[88] »Nun, Prinzessin, da bringe ich Ihnen auch Dolly, mit der Sie so gern zu reden wünschten«, sagte Anna, als sie mit Darja Alexandrowna auf die große steinerne Terrasse hinaustrat, wo die Prinzessin Warwara im Schatten an einem Stickrahmen saß und an einem Sesselbezug für den Grafen Alexei Kirillowitsch arbeitete. »Sie sagt, sie wolle vor dem Mittagessen nichts genießen; aber lassen Sie nur doch etwas zum Frühstück herbringen, und ich werde unterdessen Alexei suchen und sie alle herholen.«
Die Prinzessin Warwara empfing Dolly freundlich und etwas gönnerhaft und begann ihr sofort auseinanderzusetzen, sie habe sich bei Anna deshalb zu längerem Aufenthalte niedergelassen, weil sie immer eine größere Zuneigung zu ihr gehabt habe als ihre Schwester Katerina Pawlowna (eben die, bei der Anna erzogen worden war); und jetzt, wo sich alle von Anna losgesagt hätten, halte sie es für ihre Pflicht, ihr in dieser besonders schweren Zeit des Überganges behilflich zu sein.
»Sobald ihr Mann in die Scheidung willigt, kehre ich wieder in meine Einsamkeit zurück; aber jetzt kann ich hier nützlich sein und erfülle meine Pflicht, so schwer es mir auch wird; ich mache es eben nicht wie andere Leute. Und wie lieb von dir, daß du hergekommen bist; daran hast du wirklich ein gutes Werk getan! Sie leben völlig wie die besten Ehegatten; Gott wird sie beide richten, uns steht das nicht zu. Und war es etwa nicht dieselbe Sache bei Birjusowski mit Frau Awenjewa ... und auch bei Nikandrow und Frau Mamonowa, und bei Wasiljew und Lisa Neptunowa? Und da hat doch niemand darüber geredet; und das Ende war schließlich, daß sie überall wieder empfangen wurden. Und dann, c'est un intérieur si joli, si comme il faut. Tout à fait à l'anglaise. On se réunit le matin au breakfast et puis on se sépare.1 Jeder tut bis zum Abendessen, was er will. Abendessen um sieben Uhr. Stiwa hat sehr recht daran getan, daß er dich hergeschickt hat. Er muß zu ihnen halten. Du weißt doch, daß Wronski durch seine Mutter und seinen Bruder alles erreichen kann. Und dann tun sie auch sehr viel Gutes. Hat er dir von seinem Krankenhause erzählt? Ça sera admirable2 ... es kommt alles aus Paris.«
Das Gespräch der beiden Damen wurde durch Anna unterbrochen, die die Herren alle zusammen im Billardzimmer gefunden hatte und nun mit ihnen auf die Terrasse zurückkehrte. Bis zum Essen war noch viel Zeit, das Wetter war prachtvoll, und daher wurden mehrere Mittel verschiedener Art in Vorschlag[89] gebracht, um die noch übrigen zwei Stunden auszufüllen. Mittel, die Zeit hinzubringen, gab es in Wosdwischenskoje in großer Menge, und sie waren alle von anderer Art als die in Pokrowskoje üblichen.
»Une partie de lawn-tennis?3« schlug Weslowski mit seinem hübschen Lächeln vor. »Ich spiele wieder mit Ihnen, Anna Arkadjewna.«
»Nein, dazu ist es zu heiß. Wir wollen lieber einen kleinen Spaziergang im Garten machen und dann Kahn fahren; wir müssen doch Darja Alexandrowna unsere Ufer zeigen«, schlug Wronski vor.
»Ich bin mit allem einverstanden«, erklärte Swijaschski.
»Ich denke, es wird Dolly am angenehmsten sein, einen kleinen Spaziergang zu machen, nicht wahr? Und dann können wir ja Kahn fahren«, meinte Anna.
Hierfür entschied man sich. Weslowski und Tuschkewitsch gingen nach dem Badehäuschen und versprachen, dort den Kahn in Bereitschaft zu setzen und auf die übrigen zu warten.
Sie gingen in zwei Paaren auf einem Gartenwege: Anna mit Swijaschski und Dolly mit Wronski. Dolly war etwas verlegen und befangen infolge der ihr völlig neuen Umwelt, in die sie hineingeraten war. Vom Standpunkt allgemeinerer Betrachtung aus entschuldigte sie Annas Handlungsweise nicht nur, sondern billigte sie sogar. Wie das Frauen von tadelloser Sittlichkeit, durch die Einförmigkeit des sittlichen Lebens ermüdet, überhaupt nicht selten tun, hatte sie aus der Entfernung nicht nur nachsichtig über die verbrecherische Liebe geurteilt, sondern sogar einen gewissen Neid empfunden. Außerdem war sie ihrer Schwägerin Anna von ganzem Herzen zugetan. Aber als sie sie nun im wirklichen Leben inmitten dieser ihr fremden Menschen erblickte, die sich eines ihr neuen gesellschaftlichen Tones bedienten, da wurde ihr denn doch unbehaglich zumute. Besonders unangenehm war es ihr, zu sehen, wie die Prinzessin Warwara zum Dank für die wirtschaftlichen Vorteile, die sie genoß, den beiden alles verzieh.
Und wenn Dolly auch im allgemeinen, theoretisch, Annas Handlungsweise billigte, so war es ihr doch unangenehm, den Mann zu sehen, um dessentwillen sie so gehandelt hatte. Außerdem hatte Wronski ihr niemals gefallen. Sie hielt ihn für sehr stolz und sah doch an ihm nichts, worauf er hätte stolz sein dürfen, mit Ausnahme seines Reichtums. Aber gegen ihren Willen machte er Eindruck auf sie, hier bei sich zu Hause, mehr als früher, und sie vermochte in seiner Gesellschaft nicht unbefangen zu sein. Sie hatte vor ihm eine ähnliche Empfindung wie vor der[90] Kammerjungfer wegen der Nachtjacke. Wie sie sich bei der Kammerjungfer wegen der geflickten Nachtjacke zwar nicht eigentlich geschämt, aber doch unbehaglich gefühlt hatte, so bei Wronski wegen ihres eigenen Ich.
Dolly suchte in ihrer Verlegenheit nach einem Gesprächsstoff. Sie glaubte zwar, daß ihm bei seinem Stolz ein Lob seines Hauses und Gartens unangenehm sein werde; aber da sie keinen anderen Gegenstand fand, so sagte sie doch zu ihm, sein Haus habe ihr sehr gefallen.
»Ja, es ist ein sehr schönes Gebäude, und in gutem altem Stil«, antwortete er.
»Besonders hat mir der Hof vor dem Tor gefallen. War der von jeher so?«
»O nein«, erwiderte er, und sein Gesicht leuchtete auf vor Freude. »Wenn Sie diesen Hof in diesem Frühjahr gesehen hätten!«
Und er begann, zuerst mit einer gewissen Zurückhaltung, aber dann immer mehr und mehr von seinem Gegenstand hingerissen, sie auf allerlei Einzelheiten in der Ausschmückung des Hauses und des Gartens aufmerksam zu machen. Es war deutlich, daß Wronski, nachdem er soviel Mühe auf die Verbesserung und Verschönerung seines Landsitzes verwendet hatte, nun auch das Bedürfnis empfand, sich einer neuen Persönlichkeit gegenüber des Erreichten zu rühmen; er freute sich von Herzen über Darja Alexandrownas Lobsprüche.
»Wenn Sie Lust haben, sich das Krankenhaus anzusehen, und nicht zu müde sind – es ist nicht weit. Wollen wir hingehen?« fragte er und blickte ihr ins Gesicht, wie um sich zu überzeugen, daß es ihr auch wirklich nicht zuwider sei.
»Kommst du auch mit, Anna?« wandte er sich an diese.
»Wir wollen auch mitgehen, nicht wahr?« sagte sie zu Swijaschski. »Mais il ne faut pas laisser le pauvre Weslowski et Tuschkewitsch se morfondre là dans le bateau.4 Wir müssen hinschicken und es ihnen sagen lassen. – Ja, das ist ein Denkmal, das er sich hier selbst errichtet«, sagte Anna, zu Dolly gewendet, mit eben jenem listigen, verständnisfrohen Lächeln, mit dem sie schon vorher von dem Krankenhause gesprochen hatte.
»Ja, es ist etwas Großartiges!« sagte Swijaschski. Aber um den Schein zu vermeiden, als wolle er sich bei Wronski einschmeicheln, fügte er sogleich eine Bemerkung hinzu, die einen leisen Tadel enthielt. »Ich wundere mich nur, Graf«, sagte er, »daß Sie, während Sie in gesundheitlicher Hinsicht so viel für das Volk tun, für die Schulen so wenig übrig haben.«
»C'est devenu tellement commun, les écoles«5, erwiderte[91] Wronski. »Sie verstehen: natürlich baue ich das Krankenhaus nicht von diesem Gesichtspunkte aus, sondern einfach, weil ich mich einmal dafür begeistert habe. Also nach dem Krankenhaus müssen wir hier gehen«, wandte er sich an Darja Alexandrowna und wies auf einen von der Allee abzweigenden Seitenweg.
Die Damen öffneten die Sonnenschirme und bogen in den Seitenweg ein. Nachdem sie einigen Windungen des Weges gefolgt und aus einem Pförtchen hinausgetreten waren, erblickte Darja Alexandrowna vor sich auf einer kleinen Anhöhe ein großes rotes, schon fast vollendetes Gebäude von eigentümlicher Form. Das noch nicht angestrichene Blechdach glänzte blendend im hellen Sonnenlichte. Neben dem fast fertigen Gebäude wurde noch ein anderes, gebaut, das noch von Gerüsten umgeben war, und Maurergesellen in Schürzen standen auf den Gerüstbrettern und legten die Ziegelsteine, übergössen das Mauerwerk aus ihren Schöpfeimern mit Kalklösung und brachten es mit dem Richtscheit ins Lot.
»Wie schnell die Arbeit bei Ihnen fortschreitet!« sagte Swijaschski. »Als ich das letztemal hier war, war noch kein Dach darauf.«
»Zum Herbst wird alles fertig sein. Innen ist schon fast alles eingerichtet«, sagte Anna.
»Was wird denn das für ein neues Gebäude?«
»Da kommt die Apotheke und die Wohnung für den Arzt hinein«, antwortete Wronski. Da er sah, daß der Baumeister, in kurzem Überzieher, auf ihn zukam, entschuldigte er sich bei den Damen und ging ihm entgegen.
Er umging die Kalkgrube, aus der die Arbeiter Kalk entnahmen, blieb mit dem Baumeister stehen und sprach eifrig mit ihm.
»Der Giebel sitzt immer noch zu niedrig«, antwortete er auf Annas Frage, worum es sich handle.
»Ich habe gleich gesagt, die Grundmauer müßte höher angelegt werden«, sagte Anna.
»Ja, natürlich, das wäre das beste gewesen, Anna Arkadjewna«, versetzte der Baumeister. »Aber das ist nun einmal unterlassen.«
»Ja, ich beschäftige mich sehr mit diesem Bau«, sagte Anna zu Swijaschski, der sein Erstaunen über ihre Kenntnisse vom Bauwesen ausdrückte. »Das neue Gebäude sollte ja eigentlich in der ganzen Bauart dem Krankenhause entsprechen. Aber der Entschluß, es zu bauen, wurde erst nachträglich gefaßt, und der Bau ist dann ohne rechten Plan begonnen worden.«[92]
Als Wronski sein Gespräch mit dem Baumeister beendet hatte, gesellte er sich wieder zu den Damen und führte sie in das Krankenhaus hinein.
Obwohl außen noch an den Gesimsen gearbeitet wurde und im unteren Stockwerk noch die Maler tätig waren, war im oberen Stockwerk beinahe schon alles in Ordnung gebracht. Sie stiegen eine breite, gußeiserne Treppe hinan, betraten einen Vorplatz und gelangten von dort in das erste große Zimmer. Die Wände waren mit marmorähnlichem Stuck bekleidet, die Fenster, die aus je einer Scheibe von gewaltiger Größe bestanden, schon eingesetzt, nur der Parkettfußboden war noch nicht fertig, und die Tischler, die ein etwas zu hohes Quadrat behobelten, unterbrachen ihre Arbeit, um die Bänder, mit denen sie sich die Haare aufgebunden hatten, abzunehmen und die Herrschaften zu begrüßen.
»Dies ist das Empfangszimmer«, bemerkte Wronski erklärend. »Hier kommt ein Pult, ein Tisch und ein Schrank hinein, weiter nichts.«
»Bitte hierher; wir wollen hier weitergehen. Geh nicht zu nah ans Fenster, Dolly«, sagte Anna und versuchte, ob die Farbe schon trocken sei. »Alexei, die Farbe ist schon trocken«, fügte sie hinzu.
Aus dem Empfangszimmer begaben sie sich auf den Flur. Hier zeigte ihnen Wronski die Entlüftungseinrichtung neuester Art, die er hatte anbringen lassen. Dann zeigte er die Marmorwannen und die mit eigenartigen Sprungfedern versehenen Betten. Darauf zeigte er einen Krankensaal nach dem andern, die Vorratskammer, die Wäschestube, dann die Öfen neuester Bauart, dann Schiebewagen, auf denen sich alles Erforderliche auf dem Flur geräuschlos befördern ließ, und vieles andere. Swijaschski, als Sachkundiger auf allen Gebieten neuerer Vervollkommnungen, sprach über alles sein Urteil aus. Dolly war geradezu starr vor Staunen über alle diese ihr bisher völlig unbekannten Dinge und erkundigte sich, in dem Wunsche, alles zu verstehen, eingehend nach allem bei Wronski, dem ihre Anteilnahme sichtlich Freude bereitete.
»Ja, ich glaube, das wird in Rußland das einzige völlig tadellos eingerichtete Krankenhaus sein«, äußerte Swijaschski.
»Wird bei Ihnen nicht eine Abteilung für Wöchnerinnen vorhanden sein?« fragte Dolly. »Das ist auf dem Lande ein so dringendes Bedürfnis. Ich habe oft ...«
Trotz seiner Höflichkeit unterbrach Wronski sie.
»Es ist keine Entbindungsanstalt, sondern ein Krankenhaus und für alle Krankheiten mit Ausnahme der ansteckenden bestimmt«,[93] sagte er. »Aber sehen Sie sich, bitte, einmal dies hier an!« Er rollte einen Fahrstuhl für Genesende, den er erst kürzlich hatte kommen lassen, zu Darja Alexandrowna heran. »Sehen Sie nur!« Er setzte sich in den Stuhl und begann ihn zu bewegen. »Nehmen wir den Fall: ein Kranker kann nicht gehen, er ist noch zu schwach oder fußkrank, braucht aber frische Luft; dann fährt er sich eben und macht auf diese Weise eine Spazierfahrt ...«
Darja Alexandrowna interessierte sich für alles, und alles gefiel ihr außerordentlich; am allermeisten aber gefiel ihr Wronski selbst mit seiner unverstellten, knabenhaften Begeisterung. ›Ja, er ist ein liebenswürdiger, guter Mensch‹, dachte sie mehrmals, während sie nicht auf das hörte, was er sagte, sondern ihn ansah und seinen Gesichtsausdruck prüfte und sich in Gedanken an Annas Stelle versetzte. Er gefiel ihr jetzt in seiner Lebhaftigkeit so sehr, daß es ihr verständlich wurde, wie Anna sich in ihn hatte verlieben können.
1 (frz.) das ist ein so reizendes Familienleben, so wie es sich gehört. Ganz und gar wie bei den Engländern. Man versammelt sich morgens zum Frühstück und geht dann auseinander.
2 (frz.) Das wird vortrefflich werden.
3 (frz.) Eine Partie Rasentennis.
4 (frz.) Aber wir dürfen den armen Weslowski und Tuschkewitsch dort in dem Kahn nicht so lange warten lassen.
5 (frz.) Schulen sind dermaßen üblich geworden.
Buchempfehlung
Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
270 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro