Tante Malchens Heimatland

[69] Vor Jahren durchzog der ostpreußische Humorist Robert Johannes die Lande und ergötzte mit seinen ›bräiten Jedichten‹ die Leute. Wenn er, als Tante Malchen verkleidet, seine Abenteuer vortrug und »Erbarmung!« rief, dann lachte alles und freute sich über diesen gleichermaßen schwerfälligen wie wirklich humoristischen Dialekt. Eine harmlose Abendunterhaltung.

Die Zeiten sind vorbei. Der Dialekt ist geblieben – die Harmlosigkeit ist weg. Die Leute mit dem breiten ›Äi‹ sind durch den polnischen Korridor von uns getrennt – und allen ist diese Isolation gleichermaßen schlecht bekommen: ihnen und uns, Ostpreußen und dem Reich.

Der unselige Friedensvertrag von Versailles, Schlußpunkt und Quittung eines von der Monarchie heraufbeschworenen und verlorenen Krieges, hat die schlimmste Seite des Deutschtums gefördert und neu erweckt, wo sie eingeschlummert war: die Kirchturmspolitik.

Die Überschätzung des eigenen Dorfes, die Ignorierung aller andern Kirchtürme, die vereinsmeierliche Einstellung des Blickes auf das eigene Rathaus – kurz, der Partikularismus behindert uns unendlich in der Arbeit. Nun hat Berlin gewiß seine Fehler, und seine Zentralbehörden haben sie auch –, aber was da an Abneigung in der Provinz und in den Ländern gegen Berlin aufgewacht ist, das entspringt doch weniger einer klaren politischen Einsicht, als dem Wunsche, selber eine kleine Wilhelmstraße aufzumachen, selber Zentralbehörde und Ministerium zu spielen, selber die nötigen Ministerialdirektoren, Oberregierungsräte und Landtagspräsidenten zu stellen. Das führt zu den lächerlichsten Konsequenzen. Das fremde Volk der Hamburger bezahlt einen berliner Gesandten, Berlin und München verhandeln miteinander wie zwei kriegführende Mächte – und Ostpreußen –?

Ostpreußen sabotiert in aller Stille die Republik.

In diesem Lande, dessen Ideale alle mit ›Sch‹ anfangen – Schmand, Schnaps und Schwarz-Weiß-Rot – blüht eine Gesinnung, die sich seit Jahrhunderten nicht geändert hat. Bis zum Jahre 1914 hat sich auch niemand etwas dabei gedacht. Alles ging seinen alten Gang: Vaterland und konservative Gesinnung waren ein und dasselbe: der Landrat war allmächtig, der Amtsvorsteher war es noch fühlbarer: die Schule lehrte wenig, aber das tendenziös; die Verwaltung und die Rechtsprechung lagen in bewährten Händen – und im übrigen ließ man Gott einen guten, und Bebel einen schlechten Mann sein. Die spezifisch junkerliche Reaktion – gleichermaßen ein Produkt der Blutzusammensetzung wie der wirtschaftlichen Verhältnisse – hat ihrerseits nicht zum wenigsten zum schlechten Ruf des Deutschtums auf der Welt beigetragen. Und heute –?

Heute ist es schlimmer als je. Der Weltkrieg hat auf die Deutschen[69] überraschend gewirkt: dieselben Männer, die in Finnland und Rumänien Wache geschoben, in Jerusalem Schützengraben aufgeworfen und in Flandern gekämpft haben, kapseln sich heute in ihren Dörfern ein, unter Ablehnung der ganzen andern Welt. Oder sind es nicht dieselben? Warum dulden sie es dann? Nie war der Deutsche partikularistischer als heute, nie enger im Horizont, nie der Internationale abgewandter . . . Sie tun alle so, als ob sie allein auf der Welt wären. Ostpreußen vorneweg.

Der Korridor hat das seine getan. Königsberg war schon im Frieden viel weiter als die vierzehn Bahnstunden von Berlin entfernt – heute tut das Land, als bilde es eine Erde für sich und als sei niemand imstande, über Ostpreußen zu urteilen. Doppelt schwer, die Wahrheit zu sagen.

In einer kleinen Broschüre ist sie gesagt. ›Das ostpreußische Problem‹ heißt sie – und Karl Fischer ist ihr Verfasser. (Erschienen in der Deutschen Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte in Berlin.) Der Mut, mit dem hier an die schmerzhaftesten Stellen des Landes gerührt wird, ist doppelt anerkennenswert in einer Zeit, wo jede Stadt und jedes Land glauben, die Presse und ihre Berichterstatter seien nur noch zur Befriedigung der lokalen Meß-Interessen vorhanden. Hier ist endlich einmal in das Dunkel hineingeleuchtet worden. Eine gute Aufklärungsarbeit. Und wir lesen:

Ein Land mit dem Konservatismus, schwer wie ein alter Kavalleriestiefel. Die ganze Provinz ein einziger Kriegerverein. Der Landarbeiter hat stramm zu stehen vor dem »Herrn« und ihn mit dem alten militärischen Dienstgrad anzureden. Niemand vermag sich zwischen Anarchie und Knechtung ein Mittelding vorzustellen. »Der Arbeiter ist noch nicht reif!« (Aber sein Herr ist es . . . ) Der Reichsgedanke ist nur noch vorhanden, wenn man ihn bei feuchten Festen zur Weiherede braucht. Im übrigen . . .

Im übrigen herrscht ein Rechtsbolschewismus, der an Bayern gemahnt.

Kurz nach der Revolution war August Winnig Oberpräsident, eine Zeiterscheinung, die sogar Gustav Noske übertrifft. (Und das will etwas heißen.) Wie dieser Sozialdemokrat, kaum an die Macht gekommen, umschwenkte und all das verriet, was er jahrelang vertreten hatte, das zeigt uns wieder, wie man nicht ungestraft dicke Importen im Auto mit dem Gegner raucht. Das darf man nur, wenn man stark genug ist, sie zu vertragen. Dieser war es nicht. Beim Kapp-Putsch nahm er an dem Hochverratsversuch teil, blieb selbstverständlich straflos und steht jetzt in der Ecke: eine abgeklapperte Kleinbahnlokomotive, die auf Anschluß wartet. Vielleicht pfeift ihr eines Tages einer.

Der jetzige Oberpräsident Ostpreußens ist Herr Siehr, ein anständiger und ordentlicher Mann – aber ein Demokrat in des Wortes[70] schwächster Bedeutung. Wenn er die Naturgeschichte der preußischen Junker läse, so wüßte er, daß sie nur ihre eigene Sprache verstehen: nämlich die Faust. Alles andere halten sie für Schwäche. Er wird offenbar nicht mit ihnen fertig. Und so tanzen sie ihm denn in den Regierungsbezirken Allenstein, wo Herr von Oppen regiert, im Regierungsbezirk Marienwerder mit dem Grafen von Baudissin, in Königsberg und fast überall im Lande auf der Nase umher. Die Landräte tun, was sie wollen: das ist die Reaktion.

Auf das kräftigste werden sie dabei unterstützt von zwei Vereinen, die, mit dem ganzen schweren Gelde der Deutsch-Nationalen ausgestattet, unsägliches Unheil anrichten: von der Staatsbürgerlichen Arbeitsgemeinschaft und vom Heimatbund. Von Gayl und von Hassel sind die Väter dieser edlen Zwillingsbrüder.

Nirgends liegen so viel Waffen versteckt wie in Ostpreußen. Der Zusammenhang zwischen Verwaltungsbehörden, den Staatsanwaltschaften, der Reichswehr, den nationalen Vereinen, den Selbstschutzorganisationen und diesen Waffenschiebungen wird gerichtlich niemals zu erbringen sein. Es gibt in Ostpreußen keine Organe, die, vom Gerichtsdiener bis herunter zum Generalstaatsanwalt, wirklich eingriffen. Man kann nur vermuten. Und man darf vermuten, daß die Söhne und Schwäger der Landwirte und Großgrundbesitzer, daß die gesamte agrarische Sippschaft, auf Ämter und Dienststellen verteilt, zueinander hält wie die Kletten. Der Staat ist ihnen eine Pensionsanstalt und ein Mittel, die Macht zu halten. Sie halten sie.

Was die Herren von Brünneck, Dr. Brandes, von Weiß-Plauen, Lothar zu Dohna-Willkühnen, Eulenburg-Prassen, von Berg-Markienen und der sehr beachtliche Herr Hundertmark eigentlich treiben, weiß kein Mensch. Aber sie wissen es. Sie stehlen dem lieben Gott die Zeit mit überflüssigen Organisationen. Die Agrarier und die Industrie bezahlen es – und sie wissen, warum. Was dort alles an Orts–, Selbst–, Einwohner- und Grenzwehren gegründet wird, geht auf keine Kuhhaut. Die Ortskundigen gehen um diese Frage herum wie die Katze um den heißen Brei – auch die Broschüre Fischers drückt sich an dieser Stelle absichtlich sehr vorsichtig aus. Also ist das Land gestopft voll mit Waffen. Die ›Königsberger Volkszeitung‹ hat eben erst aufsehenerregende Enthüllungen über die versteckten Waffen gebracht – keine Sorge, man wird ein bißchen umpacken, und beim nächsten Festessen verständnisinnig grinsen. In den Köpfen ist die Republik ein vorläufiger Zustand, das ungesetzliche Treiben aber ist ein Unternehmen, die ›Ordnung wiederherzustellen‹, und wenn die Republik weiter so sanft träumt, wird man das auch erreichen. Berlin schläft.

Und ist furchtbar diplomatisch. Mit Müh und Not hat man jetzt eine besondere berliner Geschäftsstelle des Herrn von Gayl abgewehrt, die den Oberpräsidenten Siehr ausschalten wollte. Sei es, daß auch in[71] den berliner Stellen zu viel gute Freunde der Ostpreußen sitzen, sei es, daß man sich – immer mal wieder – nicht traut – genug: Hier geschieht nichts, und der Karneval da oben geht weiter.

Die Tannenbergfeier in Königsberg war ein offener Skandal. Unter Mitwirkung der Reichswehr des Herrn Geßler und seines unmittelbaren Vorgesetzten, von Seeckts, fand da ein Vogelschießen statt, das die Ermordung Erzbergers durchaus erklärt. Herr Ludendorff-Lindström ließ sich feiern, die Universität Königsberg verlieh ihm die medizinische Doktorwürde (weil er Deutschland gesundgebetet hat) – und das Ganze war ein offener Hohn gegen die Republik. Man stelle sich dergleichen umgekehrt unter Wilhelm vor! Berlin schlief.

Fischer, der sein Ostpreußen kennt, schreibt mit Recht, die Mär von dem unsicheren Ostpreußen sei eine Fabel. Damit begründet man die unlauteren Organisationen nicht. Man schade nur dem Lande. Aber das ist doch den Herren gleichgültig! Als man in der Vorbesprechung der Tannenbergfeier Herrn von Gayl darauf aufmerksam machte, daß eine sozialistische Gegendemonstration drohe (die auch machtvoll stattgefunden hat) und daß dieser Straßenlärm die Königsberger Messe schwer schädige, sagte er: »Und wir feiern doch!« Heer und Marine haben ihm – auf unser aller Kosten – dabei geholfen.

So geht es nicht weiter. Auf Herrn Dominicus ist kein Verlaß – von Herrn Geßler erwartet niemand etwas anderes als Teilnahmslosigkeit oder Parteinahme für die falsche Seite. Und die Richter? Das ostpreußische Schöffengericht in Zinten hat einen Kutscher zu drei Wochen Gefängnis verurteilt, weil er eine nationale Versammlung gestört habe. Der Vorsitzende wies in der Urteilsbegründung darauf hin, daß der Angeklagte nicht unter zwei Monaten Gefängnis davongekommen wäre, wenn man ihm hätte nachweisen können, daß er mit einem Stock in die Versammlung gekommen sei. Wagt der Deutsche Richterverein die politische Einstellung seiner Mitglieder auch zu bestreiten, wenn man ihm die Bagatellstrafe des osnabrücker Totschlägers, des Husaren Esser, vorhält, der in einer Versammlung des Herrn von Gerlach mit einem Revolver erschien und dort einen Menschen niederschoß?

Die Broschüre Fischers möge gelesen werden. Denn die Gefahren, die uns umwittern, liegen hauptsächlich in der Provinz. Da blüht das alte schlechte Deutschland.

Tante Malchen ist tot. Um einen großen Tisch sitzen die notleidenden Agrarier, sie sehen nichts von der Schönheit ihres Landes, nichts von der Süßigkeit eines Herbstes an der Samlandküste, nichts von ihren alten Wäldern, nichts von ihren Seen. Feist und satt, das verschwitzte Lodenhütchen auf dem linken Ohr, eine Batterie Likörflaschen vor sich, pfeifen sie auf die neue Zeit. Bei uns in Kopischken? »Jibt nich!«

Wir schicken Missionare in die fremden Erdteile. Wir sollten etwas innere Mission treiben zur Stärkung neuer Gedanken, zur Unterstützung[72] der versprengten Geistigen, die da oben leben und die tapfer kämpfen. Eben erst jetzt hat sich eine kleine Wochenschrift zweier tapferer junger Leute in Königsberg aufgetan – ›Der Montag im Osten‹ –, und es ist ihr aller Erfolg zu wünschen.

Hinterm Korridor wohnen auch Deutsche. Man sollte die paar tausend Radaubrüder entfernen und unschädlich machen. Und eine blühende Provinz wäre dem Deutschen Reich wiedergegeben.


  • · Ignaz Wrobel
    Welt am Montag, 17.10.1921.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 69-73.
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