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[185] Der Räuberpapa sitzt auf dem grünen Plüschsofa mit den Antimakassars und liest die ›Allgemeine Deutsche Räuberzeitung‹. Seine zu kurzen Beinchen baumeln unterm Tisch. Er hat eine gestrickte Pudelmütze auf und lutscht Kaffee aus einer großen Barttasse. Gold auf weißem Grunde: ›Dem großen Räuber‹. Und darunter:
Dem deutschen Mann mit starkem Bart
Ziemt diese Tasse eigner Art,
Damit zu Hausfraus Wohlgefallen
Nicht Tropfen auf das Vorhemd fallen.
Von der Wand grüßt ernst der Öldruck des Ahnherrn. Auch Räuber. Papa raucht die lange Pfeife und nuckelt mit dem Kopf. »Sapristi, sie haben richtig die Knebelpreise erhöht – sieh mal an!« Und schnauft und ist so glücklich und zufrieden, daß man ihm seine Ruhe läßt.
Aber nun ist die Tasse leer. Die Flinte aus dem Eck, die Mütze herunter, hinaus in den grünen, grünen Wald: die Pflicht ruft! Wir sehen ihn sorglos scheiden. Denn wenn er nachher (bei Gott!) die mächtige Donnerbüchse explodieren läßt: baum! – dann wird er nicht versäumen, aus einer alten gelblichen Hornbüchse eine Prise zu nehmen, und in den dicken Pulverrauchschwaden wird man seine zittrige, fistelnde Stimme hören: »Ach, verzeihen Sie, bitte! Sind Sie vielleicht tot?«
Die Güte selbst. Aber versehen mit einem Gran von Lächerlichkeit, umkleidet mit einer Aura, die unwiderstehlich zum Lachen reizt. Er kann ja nichts dafür: er klettert zwischen Himmel und Erde einher, ohne den Philosophen zu schaffen zu machen, er lebt sein bescheidenes Leben, hat seine kleinen Freuden und überzeugt doch ergreifend von der Jämmerlichkeit alles Irdischen. Er tut stets so, als sei er allein, zieht selige Falten durchs Gesicht und zeigt nun erst, wie klein er ist. Alle Bürger Carl Sternheims, die Maskes und die Wolkes, sind sein: diese immer ein wenig gereizte, quälige Stimme, diese schneidenden Freudentöne, ein besoffenes Bein, juhu! –: hier ist sein Feld. Was Willi Handl einst auf den wiener Maran sagte, mag auch für Arnold gelten: »Das ist seine große komische Kunst, daß er so packende und so viele Mittel weiß, das Verhältnis zwischen jedem Wunsch oder Impuls, den seine Figuren äußern sollen, und ihrer tatsächlichen Kraft . . . unmöglich zu machen.« Ich habe das Wort ›ungeheuerlich‹ gestrichen. Ungeheuerlich ist Arnold nicht. Er ist ein guter, hausbackener Alter, und es bleibt eigentlich erstaunlich, woher er, der Jude, diese germanisch-christlichen Oberförsterallüren hat; wie er die Knöpfmanschetten mit mächtigem Armschwung in das Futter zurückschnellt, wie er die Hände auf dem Rücken kreuzt, die Brust bläht und wie ein Puter herumstelzt, wie er vor dem Krach auf den Tisch trommelt und dann wie[185] eine kleine dicke Kugel losschießt – woher hat er das? Woher die so seltene Fähigkeit, alle Dinge, die er am Körper oder in den Fingern trägt, sich anzupassen? Die Zigarre wird komisch, weil er sie raucht, und der Aktendeckel und die Lampe und der Hut – alle fangen an, ein bißchen lächerlich zu werden. Es ist manchmal, als wenn sich eine Tür öffnete, und kühl weht all die Nichtigkeit und der aufgeblasene Stolz der Erde herauf. Kinder, es ist ja alles nicht so schlimm! Aber bis zur Reflexion gedeihts nicht, denn gelobt sei der Herr: dieser weiß nicht, was er tut. Seine vorgesetzte Behörde ließ ihn zwar nicht schuldig werden, hat ihn aber der Pein überlassen: der Pein der leisen Lächerlichkeit. Wie eine dünne Gasschicht bibberts um ihn: eine Furche von Mund zu Nase, eine etwas zu hastige, abrupte Bewegung des kurzen Arms, ein schnelles Purzeln der Beinchen, und aus ists. Wir lachen. Er ist nicht beleidigt; er kommt keinen Augenblick auf den Gedanken, daß man etwa über ihn lachen könnte. Er ist doch ein reifer Mann, Teufel nicht noch einmal! Und fährt fort, dir – an seiner Zigarre saugend – die Maximen des menschlichen Lebens zu entwickeln.
Vor allem: Ordnung muß sein. Da hat man so seine festgesetzten Begriffe: Amt, Würden, die gesellschaftliche Stufenleiter handgreiflicher Erfolge – denn auf die kommts an! – und schließlich seinen gesunden Menschenverstand. Gewachsen zu Dobrilugk-Kirchheim, aber immerhin. Und prallt das nun mit einer rohen, draufgängerischen Außenwelt zusammen, so ists ein köstliches spectaculum. Zuerst merkt er nichts. Er wirtschaftet so umher, bis sich die Nadeln hümpelweise schmerzhaft ins Gesäß bohren. Setzt er sich drauf, so schreit er – zwiefach empört: als corpus und als Mensch. Wenn dann dieser kleine, wutschnaubende Mann herumturnt, schüttelt sich das Parkett, dem die Diskrepanz zwischen Wollen und Können ans Herz greift. Und schließlich unterliegt er und gibt dann das Reichste, das Größte, das Rührendste, was er zu geben hat.
George Dandin, der Hund bei Maeterlinck, Androklus, der liebe gute alte Schlehwein – es ist ja immer dasselbe. Da steht er, er kann nicht anders, Gott helfe ihm, Amen. Er wird ganz schrumpelig, seine Hände zittern ein bißchen, die Brille rutscht nach vorn, die Augendeckel sind schwer, sogar seine Kleidung bekommt einen trübseligen, traurigen Aspekt. Aus. Und hier steckt die große Kunst Arnolds: das Licht erlosch, und er macht uns darüber weinen und schmunzeln. Er tut einem ja schrecklich leid, aber zum Helfen kommt man nie. Man muß zu sehr lachen. Ob er vorn an der Rampe hockt, ob er hinten im Lehnstuhl vergraben ruht – man fühlt, daß hier einer am Ende angelangt ist. Aber man empfindet zugleich, wie lächerlich das ist. Ich habe in den Kammerspielen gehört, wie mein Nachbar in einem solchen Augenblick ganz laut sagte: »Och Gottchen!« und dann weiter lachte. Wir sind ja nicht beteiligt und haben es leicht, über ihn zu lächeln. Dieser ewige[186] Zigarrenstummel, der ganze Skatkerl, diese ulkige Beziehung zu den Frauen, die ganz unerotisch ist: uns wird behaglich und warm zu Mute. Und er schreckt vor nichts zurück. Er kann sogar die Trauer kompromittieren. Er wäre imstande, bei ganz Vorurteilslosen als ›Selig Entschlafener‹ mit einem Palmenwedel auf dem Bauch oder als trauernder Zylinder beim Begräbnis ein befreiendes Lachen zu erwecken. Er ist der Mensch aus der Himmelsperspektive, Solche Wesen, muß sich der liebe Gott sagen, gibts also. Das ist Trauer. So sehen sie aus, wenn sie von heftigen Emotionen geplagt sind: kurz, dick, jämmerlich, Mitleid erregend. Und jedes Parkett übernimmt die Rolle des Olympiers. Wir alle sehen: also so sieht man aus. Und wir freuen uns, wie ›die Sklaven am Saturnalienfeste‹.
Und wenn Gott einmal Besuch hat, dann wird er den fremden Herrn vor einen Garten führen, und drinnen sind Hunderte eingesperrt, Männer, aus verschiedenen Epochen, aber alle kurz, klein, kugelig. Manche geben sich quick, manche jämmerlich, einige kreischend lustig. Es sind die Gestalten Victor Arnolds. Und sieht sie der Fremde da drinnen zappeln und disputieren und herumwanken, im ganzen aber unendliches Mitleid verbreiten, dann wird ihm Gott, der Herr, lächelnd auf die Schulter klopfen und sagen: »Siehe, auch dies sind Menschen!«
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Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«
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