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[160] Das Geheimnis der Zeit beschäftigt die Menschen, seit sie denken können. Diese Tatsache: daß der Stoff in der Zeit wechselt, die Form aber beharrt, die Tatsache, daß wir altern, daß die Zeit verrinnt und eines in uns doch zeitlos dasselbe bleibt – das war Anreiz und Fundament von Zauberformeln und Untersuchungen, von Dissertationen und bunten Märchenerzählungen. Die Phantastik ignoriert entweder die Zeit – woraus abenteuerliche Folgen entstehen –; oder sie stellt sich die Zeit geometrisch als eine Linie oder eine Fläche vor, auf der man beliebig herumrutschen kann (was sie aber nicht ist; sie ist eine Vorstellungsform der menschlichen Erkenntnis – über diesen heute wieder als trivial verschrienen Satz wird man wohl nicht hinauskommen). Wie dem auch sei: nichts erschüttert so wie Phantastik in der Zeit. Phantastik im Raum ist schließlich technisch vorstellbar. Ob ich wirklich einmal auf den Mars (ich lebe in Berlin, also natürlich mit ermäßigten Billetts) werde fahren können, steht noch aus – daß ich aber weder fünf Minuten vorwärts noch rückwärts springen kann, steht sicherlich fest. Und so macht es uns denn eine heitere oder bewegte Märchenfreude, einen mit dem Zeitbegriff jonglieren zu sehen.
Wells hats einmal getan; in der ›Zeitmaschine‹ (bei Bruns in Minden erschienen). Das Buch ist aber vor allem eine (vorzügliche) Utopie, und wer daran Spaß findet, lese nach, wie der Reisende sich auf die Zeitmaschine setzt und in die Zeit reist. In dem Büchlein, das vor mir liegt, geht es um etwas andres. Es ist ›Das Geheimnis der Lebenden‹ von Claude Farrère (bei Rütten & Loening in Frankfurt am Main erschienen). Dieser Farrère, ein französischer Schiffsoffizier namens Charles Bergone, ist den Deutschen zuerst durch Hanns Heinz Ewers empfohlen[160] worden, ein Grund, ihn nicht zu lesen. Überwindet man aber die berechtigte Abneigung gegen den Vermittler zwischen Laster und Bürgerlichkeit, so muß ich doch sagen, daß Farrère manchmal recht amüsante Sachen zu Tage fördert.
Diesmal ist es eine ganz unwahrscheinliche Geschichte, eben von dem Rätsel der Zeit. Sie handelt davon, wie drei alte Männer sich mit einem noch ältern Mittel unsterblich zu machen gewußt haben, drei Männer aus dem Zobtenberge; aber während diese bösen Verzauberten ihr schauerliches »Hic nulla, nulla pax« stammeln, sind jene drei kreuzfidel und brauchen nur eines: Ergänzung ihrer Lebenskräfte durch frische lebendige Menschen. Der Glaube an Sunamitinnen wird lebendig, und wie sich die drei Alten das frische Menschenblut holen, wie sie dabei an die Dame Madeleine geraten und so auch an ihren Liebsten, den Rittmeister Charles André Narcy, das ist ebenso nett wie grauslich in dem Buche erzählt. Der Mann wohnt schließlich seinem eigenen Begräbnis bei, ist in drei Tagen um Jahrzehnte gealtert und nimmt Abschied von den Menschen, die ihm nicht mehr helfen können.
Gewiß, das ist alles Literatenzauberei – und doch ein klein wenig mehr. Liegt es an der Grazie des Erzählers, liegt es am Stoff: man fühlt sich mehr gepackt als sonst bei Büchern dieser Art. Irgendetwas von verschollener Zeit und von dem unwandelbaren Gang der Sterne klingt an – der Leierkasten der Erinnerung wird wach, und, der Made gleich unter der alles bedeckenden Käseglocke, müssen wir sagen: »Wir gehören auch mit dazu!« Wir gehören auch mit dazu . . .
Weil aber das Büchlein in gut dosierter Mischung die richtigen Portionen von Spannung, Erotik, Übersinnlichkeit und guter Darstellung enthält, lesen wir es auf einen Sitz herunter, gucken eine Zeitlang tiefsinnig ins Leere und stellen es mit einem befriedigenden Aufseufzer ins Fach. Und mehr kann man nicht verlangen.