12

[54] Ljewin erwachte, als es kaum dämmerte, und versuchte, seine Gefährten aufzuwecken. Wasenka lag auf dem Bauche, das eine noch mit dem Strumpfe bekleidete Bein lang ausgestreckt, und schlief so fest, daß von ihm keine Antwort zu erlangen war. Oblonski weigerte sich schlaftrunken, so früh aufzubrechen. Selbst Laska, die ringförmig zusammengerollt am Rande des hingeschütteten Heues geschlafen hatte, stand nur ungern auf und reckte und dehnte träge ihre Hinterbeine eines nach dem andern. Nachdem Ljewin Strümpfe und Stiefel angezogen, seine Flinte genommen und behutsam das knarrende Scheunentor geöffnet hatte, trat er auf die Straße hinaus. Die Kutscher schliefen bei den Wagen, die Pferde standen im Halbschlummer da. Nur eines von ihnen fraß träge seinen Hafer, den es mit der Schnauze in der Stehkrippe hin und her warf. Es sah draußen noch alles grau aus.

»Warum bist du denn schon so früh aufgestanden, lieber Herr?« fragte ihn freundlich wie einen guten alten Bekannten die nicht mehr jugendliche Hausfrau, die soeben aus dem Hause heraustrat.

»Ich will auf die Jagd, Tantchen. Komme ich hier nach dem Sumpfe?«[54]

»Gerade durch den Hinterhof, an unseren Tennen vorbei, lieber Herr, und durch die Hanffelder; es ist ein Fußweg da.«

Vorsichtig mit den nackten, von der Sonne gebräunten Füßen auftretend, führte die Bauersfrau Ljewin und öffnete ihm die Umzäunung bei der Tenne.

»Immer geradeaus, dann kommst du nach dem Sumpfe. Unsere Leute haben gestern abend die Pferde dahin getrieben.«

Laska lief vergnügt auf dem Fußpfade voran; Ljewin folgte ihr raschen, leichten Schrittes und blickte fortwährend nach dem Himmel. Es wäre ihm lieb gewesen, wenn die Sonne nicht früher aufgegangen wäre, als bis er den Sumpf erreicht hätte. Aber die Sonne sputete sich. Der Mond, der noch hell geleuchtet hatte, als Ljewin sein Nachtlager verließ, schimmerte jetzt nur wie eine Quecksilbermasse; die Morgenröte, die vorher unwillkürlich die Blicke auf sich gezogen hatte, mußte man jetzt ordentlich suchen; einige vorher undeutliche Flecke auf dem fernen Felde waren jetzt klar sichtbar. Es waren Roggenschober. Der ohne das Sonnenlicht noch unsichtbare Tau in dem duftenden, hohen Hanffelde, aus dem die männlichen Hanfpflanzen bereits ausgezogen waren, benetzte Ljewins Beine und die Hemdbluse bis über den Gürtel hinauf. In der klaren, stillen Morgenluft war das leiseste Geräusch vernehmbar. Eine Biene flog mit dem pfeifenden Tone einer Flintenkugel an Ljewins Ohr vorbei. Er blickte aufmerksam hin und sah noch eine zweite und eine dritte. Sie kamen alle hinter dem geflochtenen Zaune eines Bienengartens hervorgeflogen und verschwanden über dem Hanffelde in der Richtung nach dem Sumpfe. Der Fußweg führte gerade darauf zu. Die Lage des Sumpfes konnte man an den Dünsten erkennen, die sich an manchen Stellen dichter, an anderen spärlicher aus ihm erhoben, so daß die Riedgrasdickichte und die Weidenbüsche wie kleine Inseln über diesem Dunste hin und her schwankten. Am Rande des Sumpfes und des Weges lagen Bauern und Bauernjungen, die dort Nachtwache gehalten hatten, und schliefen jetzt gegen Morgen alle, mit ihren Röcken zugedeckt. Nicht weit von ihnen gingen drei gefesselte Pferde umher; das eine klirrte mit seinen Fußfesseln. Laska ging neben ihrem Herrn, strebte aber immer voran und sah sich häufig nach ihm um. Als Ljewin an den schlafenden Bauern vorbeigekommen war und die erste sumpfige Stelle erreicht hatte, untersuchte er die Zündstifte und ließ den Hund los. Eines der Pferde, ein wohlgenährter, dreijähriger Brauner, nahm beim Anblick des Hundes Reißaus, hob den Schwanz in die Höhe und schnaubte. Auch die andern Pferde erschraken, schlurften mit den gefesselten Beinen durch das Wasser, wobei sie einen dem Händeklatschen ähnlichen Laut[55] hervorbrachten, wenn sie die Hufe aus dem dicken Schlamm herauszogen, und stiegen aus dem Sumpfe heraus. Laska blieb stehen und warf den Pferden einen spöttischen, ihrem Herrn einen fragenden Blick zu. Ljewin streichelte das Tier und pfiff ein paar Töne, zum Zeichen, daß die Sache nun anfangen könne.

Fröhlich, aber auch mit vorsichtiger Besorgnis, lief Laska über die Moordecke hin, die sich unter ihr bog.

Als Laska in den Sumpf hineingelaufen war, nahm sie sofort unter den ihr wohlbekannten Gerüchen des Wurzelwerks, der Sumpfpflanzen, des Morastes und dem ihr in dieser Umgebung fremden Gerüche des Pferdemistes den über dieses ganze Gebiet verbreiteten Geruch eines Vogels wahr, und zwar eben jenes stark riechenden Vogels, der sie mehr als alle anderen Vögel in Aufregung zu versetzen pflegte. Hier und da im Moose und im Sumpfklee war dieser Geruch sehr stark; aber es ließ sich nicht erkennen, nach welcher Seite hin er stärker oder schwächer wurde. Um die Richtung zu finden, hielt Laska für nötig, weiter weg unter den Wind zu gehen. Ohne sich der Bewegung ihrer Beine bewußt zu sein, jagte sie in scharfem Galopp, aber doch so, daß sie bei jedem Sprung nötigenfalls stehenbleiben konnte, nach rechts, den von Osten wehenden leisen Morgenwind im Rücken, und wandte sich dann gegen den Wind. Sobald sie nun, die Nasenlöcher erweiternd, die Luft einzog, merkte sie sofort, daß nicht nur die Spur der Vögel, sondern die Vögel selbst da waren, vor ihr, nicht etwa nur einer, sondern viele. Laska verringerte die Schnelligkeit ihres Laufes. Sie waren da, aber an welcher Stelle genauer, das konnte sie noch nicht bestimmen. Um die Stelle selbst zu finden, begann sie schon einen Kreis zu beschreiben, als plötzlich die Stimme ihres Herrn sie davon zurückhielt. »Laska! Da!« rief er ihr zu und zeigte nach einer andern Seite. Sie blieb einen Augenblick stehen und schien ihn zu fragen, ob es nicht doch besser sei, so fortzufahren, wie sie angefangen hatte. Aber er wiederholte den Befehl in ärgerlichem Tone und deutete auf eine von kleinen Erdhöckern durchsetzte Lache, wo doch nichts sein konnte. Laska gehorchte, stellte sich, um ihm den Gefallen zu tun, als suche sie, und durchstöberte die Erdhöcker, dann kehrte sie zu ihrer früheren Stelle zurück und witterte sofort wieder die Vögel. Jetzt, wo er ihr nicht mehr in die Quere kam, wußte sie, was sie zu tun habe, und indem sie nicht unter ihre Füße sah und deshalb oft über hohe Höcker stolperte und ins Wasser fiel, stets aber mit ihren geschmeidigen starken Beinen bald wieder zurechtkam, begann sie einen Kreis zu beschreiben, der ihr die ganze Sachlage zur Klarheit bringen mußte. Der Geruch der Vögel traf immer stärker und stärker,[56] immer deutlicher und deutlicher ihre Nase, und auf einmal wurde es ihr völlig klar, daß einer dieser Vögel sich hier, hinter diesem Höcker, fünf Schritt vor ihr, befand; sie blieb stehen, und ihr ganzer Körper verharrte regungslos. Auf ihren niedrigen Beinen vermochte sie nichts vor sich zu sehen, aber sie wußte durch den Geruch, daß der Vogel nicht weiter als fünf Schritte von ihr entfernt saß. Sie stand und stand, spürte den Vogel mehr und mehr und genoß den Zustand der Erwartung. Die steife Rute war lang ausgestreckt und zitterte nur mit dem äußersten Ende. Das Maul hielt sie ein wenig geöffnet, die Ohren aufgerichtet. Das eine Ohr hatte sich beim Laufen umgeklappt, und sie atmete keuchend, aber vorsichtig und sah sich noch vorsichtiger, mehr mit den Augen als mit dem Kopfe, nach ihrem Herrn um. Dieser kam mit seiner gewöhnlichen, ihr vertrauten Miene, aber mit einem ihr immer furchtbar erscheinenden Ausdruck der Augen, über die Erdhöcker strauchelnd, heran, wie es ihr schien, überaus langsam. Aber es schien ihr nur so, daß er langsam ging; in Wirklichkeit lief er.

Als Ljewin jene besondere Art zu suchen bei Laska bemerkt hatte, wobei sie sich ganz an die Erde drückte und mit den Hinterfüßen große, den Bewegungen beim Rudern ähnliche Schritte machte und das Maul ein wenig öffnete, da war es ihm nicht zweifelhaft, daß sie Schnepfen witterte, und im stillen zu Gott betend, daß die Jagd gut vonstatten gehen möge, namentlich gleich beim ersten Vogel, lief er zu ihr. Als er dicht bei ihr war, sah er von seiner Höhe herab vor sich hin und erblickte mit den Augen, was sie mit der Nase wahrgenommen hatte. In einer kleinen Gasse zwischen zwei Erdhöckern, in einer Entfernung von drei bis vier Schritten, saß eine Schnepfe. Sie hatte den Kopf umgedreht und lauschte. Dann streckte sie die Flügel ein ganz klein wenig aus, legte sie aber sofort wieder zusammen und verschwand, ungeschickt mit dem Steiße wackelnd, hinter einer Ecke.

»Faß! Faß!« rief Ljewin und stieß Laska gegen das Hinterteil.

›Aber ich kann doch nicht hingehen‹, dachte Laska. ›Wohin soll ich denn laufen? Von hier aus wittere ich die Schnepfen; aber wenn ich mich vorwärts bewege, so weiß ich nicht mehr, wo sie sind.‹ Aber da stieß Ljewin sie mit dem Knie an und flüsterte ihr in großer Aufregung zu: »Faß, brave Laska, faß!«

›Na, wenn er es denn durchaus will, dann werde ich es tun; aber daß ich etwas erreiche, kann ich nicht versichern‹, dachte sie und rannte, so schnell sie nur konnte, vorwärts zwischen die Erdhöcker hinein. Jetzt witterte sie nichts mehr; sie sah und hörte nur, konnte aber nichts erkennen.

Etwa zehn Schritte von dem ursprünglichen Platze erhob sich[57] die Schnepfe mit kräftigem Murksen und mit dem diesen Vögeln eigenen weich, klingenden Flügelschlage. Und gleich nach dem Schusse klatschte sie schwer mit der weißen Brust auf den nassen Moorgrund hinab. Eine zweite Schnepfe flog hinter Ljewin auf, ohne zu warten, bis der Hund sie auftrieb.

Als Ljewin sich nach ihr umwandte, war sie schon weit weg. Aber der Schuß erreichte sie doch noch. Sie flog noch etwa zwanzig Schritte weiter, hob sich dann senkrecht in die Höhe und fiel kopfüber wie ein hochgeschleuderter Ball schwer auf eine trockene Stelle nieder.

›Auf die Art wird es sich schon machen!‹ dachte Ljewin, während er die warmen, fetten Schnepfen in die Jagdtasche steckte. »Na, meine brave Laska, wird es sich machen?«

Als Ljewin seine Flinte wieder geladen hatte und weiterging, war die Sonne, obgleich sie hinter den Wolken noch nicht sichtbar war, doch bereits aufgegangen. Der Mond, der all seinen Glanz verloren hatte, stand wie ein weißes Wölkchen am Himmel; von den Sternen war auch nicht einer mehr zu sehen. Die mit Moos bedeckten Teile des Sumpfes, die vorher vom Tau wie Silber geschimmert hatten, glänzten jetzt wie Gold. Das Moorwasser hatte ganz die Farbe des Bernsteins angenommen. Der bläuliche Farbenton der Sumpfgräser war in ein gelbliches Grün übergegangen. Kleine Sumpfvögel regten sich auf den Sträuchern am Bache, die von Tau glänzten und langen Schatten warfen. Auch ein Habicht war schon wach, saß auf einem Getreideschober, drehte den Kopf von einer Seite nach der anderen und blickte mißvergnügt nach dem Sumpfe hin. Die Dohlen flogen nach dem Felde, und ein barfüßiger Junge trieb schon ein paar Pferde zu einem alten Bauern, der sich unter seinem Rocke aufgerichtet hatte und sich kratzte. Der Pulverdampf von den Schüssen lagerte sich milchweiß über dem grünen Grase.

Einer von den Jungen kam zu Ljewin herangelaufen.

»Onkelchen, gestern waren hier auch Enten!« rief er ihm zu und ging dann in einiger Entfernung hinter ihm her.

Und für Ljewin war es doppelt vergnüglich, vor den Augen dieses Jungen, der seinen Beifall zum Ausdruck brachte, in derselben Gegend kurz hintereinander noch drei Bekassinen zu erlegen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 54-58.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Lysistrate. (Lysistrata)

Lysistrate. (Lysistrata)

Nach zwanzig Jahren Krieg mit Sparta treten die Athenerinnen unter Frührung Lysistrates in den sexuellen Generalstreik, um ihre kriegswütigen Männer endlich zur Räson bringen. Als Lampito die Damen von Sparta zu ebensolcher Verweigerung bringen kann, geht der Plan schließlich auf.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon