barbarei. Aber der auf ein besonderes Ziel gerichtete Sport ist ein Zeichen kultureller Entwicklung.«

»Nein, ich komme ein andermal nicht wieder her; das regt mich doch gar zu sehr auf«, sagte die Fürstin Betsy. »Nicht wahr, Anna?«

»Aufregend ist es; aber man kann sich doch nicht davon losreißen«, meinte eine andere Dame. »Wäre ich eine Römerin gewesen, so hätte ich an keinem Kampftage im Zirkus gefehlt.«

Anna erwiderte nichts und blickte, ohne das Opernglas abzusetzen, immer nach einer Stelle hin.

In diesem Augenblick ging ein hoher General durch die Loge. Alexei Alexandrowitsch unterbrach seine Auseinandersetzung, stand eilig, aber dabei doch würdevoll auf und verbeugte sich tief vor dem vorübergehenden Offizier.

»Sie reiten das Rennen nicht mit?« fragte ihn der Offizier scherzend.

»Mein Rennen ist schwieriger«, antwortete Alexei Alexandrowitsch achtungsvoll.

Und obgleich diese Erwiderung eigentlich keinen rechten Sinn hatte, machte der hohe Offizier doch eine Miene, als habe er von einem geistreichen Manne ein geistreiches Wort vernommen und verstehe völlig la pointe de la sauce1.

»Es sind da zwei Standpunkte zu unterscheiden«, fuhr Alexei Alexandrowitsch von neuem in seiner Darlegung fort, »der der aktiv Beteiligten und der der Zuschauer. Die Lust an solchen Schauspielen ist bei den Zuschauern, das muß ich zugeben, ein sicheres Zeichen eines niedrigen Bildungsgrades; aber ...«

»Nun, Fürstin, wollen wir wetten?« erscholl von unten her die Stimme Stepan Arkadjewitschs, der sich an Betsy wandte. »Auf wen halten Sie?«

»Anna und ich halten auf den Fürsten Kusowlew«, erwiderte Betsy.

»Ich auf Wronski. Um ein Paar Handschuhe!«

»Es gilt!«

»Wie hübsch das Rennen ist, nicht wahr?«

Alexei Alexandrowitsch hatte einen Augenblick geschwiegen, während dies dicht neben ihm gesprochen wurde; aber dann begann er sogleich wieder:

»Ich muß zugeben, daß unmännliche Spiele ...«[263]

Aber er konnte nicht weiterreden, da in diesem Augenblicke die Reiter starteten und alle Gespräche abgebrochen wurden. Auch Alexei Alexandrowitsch verstummte. Alle waren aufgestanden und hatten sich nach dem Flüßchen hingewandt. Für das Rennen hatte Alexei Alexandrowitsch kein Interesse, und daher blickte er nicht nach den Reitern hin, sondern er ließ seine müden Augen durch die Reihen der Zuschauer wandern. Sein Blick blieb auf Anna haften.

Ihr Gesicht war blaß und tiefernst. Sie sah offenbar nichts und niemanden außer einem einzigen. Ihre Hand preßte sich krampfhaft um den Fächer zusammen, und sie atmete kaum. Er betrachtete sie einen Augenblick; dann wandte er sich eilig ab und sah nach anderen Gesichtern hin.

›Da, diese Dame da‹, sagte er zu sich selbst, ›und dort noch andere Damen sind auch sehr aufgeregt; das ist etwas sehr Natürliches.‹ Er wollte seine Frau nicht noch einmal ansehen; aber er fühlte seinen Blick unwillkürlich wieder dorthin gezogen. So schaute er denn von neuem in dieses Gesicht, bemüht, das nicht zu lesen, was doch so deutlich darauf geschrieben stand, und gegen seinen Willen las er darauf mit Entsetzen, was zu wissen er sich sträubte.

Der erste Sturz eines Reiters – Kusowlew war am Flüßchen gestürzt – setzte alle in Aufregung; aber an Annas blassem, triumphierendem Gesichte sah Alexei Alexandrowitsch deutlich, daß der, nach dem sie hinsah, nicht gestürzt war. Als dann Machotin und Wronski die große Hürde genommen hatten und darauf der ihnen folgende Offizier an dieser selben Stelle auf den Kopf stürzte und schwerverletzt besinnungslos liegenblieb und ein dumpfes Gemurmel des Schreckens durch die ganze Zuschauerschaft ging, da sah Alexei Alexandrowitsch, daß Anna diesen Vorfall gar nicht einmal bemerkt hatte und nur mit Mühe begriff, wovon um sie herum gesprochen wurde. Aber immer häufiger und häufiger und mit immer größerer Hartnäckigkeit betrachtete er sie. Obgleich Anna in den Anblick des dahinjagenden Wronski ganz versunken war, fühlte sie doch den Blick der kalten Augen ihres Mannes von der Seite her auf sich gerichtet.

Sie sah sich einen Augenblick um, blickte ihn fragend an, zog leicht die Brauen zusammen und wandte sich wieder von ihm ab.

Es war, als ob sie zu ihm sagte: ›Ach, mir ist alles gleich!‹ Und von nun an blickte sie kein einziges Mal mehr nach ihm hin.

Es war ein Unglücksrennen: von den siebzehn Reitern stürzten und verletzten sich mehr als die Hälfte. Am Schlusse des Rennens waren alle Zuschauer in großer Erregung, die noch dadurch erhöht wurde, daß der Kaiser sich mißfällig geäußert hatte.

Fußnoten

1 (frz.) das Wesen der Sache.
[264]

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 1, S. 260-265.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon