[381] Als Wronski ins Hotel zurückkehrte, war Anna noch nicht dort. Es wurde ihm gesagt, bald nachdem er das Hotel verlassen habe, sei eine Dame gekommen, und Anna sei mit ihr zusammen weggefahren. Daß sie weggefahren war, ohne ihm gesagt zu haben, wohin, und daß sie bis jetzt noch nicht wieder zurückgekehrt war, und daß sie am Morgen irgendwohin gefahren war, ohne ihm ein Wort davon zu sagen, dazu noch ihre seltsam aufgeregte Miene am Vormittag und der, wie er sich[381] erinnerte, geradezu feindselige Ton, mit dem sie ihm in Jaschwins Gegenwart die Photographien ihres Sohnes aus den Händen gerissen hatte, alles dies machte ihn nachdenklich. Er fand, daß es notwendig sei, sich darüber mit ihr auszusprechen, und wartete auf sie im Wohnzimmer. Aber Anna kehrte nicht allein zurück, sondern brachte ihre Tante, ein altes Fräulein, mit, die Prinzessin Oblonskaja. Das war eben die Dame, die am Vormittag zu Anna gekommen war und mit der sie dann ausgefahren war, um Einkäufe zu machen. Anna schien Wronskis sorgenvolle, fragende Miene nicht zu bemerken und erzählte ihm in munterem Tone, was sie heute vormittag alles eingekauft habe. Er sah, daß in ihr etwas Besonderes vorging: in ihren glänzenden Augen lag, wenn sie einen Augenblick auf ihm hafteten, eine gespannte Aufmerksamkeit und in ihren Reden und Bewegungen jene nervöse Raschheit und Anmut, die ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt hatte, jetzt aber beunruhigte und erschreckte.
Zum Mittagessen war für vier Personen gedeckt. Alle waren bereits versammelt, um in das kleine Speisezimmer zu gehen, als Tuschkewitsch mit einem Auftrag von der Fürstin Betsy an Anna erschien. Die Fürstin Betsy ließ um Entschuldigung bitten, daß sie nicht gekommen sei, um ihr Lebewohl zu sagen; ihr sei nicht wohl, sie bitte aber Anna, zwischen halb sieben und neun Uhr zu ihr zu kommen. Wronski blickte Anna an; aus dieser Zeitbestimmung ging hervor, daß Maßregeln getroffen waren, damit sie mit niemandem dort zusammenträfe; aber Anna schien dies nicht zu bemerken.
»Es tut mir außerordentlich leid, daß ich gerade zwischen halb sieben und neun nicht kommen kann«, erwiderte sie mit ganz leisem Lächeln.
»Das wird die Fürstin sehr bedauern.«
»Ich bedauere es gleichfalls sehr.«
»Sie wollen gewiß die Patti hören?« fragte Tuschkewitsch.
»Die Patti? Da bringen Sie mich auf einen guten Gedanken. Wenn es möglich wäre, eine Loge zu bekommen, würde ich hinfahren.«
»Eine Loge könnte ich Ihnen verschaffen«, versetzte Tuschkewitsch diensteifrig.
»Ich würde Ihnen sehr, sehr dankbar sein«, erwiderte Anna. »Aber mögen Sie nicht mit uns speisen?«
Wronski zuckte ein ganz klein wenig mit den Achseln. Er konnte Annas Handlungsweise ganz und gar nicht begreifen. Wozu hatte sie diese alte Prinzessin mitgebracht, wozu lud sie Tuschkewitsch ein, zum Essen dazubleiben, und, was das Allererstaunlichste[382] war, wozu beauftragte sie ihn, ihr eine Loge zu besorgen? Konnte sie denn überhaupt daran denken, in ihrer Lage eine Abonnementsvorstellung zu besuchen, in der die Patti sang und bei der also Annas sämtliche Bekannte aus der höheren Gesellschaft anwesend waren? Er sah sie mit ernster Miene an; aber sie antwortete darauf mit einem herausfordernden, halb fröhlichen, halb verzweifelten Blick, dessen Bedeutung er nicht enträtseln konnte. Bei Tisch war Anna von einer kecken Lustigkeit; es machte den Eindruck, als kokettiere sie sowohl mit Tuschkewitsch wie mit Jaschwin. Als sie von Tisch aufgestanden waren und Tuschkewitsch weggefahren war, um die Loge zu besorgen, ging Wronski mit Jaschwin, der gern rauchen wollte, in sein Zimmer hinunter. Nachdem er dort ein Weilchen mit ihm gesessen hatte, eilte er wieder hinauf. Anna hatte sich bereits umgekleidet und trug nun ein tief ausgeschnittenes helles seidenes Kleid mit Samtbesatz, das sie sich in Paris hatte machen lassen, und auf dem Kopfe kostbare weiße Spitzen, die ihr Gesicht umrahmten und ihre blendende Schönheit besonders vorteilhaft hervorhoben.
»Wollen Sie wirklich ins Theater fahren?« fragte er und bemühte sich dabei, sie nicht anzusehen.
»Warum fragen Sie denn danach in so ängstlichem Tone?« erwiderte sie, von neuem dadurch verletzt, daß er sie nicht ansah. »Warum sollte ich nicht hinfahren?«
Sie gab sich den Anschein, als verstehe sie die Bedeutung seiner Frage nicht.
»Selbstverständlich liegt gar kein Grund dagegen vor«, versetzte er mit gerunzelter Stirn.
»Ganz meine Ansicht«, erwiderte sie, indem sie seinen ironischen Ton absichtlich überhörte und ruhig den langen, parfümierten Handschuh auf den Arm streifte.
»Anna, um Gottes willen! Was ist mit Ihnen?« sagte er, um sie zur Besinnung zu bringen, genauso, wie einstmals ihr Mann zu ihr gesprochen hatte.
»Ich verstehe nicht, warum Sie danach fragen.«
»Sie wissen, daß Sie da nicht hinfahren können.«
»Warum sollte ich das nicht können? Ich fahre nicht allein. Die Prinzessin Warwara ist nur weggefahren, um sich umzuziehen; sie fährt mit mir.«
Er zuckte die Achseln mit einer Miene des Staunens und der Verzweiflung.
»Aber wissen Sie denn nicht ...«, begann er.
»Ich will es nicht wissen!« unterbrach sie ihn, beinahe schreiend. »Ich will nicht! Bereue ich denn, was ich getan habe?[383] Nein, nein und nochmals nein! Und wenn ich noch einmal am Anfang stände, so würde doch alles denselben Verlauf nehmen Für uns, für mich und für Sie, ist nur eines wichtig: ob wir einander lieben. Weiter kommt nichts in Betracht. Warum wohnen wir hier getrennt und sehen einander nicht? Warum soll ich nicht in die Oper fahren? Ich liebe dich, und alles übrige ist mir gleichgültig«, sprach sie russisch weiter und blickte ihn mit einem eigentümlichen, ihm rätselhaften Glanze in den Augen an, »wenn du dich nicht verändert hast. Warum siehst du mich denn nicht an?«
Er blickte sie an. Er sah die ganze Schönheit ihres Gesichts und ihrer Gesellschaftstoilette, die ihr stets so vorzüglich stand. Aber jetzt war es gerade ihre Schönheit und Eleganz, was ihn in gereizte Stimmung versetzte.
»Mein Gefühl kann sich nicht ändern, das wissen Sie; aber ich bitte, ich beschwöre Sie, nicht in die Oper zu fahren«, sagte er, beim Französischen verbleibend; seine Stimme klang zärtlich und flehend, aber sein Blick war kalt.
Seine Worte hörte sie nicht; aber sie sah die Kälte seines Blickes und antwortete gereizt:
»Und ich bitte Sie, mir zu erklären, warum ich nicht hinfahren soll.«
»Sie setzen sich der Gefahr aus, daß ...« Er zauderte, weiterzusprechen.
»Ich verstehe nicht, was Sie eigentlich meinen. Jaschwin n'est pas compromettant1, und die Prinzessin Warwara ist in keiner Hinsicht schlechter als andere Frauen. Und da ist sie auch schon.«
1 (frz.) Mit Jaschwin kompromittiert man sich nicht.
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro