30

[139] Ende September war das Holz für den Bau des Viehhofes auf dem der Arbeitsgenossenschaft überlassenen Stück Land angefahren; die Butter war verkauft und der Gewinn verteilt. In der Wirtschaft, in der Praxis, ging die Sache ausgezeichnet, oder wenigstens schien es Ljewin so. Um aber die ganze Sache theoretisch klarlegen und seine Abhandlung abschließen zu können, die, Ljewins kühnen Hoffnungen zufolge, bestimmt war, nicht nur einen Umschwung in der Nationalökonomie herbeizuführen, sondern diese Wissenschaft vollständig zu beseitigen und den Grund zu einer neuen Wissenschaft zu legen, über das Verhältnis des Volkes zum Erdboden: dazu brauchte er nur ins Ausland zu reisen und an Ort und Stelle alles, was dort nach dieser Richtung hin geschehen war, zu studieren und den zwingenden Beweis zu führen, daß alles, was dort geschehen war, nicht das Richtige und Nötige sei. Ljewin wartete nur, bis er den Weizen werde abgeliefert und das Geld dafür empfangen haben, um ins Ausland zu reisen. Aber es trat andauernder Regen ein, der es nicht nur unmöglich machte, die Kartoffeln, und was noch von Korn auf dem Felde stand, einzubringen, sondern überhaupt alle landwirtschaftlichen Arbeiten hemmte, ja selbst die Ablieferung des Weizens. Auf den Wegen war ein unergründlicher Schmutz; zwei Mühlen wurden durch plötzlich eintretendes Hochwasser weggerissen, und das Wetter wurde noch von Tag zu Tag schlechter.

Am 30. September ließ sich frühmorgens die Sonne wieder ein klein wenig blicken, und in der Hoffnung auf gutes Wetter traf nun Ljewin die endgültigen Vorbereitungen zur Abreise. Er ließ den Weizen aufschütten, schickte den Verwalter zum Händler, um das Geld in Empfang zu nehmen, und ritt selbst auf seinem ganzen Gebiete umher, um vor seiner Abreise die letzten Anordnungen zu treffen.

Nachdem Ljewin alle Geschäfte erledigt hatte, ritt er, ganz durchnäßt von den Regenbächlein, die ihm trotz seines Lederrockes[139] teils in den Hals, teils in die Stiefelschäfte gelaufen waren, aber in der muntersten und angeregtesten Gemütsstimmung am Abend nach Hause zurück. Das Unwetter tobte gegen Abend noch schlimmer. Der Graupelschnee peitschte das Pferd, das am ganzen Leibe naß war und fortwährend Kopf und Ohren schüttelte, so schmerzhaft, daß es in schräger Haltung vorwärts schritt. Ljewin aber fühlte sich unter seiner Regenkappe ganz wohl und blickte fröhlich um sich, bald nach den trüben Bächlein, die in den Wagengeleisen dahinliefen, bald nach den Tropfen, die an jedem kahlen Zweige hingen, bald nach dem weißen Fleck noch nicht geschmolzenen Graupelschnees auf den Brückenbohlen, bald nach dem saftigen, noch fleischigen Laube einer Ulme, das in dicker Schicht um den entblätterten Baum herumlag. Trotz des düsteren Aussehens der ihn umgebenden Natur fühlte er sich in besonders gehobener Stimmung. Die Gespräche mit den Bauern auf dem weit entlegenen Felde hatten ihm gezeigt, daß sie anfingen, sich an ihre neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Der alte Herbergswirt, bei dem er für ein Weilchen eingekehrt war, um sich zu trocknen, hatte sich über Ljewins Plan sehr beifällig geäußert und sich aus freien Stücken erboten, in die Genossenschaft als Vieheinkäufer einzutreten.

›Man muß nur beharrlich sein Ziel verfolgen‹, dachte Ljewin. ›Auf die Art werde auch ich das meinige schon erreichen. Und die Sache ist die darauf verwandte Mühe und Arbeit wert. Es ist das nicht etwa nur meine persönliche Angelegenheit, sondern hier handelt es sich um das Wohl der Gesamtheit. Die ganze Landwirtschaft, der wichtigste Teil des Volkslebens, muß vollständig umgestaltet werden. Statt der Armut allgemeiner Wohlstand und Zufriedenheit, statt der Feindschaft Eintracht und Interessengemeinschaft. Mit einem Worte: eine unblutige Umwälzung, aber eine ganz gewaltige Umwälzung, zuerst in dem kleinen Raume unseres Kreises, dann im Gouvernement, in Rußland, in der ganzen Welt. Denn eine wahre, gerechte Idee kann nicht ohne Frucht bleiben. Ja, das ist ein Ziel, für das zu arbeiten es sich verlohnt. Und daß gerade ich auf diese Idee gekommen bin, Konstantin Ljewin, derselbe Mensch, der einmal in schwarzer Krawatte zum Ball gefahren ist und dem Kitty Schtscherbazkaja einen Korb gegeben hat und der sich selbst so kläglich und unbedeutend vorkommt – das beweist gar nichts dagegen. Ich bin überzeugt, daß Franklin sich für ebenso unbedeutend hielt und ebensowenig Selbstvertrauen besaß, wenn er über seine gesamte Persönlichkeit nachdachte. Das will gar nichts besagen. Auch der hat gewiß seine Agafja Michailowna gehabt, der er seine Geheimnisse anvertraute.‹[140]

Unter solchen Gedanken langte Ljewin (es war schon ganz dunkel geworden) wieder zu Hause an.

Der Verwalter war von seiner Fahrt zu dem Händler zurückgekommen und hatte einen Teil des Geldes für den Weizen mitgebracht. Der Vertrag mit dem Herbergswirte wurde aufgesetzt. Unterwegs hatte der Verwalter bemerkt, daß das Getreide noch überall auf dem Felde stand, so daß, wie er hervorhob, seine noch nicht eingebrachten hundertsechzig Haufen nichts waren im Vergleich mit dem, was noch bei andern draußen war.

Nach dem Mittagessen setzte sich Ljewin wie gewöhnlich mit einem Buche in den Lehnstuhl und fuhr während des Lesens fort, zwischendurch an seine bevorstehende Reise und in Verbindung damit an seine Abhandlung zu denken. Heute trat ihm die ganze Bedeutsamkeit dieser seiner Arbeit besonders klar vor Augen, und ganz von selbst bildeten sich in seinem Kopfe vollständige Satzgefüge, die den Kern seiner Ideen ausdrückten. ›Das muß ich mir aufzeichnen‹, dachte er. ›Das soll eine kurze Einleitung bilden, die ich früher für unnötig gehalten habe.‹ Er erhob sich, um an den Schreibtisch zu gehen, und Laska, die zu seinen Füßen lag, stand, sich reckend, gleichfalls auf und sah ihn an, wie wenn sie fragte, wohin es gehen solle. Aber er fand keine Zeit, sich seine Aufzeichnungen zu machen, denn die Vorarbeiter waren gekommen, um sich Anleitungen zu holen, und Ljewin ging zu ihnen hinaus in die Vorhalle.

Nachdem er ihnen die erforderlichen Anleitungen erteilt, das heißt Anordnungen für die Arbeiten des nächsten Tages getroffen und auch alle Bauern empfangen hatte, die ihn sprechen wollten, kehrte Ljewin wieder in sein Zimmer zurück und setzte sich an die Arbeit. Laska legte sich unter den Tisch; Agafja Michailowna setzte sich mit ihrem Strickstrumpf auf ihren gewohnten Platz.

Nachdem Ljewin eine Zeitlang geschrieben hatte, erinnerte er sich auf einmal in ungewöhnlich lebendiger Weise an Kitty, an ihre ablehnende Antwort und an die letzte Begegnung mit ihr. Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Sie brauchten sich ja hier nicht mehr zu langweilen«, sagte Agafja Michailowna zu ihm. »Wozu sitzen Sie denn immer noch zu Hause? Sie sollten nach einem Badeorte mit warmen Quellen fahren; mit Ihren Vorbereitungen sind Sie ja glücklicherweise fertig.«

»Ich will ja auch übermorgen abreisen, Agafja Michailowna. Ich muß nur erst mein Unternehmen zum Abschluß bringen.«

»Na, Ihr Unternehmen, das ist schon so das Richtige! Sie haben so schon den Bauern mehr als genug in den Rachen geworfen.[141] Sie sagen ohnehin schon: ›Euer Herr wird vom Zaren dafür eine Gnade erhalten.‹ Ich muß mich immer wundern: warum machen Sie sich so viel Sorge um die Bauern?«

»Ich mache mir nicht um die Bauern Sorge; ich tue das um meinetwillen.«

Agafja Michailowna wußte mit Ljewins wirtschaftlichen Plänen ganz genau Bescheid; Ljewin hatte ihr seine Absichten oft mit allen Einzelheiten auseinandergesetzt und nicht selten mit ihr gestritten und sich ihren Anschauungen nicht anschließen können. Aber jetzt hatte sie das, was er sagte, völlig mißverstanden.

»Ja, das ist gewiß, an sein Seelenheil muß man vor allen Dingen denken«, sagte sie mit einem Seufzer. »Da ist zum Beispiel Parfen Denisütsch; wenn er auch nicht lesen und schreiben konnte, aber er ist doch so gestorben, daß man nur Gott bitten möchte, jedem einen solchen Tod zu geben«, sagte sie; es war dies ein unlängst verstorbener Hofknecht. »Er hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten.«

»Davon rede ich nicht«, antwortete er. »Ich wollte sagen, daß ich um meines eigenen Vorteils willen so handle. Es ist für mich vorteilhafter, wenn die Bauern besser arbeiten.«

»Da können Sie tun, was Sie wollen: wenn so ein Bauer ein Faulpelz ist, dann wird er sich doch immer ungeschickt anstellen. Wenn einer ein Gewissen hat, wird er arbeiten; und wenn er keins hat, ist nichts dagegen anzufangen.«

»Aber Ihr habt doch selbst gesagt, daß Iwan jetzt besser für das Vieh sorgt?«

»Ich sage nur eins«, erwiderte Agafja Michailowna, und zwar offenbar nicht infolge eines plötzlichen Einfalls, sondern als Ergebnis eines streng logischen Gedankenganges: »Sie müssen heiraten, das ist die ganze Sache!«

Daß Agafja Michailowna ganz denselben Punkt erwähnte, an den er soeben gedacht hatte, ärgerte und verdroß ihn. Er runzelte die Stirn und setzte sich, ohne ihr zu antworten, wieder an seine Arbeit; er wiederholte sich noch einmal im Kopfe alles, was er sich vorhin über die hohe Bedeutsamkeit dieser Arbeit gesagt hatte. Nur zuweilen horchte er in der tiefen Stille auf das Klappern von Agafja Michailownas Stricknadeln, und wenn ihm dann das einfiel, woran er nicht denken wollte, so zog er wieder die Stirn in Falten.

Um neun Uhr wurde Schellengeläut hörbar und das dumpfe Geräusch eines Wagens, der in dem tiefen Schmutze hin und her schwankte.

»Nun, sehen Sie, da bekommen Sie Besuch; nun werden Sie[142] sich nicht mehr langweilen«, sagte Agafja Michailowna, stand auf und ging nach der Tür hin. Aber Ljewin überholte sie. Seine Arbeit wollte ihm jetzt nicht recht von der Hand gehen, und er freute sich über jeden Gast, mochte kommen, wer da wollte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 139-143.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon