23

[107] Dolly wollte sich schon hinlegen, als Anna im Nachtkleide zu ihr ins Zimmer trat.

Im Laufe des Tages hatte Anna mehrmals dazu angesetzt, von den Dingen, die ihre Seele beschäftigten, zu reden, hatte aber jedesmal nach einigen wenigen Worten wieder davon Abstand genommen. »Nachher, wenn wir miteinander allein sind, wollen wir über alles sprechen; ich habe dir so viel, so viel mitzuteilen«, hatte sie gesagt.

Jetzt waren sie nun miteinander allein; aber Anna wußte nicht, wovon sie reden sollte. Sie saß am Fenster, blickte Dolly an und durchmusterte in ihrem Gedächtnisse jenen ganzen Vorrat von vertraulicheren Gesprächsstoffen, der ihr vorher unerschöpflich erschienen war, und fand nichts Geeignetes. Es schien ihr in diesem Augenblick, als habe sie schon alles gesagt.

»Nun, wie geht es denn Kitty?« begann sie mit einem schweren Seufzer und blickte Dolly schuldbewußt an. »Sage mir die Wahrheit, Dolly, ist sie auch nicht böse auf mich?«

»Ob sie auf dich böse ist? Nein!« antwortete Darja Alexandrowna lächelnd.

»Aber sie haßt mich und verachtet mich?«

»O nein! Aber du weißt, verzeihen kann man so etwas nicht.«

»Ja, ja«, sagte Anna, indem sie sich abwandte und durch das offene Fenster blickte. »Aber ich hatte keine Schuld. Und wer hatte Schuld? Was heißt dabei überhaupt Schuld? Konnte es denn anders kommen? Nun, wie denkst du darüber? Ware es etwa möglich gewesen, daß du Stiwa nicht geheiratet hättest?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Aber eines möchte ich von dir wissen ...«

»Ja, ja, aber wir sind noch nicht mit Kitty fertig. Ist sie glücklich? Er soll ja ein guter Mensch sein.«

»›Gut‹ ist zuwenig gesagt. Ich kenne keinen besseren Menschen.«

»Ach, das freut mich! Das freut mich außerordentlich! ›Gut‹ ist zuwenig gesagt«, wiederholte sie.

Dolly lächelte.

»Aber nun erzähle mir von dir selbst«, sagte Dolly. »Wir haben so viel miteinander zu reden. Ich sprach heute auch schon[107] mit ...« Sie wußte nicht, wie sie ihn nennen sollte. Es widerstrebte ihr, ihn den Grafen, und es widerstrebte ihr, ihn Alexei Kirillowitsch zu nennen.

»Mit Alexei«, half Anna ihr ein. »Ich weiß, was ihr miteinander gesprochen habt. Aber ich wollte dich geradezu fragen: Was denkst du von mir und von meinem Leben?«

»Wie kann ich das so plötzlich sagen? Ich weiß es wirklich nicht.«

»Nein, nein, sage es mir doch ... Du siehst ja nun, wie ich lebe. Aber vergiß nicht, daß du uns im Sommer siehst, wo du zu Besuch gekommen bist und wir auch sonst Gäste haben ... Aber als wir zu Frühlingsanfang herkamen, da haben wir ganz einsam gelebt, und wir werden auch später wieder ganz einsam leben, und etwas Besseres wünsche ich mir gar nicht. Aber stelle dir vor, daß ich ganz allein, ohne ihn, hier leben werde, ganz allein, und das wird geschehen ... Ich ersehe das aus vielen Anzeichen, daß das häufig vorkommen wird und daß er die Hälfte der Zeit außerhalb des Hauses zubringen wird.« Sie stand auf und setzte sich näher an Dolly heran. »Selbstverständlich« (sie ließ Dolly, die etwas erwidern wollte, nicht zu Worte kommen), »selbstverständlich werde ich ihn nicht mit Gewalt zurückhalten. Das tue ich auch jetzt nicht. In nächster Zeit findet ein Rennen statt; dabei laufen auch Pferde von ihm; er wird hinfahren. Ich freue mich darüber sehr. Aber denke nun dabei auch einmal an mich, stelle dir meine Lage vor ... Aber was hat es für Zweck, davon zu reden!« Sie lächelte. »Also worüber hat er denn mit dir gesprochen?«

»Er sprach mit mir über einen Punkt, über den ich auch aus eigenem Antriebe mit dir reden wollte, und es wird mir leicht, seinen Wunsch bei dir zu befürworten; er sprach darüber, ob denn keine Möglichkeit sei ... ob es sich nicht machen ließe ...« Darja Alexandrowna stockte, »deine Lage zu ändern, zu verbessern ... Du weißt, wie ich darüber denke ... Aber dennoch solltest du ihn, wenn es möglich ist, heiraten ...«

»Also eine Scheidung?« erwiderte Anna. »Weißt du wohl, daß die einzige Frau, die mich in Petersburg besucht hat, Betsy Twerskaja war? Du kennst sie ja wohl? Au fond c'est la femme la plus dépravée qui existe.1 Sie hat ein Verhältnis mit Tuschkewitsch gehabt und ihren Mann auf die schändlichste Weise betrogen. Und diese Frau hat mir zu verstehen gegeben, daß sie mich nicht kennen will, solange meine Lage ungeregelt ist. Glaube ja nicht, daß ich dich mit ihr auf gleiche Stufe stelle; ich kenne dich, mein Herz. Aber es fiel mir unwillkürlich ein ... Nun also, was hat er zu dir gesagt?« fragte sie noch einmal.[108]

»Er hat mir gesagt, er leide für seine eigene Person schwer darunter, und nicht weniger Schmerz bereite ihm dein Kummer. Vielleicht sagst du, daß das Selbstsucht ist; aber es ist eine so erlaubte, edle Selbstsucht! Er möchte vor allen Dingen seine Tochter ehelich machen; er möchte dein Gatte sein und ein Recht auf dich haben.«

»Welche Frau, welche Sklavin kann in dem Grade Sklavin sein, wie ich es in meiner Lage bin?« unterbrach Anna sie finster.

»Die Hauptsache ist ihm aber doch ... die Hauptsache ist ihm, daß deine Leiden ein Ende nehmen möchten.«

»Das ist unmöglich! Nun, und was weiter?«

»Nun, etwas durchaus Ordnungsmäßiges: er möchte, daß eure Kinder den richtigen Namen haben.«

»Was für Kinder?« versetzte Anna, indem sie die Augen zusammenkniff und es vermied, Dolly anzusehen.

»Anny und die künftigen.«

»In der Hinsicht kann er ganz beruhigt sein; ich werde keine weiteren Kinder bekommen.«

»Wie kannst du das sagen, daß du keine mehr bekommen wirst? ...«

»Ich werde keine mehr bekommen, weil ich es nicht will.«

Und trotz all ihrer Aufregung mußte Anna lächeln, als sie den unverhohlenen Ausdruck von Neugier, Erstaunen und Schrecken auf Dollys Gesicht wahrnahm.

»Der Arzt hat mir nach meiner Krankheit gesagt ...«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Nicht möglich!« rief Dolly mit weit geöffneten Augen. Für sie war dies eine jener Enthüllungen, aus denen sich so gewaltige Folgerungen und Schlüsse ergeben, daß man im ersten Augenblick nur die Empfindung hat, man könne nicht gleich alles mit seinen Ge danken umfassen, werde aber darüber noch viel, viel nachzudenken haben.

Diese Enthüllung, durch die ihr auf einmal klar wurde, was ihr bisher unverständlich gewesen war, wie es nämlich zuging, daß in so vielen Familien nur ein oder zwei Kinder vorhanden waren, diese Enthüllung erweckte in ihr eine solche Menge von Gedanken, Vorstellungen und widerstreitenden Empfindungen, daß sie nicht imstande war, etwas zu sagen, und nur mit weit geöffneten Augen Anna erstaunt anblickte. Das war ja eben das, was sie sich in ihren Träumereien ausgemalt hatte; aber jetzt, wo sie erfuhr, daß so etwas möglich sei, erschrak sie heftig. Sie fühlte, daß dies denn doch eine allzu einfache Lösung einer so verwickelten Frage sei.[109]

»Ist das nicht unrecht?« fragte sie nur, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte.

»Wieso? Überlege doch nur, ich habe die Wahl zwischen zwei Dingen: entweder schwanger, das heißt krank zu sein oder die Freundin und Genossin meines Mannes zu sein, der doch eben ein Mann ist«, sagte Anna in absichtlich oberflächlichem, leichtfertigem Tone.

»Nun ja, nun ja«, antwortete Darja Alexandrowna. Jetzt, wo sie dieselben Gründe, die sie sich selbst vorgeführt hatte, aus Annas Munde hörte, fand sie sie nicht mehr so beweiskräftig, wie sie sie früher gefunden hatte.

»Für dich und andere«, sagte Anna, wie wenn sie ihre Gedanken erriete, »kann es noch ein Bedenken geben, aber für mich ... Überlege doch, ich bin nicht seine Ehefrau; er liebt mich eben nur so lange, wie er mich liebt. Nun also, womit kann ich mir seine Liebe erhalten? Doch nur hiermit!«

Sie streckte ihre weißen Arme vor ihrem Leibe aus.

Mit großer Geschwindigkeit, wie das in Augenblicken starker Aufregung nicht selten ist, drängten sich Gedanken und Erinnerungen in Darja Alexandrownas Kopfe. ›Ich‹, dachte sie, ›habe Stiwa nicht an mich fesseln können; er ging von mir weg zu anderen, und jene erste, um deretwillen er mir untreu wurde, vermochte ihn dadurch, daß sie immer schön und heiter war, auch nicht festzuhalten. Er verließ sie und nahm eine andere. Sollte Anna wirklich imstande sein, den Grafen Wronski dadurch an sich zu fesseln und dauernd festzuhalten? Wenn sein Sinn auf dergleichen gerichtet ist, so wird er schon Frauen mit noch reizenderem Aussehen und mit noch muntrerem Wesen finden. Und wie weiß und schön auch ihre nackten Arme sein mögen, wie reizvoll ihre ganze üppige Gestalt, ihr erglühendes Gesicht, das aus diesem schwarzen Haarwuchs herausschaut: er wird immer noch etwas Besseres finden, wie mein abscheulicher, armer, lieber Mann immer sucht und findet.‹

Dolly antwortete nicht und seufzte nur. Anna bemerkte diesen Seufzer, in dem zum Ausdruck kam, daß Dolly anderer Ansicht war, und fuhr fort. Sie meinte noch so starke Gründe in Vorrat zu haben, daß sich darauf nichts würde antworten lassen.

»Du sagst, das sei nicht recht gehandelt? Aber man muß das ruhig erwägen«, fuhr sie fort. »Du vergißt meine Lage. Wie kann ich mir Kinder wünschen? Ich rede nicht von den körperlichen Leiden; die fürchte ich nicht. Aber sage selbst: was würden meine Kinder sein? Unglückliche Wesen, die einen fremden Namen tragen müßten. Ihre Geburt würde sie von vornherein[110] in die Zwangslage versetzen, sich ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Geburt zu schämen.«

»Aber ebendeswegen ist ja die Scheidung notwendig.«

Jedoch Anna hörte nicht auf das, was Dolly sagte. Ihr lag daran, all die Gründe vorzutragen, mit denen sie sich selbst so oft überzeugt hatte.

»Wozu ist mir denn der Verstand gegeben, wenn ich ihn nicht dazu benutze, die Erzeugung unglücklicher Wesen zu verhüten?«

Sie blickte Dolly an, fuhr aber, ohne eine Antwort abzuwarten, fort:

»Ich würde mich stets diesen unglücklichen Kindern gegenüber schuldig fühlen«, sagte sie. »Wenn sie nicht da sind, so sind sie wenigstens nicht un glücklich; wenn sie aber lebten und unglücklich wären, so würde ich allein daran schuld sein.«

Das waren dieselben Gründe, die Darja Alexandrowna sich selbst vorgeführt hatte; aber jetzt hörte sie sie an, ohne sie eigentlich zu verstehen. ›Wie kann man sich denn solchen Wesen gegenüber, die noch gar nicht leben, schon im voraus schuldig fühlen?‹ dachte sie. Und auf einmal kam ihr der Gedanke: Könnte es wohl unter irgendwelchen Umständen für ihren Liebling Grigori besser sein, wenn er gar nicht geboren wäre? Aber diese Frage erschien ihr so seltsam und sinnlos, daß sie mit dem Kopf schüttelte, um diesen Wirrwarr umherwirbelnder, toller Gedanken zu verscheuchen.

»Nein, ich weiß nicht, das ist doch nicht recht gehandelt«, sagte sie nur, mit einem Ausdruck von Widerwillen auf dem Gesicht.

»Ja, aber vergiß nicht, wer du bist und wer ich bin ... Und außerdem«, fügte Anna hinzu, als ob sie sich trotz der Menge ihrer Gründe und der Armseligkeit von Dollys Gegengründen dennoch dessen bewußt wäre, daß das nicht recht gehandelt sei, »vergiß nicht die Hauptsache, nämlich, daß ich mich in ganz anderer Lage befinde als du. Bei dir handelt es sich darum, ob du einen Grund hast zu wünschen, daß du keine Kinder mehr bekommst; aber bei mir handelt es sich darum, ob ich einen Grund habe zu wünschen, daß ich noch welche bekomme. Und das ist ein großer Unterschied. Du verstehst wohl, daß ich das in meiner Lage nicht wünschen kann.«

Darja Alexandrowna erwiderte nichts. Sie wurde sich auf einmal dessen bewußt, daß sie Anna schon so fern stand, daß sie sich über manche Fragen nie mehr einigen konnten und es das beste war, nicht davon zu reden.

Fußnoten

1 (frz.) Im Grunde ist sie die verkommenste Frau, die es gibt.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 107-111.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Die Reise nach Braunschweig

Die Reise nach Braunschweig

Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon