Abschiedsgesang

[34] Dies siehst du häufig auf den Straßen:

Im Auto vor den Sektterrassen

schwimmt mild ein Fettkloß in dem Wagen –

Beruf: Nie sollst du mich befragen.

Der Motor surrt. Das Fett, es zittert.

Sieh da: es hat sich ausgewittert

mit Bolschewismus, mit Verträgen –

es wird sich alles wieder legen.

Der Dicke strahlt. Er ist der Alte . . .

Der ganze Bauch ist eine Falte!


Und kennst du seine Weiblichkeiten?

Wer wagt, den Liebreiz zu bestreiten

der jungen Mädchen aus dem Osten,

indem, daß sie so ville kosten?

»Der Stein is Tineff!« haucht sie lind.

»Und der – der will mein Schklave sind?«[34]

Als deiner anderswo gefeiert,

mein Kind, hast du dich entgeschleiert,

so tief, daß ich nach hinten prallte . . .

Der ganze Bauch war eine Falte!


Und das soll alles ich verlassen?

Berlin – ich kann es noch nicht fassen!

Du süße Stadt – ich komme wieder

und pfeif aufs neue deine Lieder.

Inzwischen, Liebste, laß mich gehn,

bleib hübsch gesund und laß mir stehn

die Lektrische, die Schutzmannschaft,

den Reichstag, die Germanenkraft,

die Kinos und die Landgerichte,

die Presse mit dem Weisheitslichte.

Ich ab.

Und griene: »Daß dich Gott erhalte –!«

Der ganze Bauch ist eine Falte.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 02.06.1921, Nr. 22, S. 610.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 34-35.
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