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[326] Das war in Kurland, in leuchtender Luft –
weit hinten in stiller Etappe,
(der Muschkot in alter, verwitterter Kluft,
der Leutnant mit großer Klappe –).
Kommandowechsel. Wir feierten ihn
beim Inspektor vom Proviantmagazin.
Die Dame vom Hilfsdienst, die Tag und Nacht
dem Inspektor den Dienst erträglicher macht,
stand fett am Klavier. Ich spielte dazu:
»Servus du!« . . .
Und dann ein Lied voll Schmalz und Dramatik,
voll wilden Geschehens, voll Seelenbatik –
noch klingt mir, was sie da gesungen hat:
»Im Sumpfe der Großstadt – ein sinkendes Blatt!«
Es leuchten die Lampen. Es summt in der Bar,
grad so, wies im vorigen Frieden war.
Zigeuner fiedeln im gelben Licht
(eigentlich sinds gar keine Zigeuner nicht,
sondern Musiker mit dem Reichstarif).
Eine blonde Dame lacht sich schief.
Sie kommt vom Film und geht ins Bett
und steht heute mittag in der ›B. Z.‹
Gestern war eine Filmpremiere . . .
Alle am Tisch hatten schon die Ehre . . .
Sie verdient auf der einen Leinwand im Spiel
täglich tausend –
und auf der andern beinah ebensoviel.
Der Papa war Portier. Ihre Perle glänzt matt.
»Im Sumpfe der Großstadt – ein sinkendes Blatt!«
Im Zeitungsviertel die Redaktion
ist aufgeregt seit dem Morgen schon.
Gesinnung? Gesinnung? Alles gestorben.
Das Blatt wurde gestern nachmittag erworben
von einem Industriesyndikat,
das furchtbar viele Millionen hat,
Bis heute: gemäßigt reaktionär.
Von heute an: national – aber sehr!
Ansprache des Chefs: »Wer nicht mitwill, fliegt!«
Jeder das Köpfchen zweifelnd wiegt . . .[326]
Eine Frau, vier Kinder, tausend Mark –
wer bleibt da stark?
Ein Engel fliegt leise durch den Raum.
Stinnes Traum . . .
Das ist so im menschlichen Leben und Treiben:
Die meisten bleiben, die meisten schreiben.
Keiner merkt was. Die Abonnenten
pennen, so wie sie von jeher pennten.
Wie sind die glücklich! Nicht jeder hat
im Sumpfe der Großstadt – ein sinkendes Blatt!
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