[157] Ljewin war bei seiner Anwesenheit in Moskau seinem ehemaligen Universitätsfreunde, Professor Katawasow, wieder nähergetreten, den er seit seiner Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Er hatte Katawasow wegen seiner schlichten, klaren Weltanschauung sehr gern. Allerdings war Ljewin der Ansicht, die Klarheit von Katawasows Weltanschauung stamme von einer gewissen Dürftigkeit seiner Veranlagung her, und Katawasow seinerseits war der Ansicht, der Mangel an Folgerichtigkeit in Ljewins Denken sei eine Folge ungenügender geistiger Zucht. Aber trotzdem hatte Katawasows Klarheit für Ljewin etwas Anziehendes und ebenso für Katawasow die Überfülle von[157] Ljewins ungeordneten Gedanken; es machte beiden Vergnügen, miteinander zusammenzukommen und sich zu unterhalten.
Ljewin hatte seinem Freunde einige Stellen aus seinem Werke vorgelesen, und sie hatten ihm gefallen. Als Katawasow gestern mit Ljewin in einer öffentlichen Vorlesung zusammengetroffen war, hatte er ihm mitgeteilt, daß der berühmte Metrow, an dessen Abhandlung Ljewin so großes Gefallen gefunden hatte, sich gegenwärtig in Moskau aufhalte und große Anteilnahme dafür bekundet habe, was er, Katawasow, ihm von Ljewins Arbeit erzählt habe. Metrow werde morgen um elf Uhr bei ihm sein und sich sehr freuen, Ljewins Bekanntschaft zu machen.
»Sie haben sich aber ganz entschieden gebessert, liebster Freund, wie ich mit Vergnügen feststelle«, sagte Katawasow, als er Ljewin in seinem kleinen Wohnzimmer begrüßte. »Ich höre die Klingel und denke: es ist doch unmöglich, daß der pünktlich kommt ... Nun also, was sagen Sie zu den Montenegrinern? Ein echtes Kriegervolk!«
»Was hat sich denn neuerdings ereignet?« fragte Ljewin.
Katawasow teilte ihm in kurzen Worten die letzte Nachricht vom Kriege mit; dann ging er mit ihm in sein Arbeitszimmer und machte ihn dort mit einem kleinen, stämmigen Herrn von sehr angenehmem Äußern bekannt. Dies war Metrow. Das Gespräch drehte sich kurze Zeit um Politik und um die Auffassung, die man in den höchsten Kreisen Petersburgs von den letzten Ereignissen habe. Metrow teilte eine ihm aus zuverlässiger Quelle bekannt gewordene Äußerung mit, die der Kaiser und ein Minister bei diesem Anlasse getan hätten. Katawasow dagegen hatte gleichfalls als zuverlässig gehört, der Kaiser habe etwas ganz anderes gesagt. Ljewin bemühte sich, eine Lage zu ersinnen, in der sowohl die eine wie die andere Äußerung getan sein könnte; dann brach man das Gespräch über diesen Gegenstand ab.
»Ja, mein Freund hier hat ein Buch über die natürlichen Lebensbedingungen des Arbeiters in bezug auf den Grund und Boden beinah vollendet«, sagte Katawasow. »Ich bin nicht Fachmann; aber als Naturforscher habe ich mich gefreut, daß er den Menschen nicht als etwas außerhalb der zoologischen Gesetze Stehendes auffaßt, sondern seine Abhängigkeit von seiner gesamten Umgebung einsieht und in dieser Abhängigkeit die Gesetze der Entwicklung sucht.«
»Das ist sehr reizvoll«, erwiderte Metrow.
»Ich hatte eigentlich angefangen, ein rein landwirtschaftliches Buch zu schreiben«, bemerkte Ljewin errötend; »indem ich mich aber darin mit dem Hauptinstrument der Landwirtschaft, dem[158] Arbeiter, beschäftigte, bin ich unwillkürlich zu ganz unerwarteten Ergebnissen gelangt.«
Und nun begann Ljewin vorsichtig, wie wenn er das Gelände erkunden wollte, seine Ansicht darzulegen. Er wußte, daß Metrow eine Abhandlung gegen die herrschende volkswirtschaftliche Auffassung geschrieben hatte; aber bis zu welchem Grade er bei ihm auf Zustimmung zu seinen eigenen neuen Ansichten hoffen durfte, das wußte er nicht und konnte er aus dem klugen, ruhigen Gesicht des Gelehrten nicht erraten.
»Aber worin sehen Sie denn die besonderen Eigentümlichkeiten des russischen Arbeiters?« fragte Metrow. »In seinen, um mich so auszudrücken, zoologischen Eigenschaften oder in den Lebensverhältnissen, in denen er sich befindet?«
Ljewin merkte, daß schon in dieser Frage ein Gedanke zum Ausdruck kam, mit dem er nicht einverstanden sein konnte; aber er fuhr fort, seine Ansicht zu entwickeln, die darin bestand, daß der russische Arbeiter vom Grund und Boden eine Auffassung habe, die von der Auffassung der Arbeiter bei anderen Völkern durchaus verschieden sei. Und um diesen Satz zu beweisen, beeilte er sich, hinzuzufügen, seiner Meinung nach rühre diese Auffassung des russischen Volkes daher, daß es sich seines Berufes, die gewaltigen, noch unbewohnten Landgebiete im Osten zu besiedeln, bewußt sei.
»Bei Schlüssen über den gemeinsamen Beruf eines Volkes gerät man leicht in Irrtümer«, bemerkte Metrow, indem er Ljewin unterbrach. »Der Zustand des Arbeiters wird immer von seinem Verhältnis zum Grund und Boden und zum Kapital abhängen.«
Und ohne daß er Ljewin hätte seinen Gedanken bis zu Ende darlegen lassen, begann nun Metrow ihm die Besonderheit seiner eigenen Betrachtungsweise auseinanderzusetzen.
Worin die Besonderheit von Metrows Auffassung bestand, das begriff Ljewin nicht, weil er sich keine Mühe gab, es zu begreifen. Er sah, daß Metrow, ganz wie die andern, trotz seiner Abhandlung, in der er die Volkswirtschaftler bekämpft hatte, die Lage des russischen Arbeiters dennoch nur vom Gesichtspunkte des Kapitals, des Arbeitslohnes und der Rente betrachtete. Obgleich er zugeben mußte, daß im östlichen, größten Teile Rußlands die Rente noch gleich Null sei, daß der Arbeitslohn für neun Zehntel der sich auf achtzig Millionen belaufenden Bevölkerung Rußlands nur im eigenen Lebensunterhalt bestehe und daß ein Kapital bisher nur in Gestalt der einfachsten Arbeitsgeräte vorhanden sei, so betrachtete er dennoch jeden Arbeiter nur von diesem Gesichtspunkte aus. In vielen Punkten allerdings stimmte er mit den Volkswirtschaftlern nicht überein,[159] und über den Arbeitslohn hatte er eine eigene Auffassung, die er nun Ljewin auseinandersetzte.
Ljewin hörte ihm nur ungern zu und versuchte anfangs einige Einwendungen vorzubringen. Er hätte gern Metrow unterbrochen, um ihm seine Gedanken zu entwickeln, durch die seiner Ansicht nach jede weitere Auseinandersetzung überflüssig gemacht wurde. Als er sich dann aber überzeugt hatte, daß sie beide für die Sache eine so verschiedene Anschauungsweise hatten, daß sie einander doch nie würden verstehen können, da widersprach er nicht mehr und hörte nur noch zu. Und obwohl das, was Metrow sagte, ihn nun gar nicht mehr beschäftigte, empfand er doch beim Zuhören eine gewisse Befriedigung. Seine Eitelkeit fühlte sich dadurch geschmeichelt, daß ein solcher Gelehrter so bereitwillig, mit solcher Sorgfalt und mit solchem Vertrauen auf seine, Ljewins, Sachkenntnis (mitunter wies er durch eine bloße Andeutung auf ein ganzes großes Gebiet dieses Gegenstandes hin) ihm seine Gedanken auseinandersetzte. Ljewin führte dies darauf zurück, daß Metrow ihn als eine wertvolle Persönlichkeit betrachte; er wußte eben nicht, daß er schon mit allen ihm Näherstehenden diesen Gegenstand zur Genüge besprochen hatte und nun jedesmal einen besonderen Genuß darin fand, wenn er mit einer neuen Persönlichkeit darüber reden konnte, und daß er überhaupt gern mit allen Leuten redete, auch über solche ihn beschäftigende Gegenstände, die ihm selbst unklar waren.
»Aber wir werden zu spät kommen«, sagte Katawasow nach einem Blick auf die Uhr, sobald Metrow seine Auseinandersetzung beendet hatte.
»Es findet heute in der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft eine Festsitzung aus Anlaß von Swintitschs fünfzigjährigem Jubiläum statt«, erwiderte Katawasow auf eine Frage Ljewins. »Peter Iwanowitsch und ich wollen auch hin. Ich habe versprochen, über Swintitschs zoologische Arbeiten zu sprechen. Kommen Sie mit; es wird sehr interessant sein.«
»Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte Metrow. »Kommen Sie doch mit und von dort zu mir, wenn es Ihnen recht ist. Ich würde sehr gern Ihre Arbeit ganz kennenlernen.«
»Ach, nicht doch. Sie ist noch recht unschön; ich bin ja noch gar nicht fertig. Aber in die Sitzung werde ich sehr gern mitkommen.«
»Haben Sie schon gehört, Verehrtester? Ich habe ein Sondergutachten eingereicht«, sagte Katawasow, während er sich im Nebenzimmer den Frack anzog, zu Metrow.
Damit begann ein Gespräch über die Universitätsfrage.[160]
Die Universitätsfrage war in diesem Winter in Moskau ein sehr wichtiges Ereignis. Drei ältere Professoren hatten im Senat ein Gutachten einiger jüngerer Professoren zurückgewiesen; die jüngeren hatten darauf ein gesondertes Gutachten eingereicht. Dieses Gutachten war nach dem Urteile der einen ganz abscheulich, nach dem Urteile anderer durchaus schlicht und gerecht; so hatten sich die Professoren in zwei Parteien gespalten.
Die einen, zu denen Katawasow gehörte, sahen bei der Gegenpartei nur gemeine Verleumdung und Betrug, die anderen hingegen beschuldigten ihre Gegner eines Bubenstreiches und der Mißachtung aller Autorität. Obwohl Ljewin mit der Universität in keiner Beziehung stand, hatte er doch schon mehrmals während seiner Anwesenheit in Moskau von dieser Sache gehört und darüber gesprochen und hatte sich eine eigene Meinung gebildet; so beteiligte er sich denn an dem Gespräch, das auch noch auf der Straße fortgesetzt wurde, bis alle drei beim alten Universitätsgebäude anlangten.
Die Sitzung hatte bereits begonnen. An dem mit einer Decke behangenen Tisch, wo Katawasow und Metrow Platz nahmen, saßen sechs Herren, von denen einer, sich tief über sein Manuskript beugend, etwas vorlas. Ljewin setzte sich in den Stuhlreihen, die in einiger Entfernung um den Tisch herumstanden, auf einen freien Stuhl und fragte einen neben ihm sitzenden Studenten flüsternd, was da vorgelesen werde. Der Student blickte Ljewin unwillig an und antwortete: »Die Biographie.«
Obgleich Ljewin für die Biographie jenes Gelehrten kein besonderes Interesse hatte, so hörte er doch unwillkürlich zu und erfuhr einiges Wissenswertes und Neues aus dem Leben des berühmten Mannes.
Als der Vortragende geendet hatte, dankte ihm der Vorsitzende und las dann seinerseits ein ihm von dem Dichter Ment zugesandtes Gedicht vor, das dieser auf das Jubiläum verfaßt hatte, und fügte einige Worte des Dankes für den Dichter hinzu. Darauf las Katawasow mit seiner lauten, schreienden Stimme seinen Bericht über die wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars vor.
Als Katawasow damit fertig war, blickte Ljewin auf die Uhr, sah, daß es schon zwischen eins und zwei war, und sagte sich, daß er vor dein Konzerte keine Zeit mehr haben werde, dem Professor Metrow seine Schrift vorzulesen; auch hatte er jetzt gar keine Lust mehr dazu. Er hatte während der Vorträge auch noch an das vorangegangene Gespräch gedacht. Er war sich jetzt darüber klar, daß, obgleich Metrows Gedanken vielleicht einen gewissen Wert besäßen und die seinigen gleichfalls, diese Gedanken[161] jedoch nur dann sich klarer gestalten und zu einem Ergebnis führen ließen, wenn ein jeder für sich in der von ihm gewählten Richtung weiterarbeite, daß aber bei einem wechselseitigen Austausch dieser Gedanken nichts herauskomme. Ljewin entschloß sich daher, Metrows Einladung abzulehnen, und trat bei Schluß der Sitzung zu ihm heran. Metrow machte Ljewin mit dem Vorsitzenden bekannt, mit dem er sich gerade über das neueste politische Ereignis unterhielt. Dabei erzählte Metrow dem Vorsitzenden dasselbe, was er vorher Ljewin erzählt hatte, und Ljewin machte dazu dieselben Bemerkungen, die er schon damals gemacht hatte, nur daß er zur Abwechselung eine neue Ansicht, die ihm jetzt gerade einfiel, als die seinige vorbrachte. Hierauf ging das Gespräch wieder zur Universitätsfrage über. Da Ljewin das alles schon einmal gehört hatte, so beeilte er sich, Metrow zu sagen, er bedaure, seiner Einladung nicht Folge leisten zu können, empfahl sich und fuhr zu Lwow.
Buchempfehlung
Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.
112 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro