29

[368] Bei der Rückkehr nach Rußland hatte Anna namentlich den Zweck im Auge gehabt, ihren Sohn wiederzusehen. Seit dem Tage, wo sie aus Italien abgereist war, hatte der Gedanke an dieses Wiedersehen sie fortwährend in Aufregung erhalten. Und je mehr sie sich Petersburg genähert hatte, um so mehr Freude hatte sie von diesem Wiedersehen erhofft, um so größere Bedeutung ihm beigelegt. Wie dieses Wiedersehen bewerkstelligt werden könne, diese Frage hatte sie sich nicht vorgelegt. Es war ihr als eine ganz natürliche, einfache Sache erschienen, daß sie ihren Sohn wiedersehen werde, sobald sie sich mit ihm in ein und derselben Stadt befinde; aber nach der Ankunft in Petersburg kam ihr auf einmal ihre jetzige Stellung in der Gesellschaft deutlich zum Bewußtsein, und sie sah ein, daß[368] es seine Schwierigkeiten haben werde, ein Wiedersehen zu ermöglichen.

Nun war sie schon zwei Tage in Petersburg. Der Gedanke an ihren Sohn verließ sie keinen Augenblick; aber noch hatte sie ihn nicht gesehen. So einfach nach dem Hause hinzufahren, wo sie mit Alexei Alexandrowitsch zusammentreffen konnte, dazu hatte sie nach ihrem Gefühl kein Recht. Sie hätte sich der Möglichkeit ausgesetzt, nicht eingelassen und beleidigt zu werden. An ihren Mann zu schreiben und so wieder mit ihm in Beziehung zu treten – schon der bloße Gedanke war ihr eine Pein; ruhig konnte sie nur dann sein, wenn sie an ihren Mann gar nicht dachte. Ihren Sohn bei seinem Spaziergange wiederzusehen, nachdem sie vorher erfahren hätte, wohin und wann er ausgehen würde, das genügte ihr nicht; sie hatte sich so viel für dieses Wiedersehen vorgenommen, sie hatte ihm so viel zu sagen, sie sehnte sich so sehr danach, ihn zu umarmen und zu küssen. Sergeis alte Kinderfrau hätte ihr helfen und Rat geben können; aber diese war nicht mehr in Alexei Alexandrowitschs Hause. Über diesem Hin- und Herschwanken und den Nachforschungen nach dem Verbleib der Kinderfrau waren zwei Tage vergangen.

Da Anna von Alexei Alexandrowitschs nahen Beziehungen zu der Gräfin Lydia Iwanowna gehört hatte, entschloß sie sich am dritten Tage, obwohl es sie große Überwindung kostete, ihr jenen Brief zu schreiben, in dem sie absichtlich sagte, die Erlaubnis, ihren Sohn wiederzusehen, werde von der Großmut ihres Mannes abhängen müssen. Sie wußte, daß ihr Mann, wenn ihm der Brief gezeigt würde, die Rolle des Großmütigen weiter durchführen und ihr keine abschlägige Antwort erteilen werde.

Der Hoteldiener, der den Brief hingetragen hatte, brachte ihr die grausamste und von ihr am wenigsten erwartete Antwort zurück, nämlich, daß keine Antwort erfolge. Noch nie hatte sie sich so gedemütigt gefühlt wie in dem Augenblick, als sie den Hoteldiener hatte zu sich ins Zimmer kommen lassen und nun dessen eingehenden Bericht anhörte, wie er eine Weile habe warten müssen und ihm dann bestellt worden sei: »Eine Antwort erfolgt nicht.« Anna fühlte sich gedemütigt und beleidigt; aber sie sah ein, daß die Gräfin Lydia Iwanowna von ihrem Standpunkt aus recht habe. Ihr Schmerz war um so größer, da sie ihn allein für sich trug. Sie konnte und wollte ihn nicht mit Wronski teilen. Sie wußte, daß, obwohl er die Hauptursache ihres Unglücks war, ihm die Frage des Wiedersehens mit ihrem Sohne als recht geringfügig erschien. Sie wußte, daß er niemals imstande sein werde, die ganze Tiefe ihres Leidens zu verstehen;[369] sie wußte, daß sie ihn wegen des kalten Tones, dessen er sich beim Gespräche über diesen Gegenstand bedienen würde, hassen müßte. Und das fürchtete sie mehr als alles auf der Welt, und darum verbarg sie vor ihm alles, was ihren Sohn betraf.

Sie blieb den ganzen Tag zu Hause und sann über ein Mittel nach, wie sie ihren Sohn wiedersehen könne; zuletzt blieb sie bei dem Entschlusse stehen, an ihren Mann zu schreiben. Sie hatte diesen Brief bereits abgefaßt, als ihr Lydia Iwanownas Antwort überbracht wurde. Das Schweigen der Gräfin hatte sie gedemütigt und niedergedrückt; aber dieser Brief und alles, was sie zwischen seinen Zeilen las, versetzte sie in solche Empörung und diese Bosheit gegenüber ihrer leidenschaftlichen, berechtigten Liebe zu ihrem Sohne erschien ihr so abscheulich, daß ihr Ingrimm sich gegen die anderen Menschen aufbäumte und sie aufhörte, sich selbst anzuklagen.

›Diese eisige Kälte! Und dabei diese Gefühlsheuchelei!‹ sagte sie zu sich selbst. ›Sie wollen weiter nichts als mich beleidigen und das Kind quälen. Und ich sollte mich ihnen fügen? Nimmermehr! Dieses Weib ist schlechter als ich. Ich lüge wenigstens nicht.‹ Und auf der Stelle faßte sie den Entschluß, gleich morgen, an Sergeis Geburtstage, geradeswegs nach dem Hause ihres Mannes zu fahren, die Dienerschaft zu bestechen oder zu täuschen, aber unter allen Umständen ihren Sohn wiederzusehen und dieses abscheuliche Lügengewebe, mit dem sie das unglückliche Kind umgeben hatten, zu zerreißen.

Sie fuhr nach einem Spielwarengeschäft, kaufte Spielzeug und legte sich einen Plan zurecht. Sie wollte frühmorgens, um acht Uhr, wo Alexei Alexandrowitsch sicherlich noch nicht aufgestanden war, hinkommen, schon mit dem Gelde in der Hand, das sie dem Pförtner und dem Diener geben wollte, damit sie sie hineinließen, und wollte, ohne den Schleier in die Höhe zu nehmen, sagen, sie komme von dem Paten Sergeis, um ihm zu gratulieren, und es sei ihr aufgetragen, die Spielsachen neben das Bett des Knaben zu legen. Nur was sie ihrem Sohn sagen wollte, hatte sie sich nicht zurechtgelegt; soviel sie auch darüber nachdachte, so konnte sie doch nichts aussinnen.

Am andern Morgen fuhr Anna allein in einer Droschke hin; um acht Uhr war sie am Haupteingang ihres früheren Hauses, stieg aus und klingelte.

»Geh mal hin und sieh, wer da ist. Eine fremde Dame«, sagte Kapitonütsch, der, noch nicht angekleidet, im Überzieher und in Gummischuhen, durch das Fenster eine verschleierte Dame gesehen hatte, die dicht an der Tür stand. Der Gehilfe des Pförtners, ein junger Mensch, den Anna nicht kannte, hatte ihr kaum[370] die Tür geöffnet, als sie auch schon eintrat, schnell einen Dreirubelschein aus dem Muff zog und ihm in die Hand schob.

»Zu Sergei ... zu Sergei Alexejewitsch ...«, sagte sie undeutlich und ging weiter vorwärts. Der Gehilfe des Pförtners betrachtete die Banknote, hielt aber Anna bei der zweiten Tür, der Glastür, an.

»Zu wem wollen Sie?« fragte er.

Sie hatte seine Frage gar nicht verstanden und gab keine Antwort.

Kapitonütsch, der die Verlegenheit der Unbekannten bemerkt hatte, kam nun selbst zu ihr heraus, ließ sie durch die Tür hindurch und fragte, was sie wünsche.

»Ich habe vom Fürsten Skorodumow etwas an Sergei Alexejewitsch auszurichten«, erwiderte sie leise.

»Der junge Herr ist noch nicht aufgestanden«, versetzte der Pförtner und blickte sie forschend an.

Anna hatte in keiner Weise erwartet, daß die ganz unverändert gebliebene Einrichtung der Vorhalle dieses Hauses, in dem sie neun Jahre gewohnt hatte, ihr einen so tiefen Eindruck machen werde. Erinnerungen teils freudigen, teils schmerzlichen Charakters wurden eine nach der andern in ihrer Seele rege, und sie vergaß für einen Augenblick ganz, zu welchem Zweck sie da war.

»Möchten Sie vielleicht einen Augenblick warten?« fragte Kapitonütsch, indem er ihr den Pelz abnahm. Hierauf sah er ihr ins Gesicht, erkannte sie und machte ihr schweigend eine tiefe Verbeugung.

»Bitte gehorsamst, Euer Exzellenz«, sagte er.

Sie wollte etwas sagen; aber ihre Stimme weigerte sich, irgendeinen Laut hervorzubringen; sie warf dem alten Manne einen flehenden, schuldbewußten Blick zu und ging dann mit schnellen, leichten Schritten die Treppe hinauf. Ganz vornübergebeugt, mit den Gummischuhen an den Stufen anstoßend, lief Kapitonütsch hinter ihr her, bemüht, ihr zuvorzukommen.

»Der Hofmeister ist bei ihm und ist vielleicht noch nicht angekleidet. Ich werde anmelden.«

Anna eilte die ihr so wohlbekannte Treppe weiter hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte sagte.

»Hierher, bitte gehorsamst, nach links. Verzeihen Sie, daß noch nicht rein gemacht ist. Der junge Herr wohnt jetzt in dem früheren Sofazimmer«, sagte der Pförtner, der ganz außer Atem war. »Belieben Euer Exzellenz einen Augenblick zu verziehen; ich werde nachsehen«, fuhr er fort, öffnete, an ihr vorbeieilend, eine hohe Tür und verschwand dahinter. Anna blieb stehen und[371] wartete. »Der junge Herr ist eben aufgewacht«, sagte der Pförtner, der wieder aus der Tür herauskam.

Und in dem Augenblicke, wo der Pförtner das sagte, hörte Anna den Ton eines kindlichen Gähnens. An dem bloßen Klange dieses Gähnens erkannte sie ihren Sohn und glaubte, ihn leibhaftig vor sich zu sehen.

»Laß mich, laß mich, geh nur!« sagte sie und schritt durch die hohe Tür. Rechts von der Tür stand das Bett, und auf dem Bette saß, halb aufgerichtet, der Knabe, im bloßen, aufgeknöpften Hemd; sein Körperchen krümmend und streckend, brachte er gerade sein Gähnen zum Abschluß. In dem Augenblick, wo seine Lippen sich wieder zusammenschlossen, bildete sich auf ihnen ein seliges, schläfriges Lächeln, und mit diesem Lächeln sank er wieder langsam und wonnig auf das Kissen zurück.

»Sergei!« flüsterte sie, indem sie unhörbar an sein Bett herantrat.

Während sie von ihm getrennt gewesen war und namentlich in der letzten Zeit, wo die Sehnsucht nach ihm so mächtig in ihr geworden war, hatte sie ihn sich immer als vierjährigen Knaben vorgestellt, da dies das Alter war, in dem sie ihn am allermeisten geliebt hatte. Jetzt aber war er nicht einmal mehr der, der er gewesen war, als sie ihn verließ; er hatte sich noch weiter von dem Bilde des Vierjährigen entfernt, war seit der Trennung noch mehr gewachsen und magerer geworden. Wie er aussah! Wie mager sein Gesicht, wie kurzgeschnitten sein Haar! Wie lang seine Arme! Wie hatte er sich verändert, seit sie ihn verlassen hatte! Aber doch war er es, mit seiner Kopfform, mit seinen Lippen, mit seinem weichen Hälschen und den breitgebauten Schulterchen.

»Sergei!« sagte sie noch einmal dicht über dem Ohr des Kindes.

Er richtete sich wieder auf den einen Ellbogen auf, drehte den zerzausten Kopf nach beiden Seiten, wie wenn er etwas suchte, und öffnete die Augen. Still und fragend blickte er einige Sekunden lang die regungslos vor ihm stehende Mutter an; dann lächelte er auf einmal glückselig und ließ sich, die schlaftrunkenen Augen wieder schließend, hinsinken, aber nicht rückwärts, sondern zu ihr hin, in ihre Arme.

»Sergei! Mein lieber Junge!« flüsterte sie, mühsam atmend, und schlang ihre Arme um seinen weichen Körper.

»Mama!« sagte er leise und bewegte sich unter ihren Händen, um mit recht vielen Teilen seines Körpers ihre Arme zu berühren.

Schlaftrunken lächelnd, immer noch mit geschlossenen Augen, hob er sich mit seinen weichen Händen an der Kopfwand des Bettes in die Höhe, griff dann von da nach den Schultern seiner[372] Mutter, lehnte sich an sie, indem er sie mit jenem angenehmen, warmen Dufte umgab, wie er nur bei schlafenden Kindern vorkommt, und begann sich mit dem Gesichte an ihrem Halse und an ihren Schultern zu reiben.

»Ich habe es gewußt«, sagte er und öffnete die Augen. »Heute ist mein Geburtstag. Ich habe es gewußt, daß du kommen würdest. Nun will ich gleich aufstehen.«

Aber während er das sagte, schlief er wieder ein.

Anna verschlang seine Gestalt mit den Augen; sie sah, wie er in ihrer Abwesenheit gewachsen war und sich verändert hatte. Sie erkannte, und erkannte auch nicht, seine nackten, jetzt so großen Füße, die unter der Bettdecke hervorschauten; sie erkannte diese mager gewordenen Backen, diese abgeschnittenen, kurzen Haarlöckchen im Nacken, auf den sie ihn so oft geküßt hatte. Sie betastete das alles und vermochte nichts zu sagen: die Tränen erstickten sie.

»Worüber weinst du denn, Mama?« fragte er, nun völlig wach geworden. »Mama, worüber weinst du?« rief er mit weinerlicher Stimme.

»Ich will nicht mehr weinen ... Ich weine vor Freude. Ich habe dich so lange nicht gesehen. Ich will nicht mehr weinen, nein, nein«, sagte sie, verschluckte ihre Tränen und wandte sich ab. »Aber nun wird es Zeit, daß du dich anziehst«, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu, als sie sich wieder gefaßt hatte, und setzte sich, ohne seine Hand loszulassen, neben seinem Bett auf den Stuhl, auf dem seine Kleider lagen.

»Wie machst du es nur, dich ohne mich anzuziehen? Wie ...« Sie wollte in unbefangenem, munterem Tone reden, aber sie brachte es nicht fertig und wandte sich wieder weg.

»Ich wasche mich nicht mehr mit kaltem Wasser; Papa hat es verboten. Aber hast du Wasili Lukitsch noch nicht gesehen? Er wird gleich kommen. Aber du hast dich ja auf meine Kleider gesetzt!«

Sergei lachte laut auf. Sie sah ihn an und lächelte.

»Mama, liebe, einzige Mama!« rief er, warf sich von neuem gegen sie und umarmte sie, als wenn er erst jetzt beim Anblick ihres Lächelns klar begriffen hätte, was geschehen war. »Den brauchst du hier doch nicht«, sagte sie, indem er ihr den Hut abnahm. Und als ob er sie nun, wo sie keinen Hut aufhatte, eben erst erblickte, begann er wieder, sie stürmisch zu küssen.

»Aber was hast du denn über mich gedacht? Du hast doch nicht gedacht, daß ich gestorben wäre?«

»Nein, das habe ich nicht gedacht.«

»Das hast du nicht geglaubt, mein Junge?«[373]

»Ich habe es gewußt, ich habe es gewußt!« wiederholte er seinen Lieblingsausdruck. Er fing ihre Hand, die sein Haar streichelte, drückte deren Innenseite gegen seinen Mund und küßte und küßte sie.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 368-374.
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