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[208] Also das hat in Deutschland vier Jahre lang regiert! Also das hat vier Jahre lang den Ton angegeben und kommandiert und unterdrückt und gemaßregelt und Weltpolitik gemacht! Also das waren die Heroen eines Volkes, das in ihnen sich selbst verehrte! Also das waren sie! Das? Du lieber Gott.
Am achtzehnten November 1919, vormittags um ein Viertel elf Uhr, treten Hindenburg und Ludendorff in den braunen, wenig feierlichen Saal. Der Alte im Gehrock, der viereckige Kopf hat etwas Mongolenhaftes, aber Figur, Schnurrbart und Backenknochen –: ein Nationalheld, wie man sie auf Weißbiergläser malt. Ludendorff, hölzern-steif, sehr aufgebracht und sehr unsicher, im schwarzen Jackettanzug; um die Nasenflügel ein böser Zug, der sagt: Schweden . . . Ein Wachtmeister in Zivil und ein höherer Verwaltungsbeamter. Sie setzen sich.
Die Geschichte fängt damit an, daß Ludendorff den § 54 der hier geltenden Strafprozeßordnung heranzieht: »Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem Angehörigen die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zuziehen würde.« Fühlt er, daß er solches Bollwerks bedarf?
Die Vernehmung beginnt. Eine Vernehmung, wie sie in keiner Privatbeleidigungsklage vor dem Amtsgericht Berlin-Mitte möglich wäre: die Zeugen denken gar nicht daran, die ihnen gestellten Fragen zu beantworten, sie lesen aus fertig vorliegenden Schriftstücken unentwegt[208] vor, was sie vorzulesen sich vorgenommen haben, sie gehen nur auf das ein, was ihnen bequem ist. Es bestehe keine Aussagepflicht, sagen sie. Und der Ausschuß kuscht.
Eine Welt stand auf. Da saßen sie: Bethmann, ein alter, zusammengefallener Mann; Zimmermann, rötlich-blond und robust und gewöhnlich; Bernstorff; der ›Rayonchef‹ Helfferich, mit blanken, allzuklugen Augen, schmalem Kopf und abstehenden Ohren – und vorn, an einem kleinen Tischchen, die beiden Heroen der Nation. An der Seite die Sachverständigen, unter ihnen der Nußknacker Dietrich Schäfer – wozu man diesen steglitzer Gymnasiarchen hierher geholt hat, wird nicht recht klar. Er spricht manchmal mit hoher, machtloser, ewig beleidigter Stimme. Im Publikum die Konjunkturschieber der neuen Regierung; das gelbe Gummigesicht Georg Bernhards; ein blanker, sauber gewaschener und appetitlicher Offizier von vollem, rosigem Fleisch, wie ein kleines Schweinchen, die schräg gestellten Augen sagen: Ich stehe auf dem Boden der gegebenen Tatsachen! und: Ich mache alles! und: Bitte sehr, bitte gleich! – Major von Gilsa, Gustavs durchaus rechte Hand. Oh, wäre er linkshändig!
Die Vernehmung hat begonnen. Eine Welt steht auf. Welch eine Welt! Wenn Bethmann sagt: »Qui tacet consentire videtur« – so fühle ich: Schulpforta, Philosophie, Universität – und wenn ich das auch alles nicht wüßte, so empfände ich doch: Das ist einer von den Unsern, das ist einer, der irgendwie etwas mit Geist zu tun hat, mag er schwach, mag er nachgiebig, mag er unselbständig gewesen sein – er ist doch schließlich ein Mann unserer Welt. Aber diese beiden da –?
Es ist die größte Enttäuschung meines Lebens gewesen. Sie waren beide schlechtweg nicht vorhanden. Keine Persönlichkeiten, keine Köpfe – nichts. Zwei alte, grau gewordene Kadetten.
Hindenburg menschlich durchaus der Größere von beiden. Dem Manne schlägt ein Herz in der Brust; wenn er barsch einherpoltert, so fühlt er irgendetwas – es sind nicht unsre Empfindungen –, aber er fühlt, sein Blut strömt. Der andere eiskalt. Nicht jener grauenhafte Typ glatt rasierter Etappenoffiziere, wie sie da in Zivil massenhaft umherstehen – aber von derselben Gefühlskälte wie sie, von derselben unerschütterlichen, unfaßbaren, sich selbst unbewußten Roheit.
Das Weltbild, das sich da entrollt, ist erschütternd. Nichts von Erfahrung, nichts von Menschenkenntnis, nichts von Goethe oder Dostojewski. (Man braucht keine Zeile von ihnen gelesen zu haben – aber es geht ja nun einmal doch nicht ohne einen von ihnen.) Die dachten mit dem Bizeps und schrieben mit den Fäusten. Wenn Ludendorff sagt, er und Bernstorff hätten verschiedene Weltanschauungen, so ist das nicht richtig. Sie haben zusammen nur eine. Und die hat Bernstorff.
Der General wehrt sich gegen die fernsten Dinge. Man habe ihm vorgeworfen, daß er auf vierundneunzig Fotografien nie gelächelt habe –[209] nun, er habe vor lauter Verantwortung nicht lächeln können. Ach, wir glauben ihm die Schwere dieser Verantwortung gern – aber er hätte sie nicht nur fühlen: er hätte sich auch von ihr leiten lassen sollen. Lächeln hätte er können.
Der Zuschauerraum hält den Atem an, wenn Ludendorff spricht. Die Augen der Offiziere in Zivil glitzern hart. Aber so war es hier immer: wenn Helfferich seine ganz und gar unsachlichen Zahlen, die uns heute nicht mehr trösten können, aufsagte, wenn Schäfer mit professoraler Lehrhaftigkeit Begriffe dozierte – macht euch doch nichts vor! Es ging ja nicht um Holz und um Metalle und um 21% Kohle – es ging nicht um Begriffe. Sprach Ludendorff, so atmete der Zuschauerraum: Ja – und sprach Doktor Sinzheimer, so sagten die deutschen Seelen: Nein – und die Offiziersfrauen, die da saßen, fühlten: Unser Reich soll wiederkommen! Unser Reich, in dem wir glücklich gewesen sind und von Einfluß, in dem wir mehr Nahrungsmittel hatten als die andern, in dem unsre Gatten und Freunde befehlen konnten, ohne selbst gehorchen zu müssen, daß es ihnen wehtat – unser Reich! unser Reich! Darum ging es, und das war die Frage.
Zwei Welten stoßen aufeinander. Aber die eine, die alte, die schlechtere, macht einen erbarmungswürdigen, einen entwaffnenden Eindruck. Wie es die Journalisten rechts fertig bekommen werden, diesen Augenblick welthistorisch ›aufzumachen‹ – es muß eine harte Arbeit sein.
Vier Jahre lang haben sich diese da jede Einmischung in ihre Tätigkeit mit dem Hinweis auf die große Verantwortlichkeit verbeten – und nun ist sie da, die Möglichkeit, sich zu verantworten – nun haltet Stange! Und nun kneifen sie. Man faßt sie auch nicht. Haben Sie, General Ludendorff, die Berichte, die gegen den U-Boot-Krieg sprachen und die von guten Fachleuten abgefaßt waren, so sorgfältig gelesen wie die, die für ihn sprachen – ja oder nein? Waren Ihnen die einzelnen Stadien der Wilson-Aktion bekannt – ja oder nein? Haben Sie stichhaltige Gründe gehabt, anzunehmen, man könne England wirklich auf die Knie zwingen – ja oder nein?
Und Ludendorff liest und liest. Und ein Ausschuß wartet auf Antwort.
»Ich hatte nur mit dem Reichskanzler zu verhandeln – die Äußerungen des Grafen Bernstorff waren für mich nicht dienstlich«, sagt der General. Das ist mein Deutschland.
Der sinnlose Trieb, um der Arbeit, nicht um des Zweckes willen zu arbeiten, um der Organisation willen zu organisieren, lahmte schließlich die Kräfte aller. Man sah ja nichts. Die Frage nach einem Grund war Ketzerei – alles wurde eingeteilt, weil arithmetische Ordnung die Stütze aller Schwachen ist, die sich im Strom des bunten Lebens nicht mehr zurechtzufinden wissen, und dazu kam ein andres schweres Unglück. Der Deutsche kann sein Bestes nur geben, wenn er diktatorisch[210] gestellt ist. Ersprießliches korporatives Arbeiten ist ihm fast unmöglich – er bleibt dann augenblicks im Apparat stecken, in Geschäftsordnungsdebatten, in Formen, in sich selbst. Jede Organisation, jede Kollektivität – auch die geistige – in Deutschland ist jederzeit bereit, um der Formalien willen die Materie zu vergessen. Sie lahmen einander, weil jeder zu sagen haben will. Arbeite in diesem Land, und es fallen dir drei in den Arm, die dir zeigen, wie dus anders machen mußt – aber keiner, der dich unterstützt. Arbeite – und du wirst ein Lied davon zu singen wissen, wieviel Hemmungen, Bedenken, Erwägungen, Bleigewichte sich dir an die Gelenke hängen. Arbeite – und du merkst, wie unleidlich mit denen zu arbeiten ist. Nun waren sie diktatorisch gestellt, und es ging auch nicht. Es konnte nicht gehen, weil alle ›nachgeordneten‹ Stellen eben nichts waren als dies, und weil auf dem Papier haften blieb, was in die Herzen hätte dringen sollen. Selbst wenn Ludendorff ein ganzer Kerl gewesen wäre, hätte er sich nicht in diesem Haufen wirrer Knäule durchsetzen können. Er wäre hängen geblieben. Ein entarteter Militarismus hat jede freie Arbeitskraft aus den Deutschen herausgeprügelt. Denn es war die Degeneration des Militarismus, die da gewirkt hat, es ist nicht einmal fritzisch, es ist nicht das Erbe jenes Königs, der ein Philosoph gewesen ist sein Leben lang. Dieses hier war eine große Zeit: der Feldwebel.
Ressortpatriotismus und Instanzenzug – hier sind sie in Reinkultur. Die vollkommene Unfähigkeit dieser Gehirne, zu begreifen, daß es nicht auf die Akten, sondern ausschließlich und lediglich auf den Erfolg ankommt, ausschließlich darauf, alles, einfach alles zu erfassen, auch wenn es nicht von der vorgesetzten Dienststelle herrührt – sie entwaffnet einen. Quid dicam, quod –? Sie habens nicht besser gelernt.
Die Verlesungen nehmen ihren Fortgang. Der Alte liest seins vor, rauh, ungefüge, unlogisch und von einem erstaunlich mäßigen Niveau. Ob Helfferich vorher probiert hat, weiß ich nicht; hat ers getan, ist er ein sehr schlechter Regisseur. Die Luft im Saale wird erdrückend – sogar der gute, alte Holzbock ist erschienen und sieht sich seine Kollegen von der Armee an. Es gibt eine Pause, in der der Ausschuß berät – Wilhelm Bruhn tritt auf Ludendorff zu, er sieht aus wie ein Linoleumfabrikant, und beide schütteln sich die Hände. Ein herzerfreuender Anblick. Georg Bernhard schmeißt sich an alles und alle heran – ich sehe ihn mit einem dicken alten Obersten sprechen, der in einen viel zu engen Kaiserwilhelmgedächtnisgehrock eingewickelt ist – ich höre kein Wort, aber ich sehe die Hände des ollen ehrlichen U-Boot-Einheizers. Deutschlands Helden aus großer Zeit.
Helden? Helden? Was haben diese beiden da mit dem Heldenbegriff zu schaffen? Der Landser war ein Held, und der arme Kompanieführer war einer, der im Dreck stak und seine Leute herausriß, und der Vizefeldwebel draußen war einer und der Mann am Schiffsrohr. Aber diese[211] da –? Verwaltungsbeamte, gut genährt, stets außer Gefahr und stets – wie Ludendorff im November Achtzehn – auf dem Sprung, auszureißen. Auch hier Hindenburg, der weiter seine Pflicht tat und sich erst da zu einer gewissen Größe aufschwang, wertvoller als der andre.
Aber schlägt nicht das Herz des Volkes für die beiden? Nun, des ganzen Volkes nicht. Aber wie erkenne ich meine Deutschen wieder? Sie sind doch sonst nicht so ritterlich, so zartfühlend, so unendlich taktvoll – und das bei zwei Erfolglosen? Es ist nicht verecundia. Wäre sies! Hier spricht das Herz. Und der Zug des Herzens war des Schicksals Stimme. Hier spricht nicht das Gehirn – hier spricht nur das Herz.
Und hätten diese beiden einen scheußlichen Totschlag begangen: eine halbe Nation stünde auf und nähme sich ihrer an. Sie lieben in diesen Männern nicht die Personen: sie lieben die Repräsentanten eines geliebten Systems, das jedem das Seine gab und jedem die Möglichkeit, auf dem andern herumzutreten. Das ist derselbe Grund, der den Kaiser in öffentlichen Diskussionen fast tabu macht, nicht das menschliche Mitleid und nicht Großmut.
Das sind die Führer gewesen, das die Verderber. Die gigantische Gefahr, die im Militarismus steckt, ist heute noch nicht ganz erkannt. Das gesamte Bürgertum hält ihn für eine Tugend, bedauert nur, daß dieser Krieg verloren gegangen ist, und greift allenfalls diese beiden an. Falsch. Sie waren die besten Vertreter des schlechtesten Systems. Millionen tragen noch den königlich preußischen Wachtmeister mit sich herum, diesen feilen Gesellen, der die Vorschriften peinlich genau beobachtete, am peinlichsten dann, wenn es galt, einen Unbeliebten zu schikanieren. Denkt doch ja nicht, daß die kleinen Menschlichkeiten, die anderswo offen zutage treten (worüber sich die Deutschen zu lächeln erlauben), hier ausgeschaltet seien! Sie treten versteckt auf, eine schleichende Gefahr. Tief unehrlich ist das alles – bis in den Kern hinein war die Armee, war die Verwaltung verlogen. Und dies sind ihre Repräsentanten. Die Wirkung auf das Bürgertum, auf die Arbeiter war katastrophal. Jeder Straßenbahnschaffner, jeder kleine Portier –: Ludendorff, Oberbefehlshaber, Kaiser und Feldwebel in einer Person.
Und als ich die beiden hier sitzen sah, fern aller Geistigkeit, fern von alledem, was wir als wertvoll anzusehen gewohnt sind, begriff ich wieder und stärker als je: der Militarismus ist eine Geistesverfassung. Oder vielmehr: das Geistesmanko.
Die Sitzung wird geschlossen. Eine primitive, dickköpfige Obstruktion der Heroen setzt ein. Der Ausschuß kuscht. Und vertagt sich auf unbestimmte Zeit. Man hört Ludendorffs scharfe, abgehackte Stimme schelten. Unter brausendem Hurra des Spalierpöbels verlassen die Herren das Lokal. Man muß einen Krieg verloren haben, um so gefeiert zu werden.
Draußen. Im beschneiten Tiergarten stehen Hunderte hinter einer[212] Kette grüner Sicherheitssoldaten und winken und drohen und rufen Hoch und rufen Nieder. Die Haltung der Sicherheitssoldaten ist einwandfrei sachlich und überlegen. Das Auto fährt ab. Und so wenig sympathisch die Gasse ist, die da »Nieder mit dem Massenschlächter Hindenburg!« ruft – was falsch ist –, so aufgehetzt noch das Land ist, in dem ganze Kasten um ihre alte wirtschaftliche Vorherrschaft ringen, so wenig die Gefahr eines militaristischen Deutschlands gebannt ist – so befriedigt fühlt man, dem davonsausenden Auto durch das Schneegestöber nachblickend, das eine: Aus.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
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