Gegen die Arbeiter? Allemal –!

[92] Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!

Matthäus 7, 1


Es gibt Mädchen, die verkaufen ihren Leib, weil die Not sie dazu zwingt, und wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und es gibt Mädchen, die geben sich mit fünf Kerlen auf einmal ab, weil ihnen einer nicht genug ist und weil fünf mehr schenken als einer. Und es gibt solche, die die Nächte durchtanzen, und solche, die wegen des dünnsten Ringes einem Mann auf die Bude gehen – in dieser Hinsicht gibt es alle Sorten. Und weil der Körper das Eigentum des Menschen[92] ist, so hat das jede mit sich abzumachen. Peinlich wird die Angelegenheit erst dann, wenn eine Liebe und Reinheit vortäuscht und mit der Seele kokettiert, wo sie doch die neuen Stiefletten meint, die jener ihr kaufen soll, – ungemein unangenehm wirds erst dann, wenn eine sich rein, unberührt und anständig gibt – im Grunde ihres Herzens aber ein verdorbenes Frauenzimmer war ihr lebelang.

Aber ich wollte ja etwas von der deutschen Justiz erzählen.

Die Mitglieder der studentischen Verbindung Thuringia bewahren bis zum 1. September dieses Jahres in ihrem Klubhaus Waffen auf, die sie von einer ›Eisernen Eskadron‹ erhalten haben wollen, also von einem jener ungesetzlichen Verbände, die so viel Unheil und Blutvergießen in Deutschland angerichtet haben. Die Studenten führen vor Gericht an, ihre Harmlosigkeit gehe schon daraus hervor, daß sie von den Waffen beim Kapp-Putsch keinen Gebrauch gemacht hätten. Das ist gütig und sicherlich ein mildernder Umstand – ja, es wäre zu erwägen, ob man solche Herren nicht aus dem § 51 wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit freisprechen soll. Denn wer Waffen hat und auf die Regierung nicht schießt . . . Mehrere Arbeiter, die von diesem Waffenversteck hören, holen die Waffen heraus, wozu sie keine Berechtigung hatten – sie geben sich als Beamte aus – die Waffen verschwinden. Und jetzt werden beide Gruppen unter Anklage gestellt: die Studenten und die Arbeiter.

Beide haben genau das gleiche ausgefressen: sie haben Waffen verheimlicht und so das Entwaffnungsgesetz übertreten.

Die Studenten werden freigesprochen. Einer der Arbeiter erhält wegen Diebstahls und Vergehens gegen das Entwaffnungsgesetz vier Monate Gefängnis und 1000 Mark Geldstrafe. Soweit das Amtsgericht Charlottenburg.

Der Fall ist sehr charakteristisch. Einzig ist er nicht. Die vierte Strafkammer des Berliner Landgerichts I hat eine Reihe Arbeiter zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie unberechtigter Weise Waffen verheimlicht hatten.

Lohnt es wirklich, zum tausendsten Male nachzuweisen, wie hier klare und arbeiterfeindliche Politik getrieben wird?

Wie diese Dinge uns schaden, ist klar; wie das gegen uns die Entente aufbringt, die doch immerhin das Heft in der Hand hält (sie und nicht die Reichswehr!) – ist jedermann verständlich. In Sachsen ereigneten sich solche Waffenfunde – die französischen Berichterstatter konnten sich nicht genug tun in Berichten; die Waffen heckten, es wurden immer mehr – und die Wirkung auf die pariser Nationalisten war erreicht.

Wie geht es denn bei uns zu –?

Das Ding fängt beim Ermittlungsverfahren an. Die Organe der Staatsanwaltschaft haben gelernt, in jedem Arbeiter einen Feind des Staates zu sehen, der von der Obrigkeit – also von ihnen – mit allen[93] Mitteln heranzukriegen ist. Wer mißt den Eifer eines Staatsanwaltes, wenn er gegen Arbeiter und wenn er gegen eiserne Eskadronisten vorgeht? – Für den Richter sind jedenfalls die Akten das allein Seligmachende, die Kammer, die den Eröffnungsbeschluß macht, ist damit leichter bei der Hand, als wenn sichs um ein Wiederaufnahmeverfahren handelt – und das Gericht . . . ? Das Gericht ist zuverlässig. Zuverlässig republikanisch natürlich. Was dachten Sie –?

Eine Regierung, die tatsächlich keine Macht und keine willigen Organe besitzt, um die Entwaffnung ehemaliger Offiziere und Freikorpsführer durchzusetzen, die keinen einzigen militärischen Kapp-Kerl in ihre Gewalt gebracht hat, die kommunistische Wasserträger aus dem Ruhrrevier fängt und Herrn Boldt, Herrn Vogel, Herrn Kapp, Herrn Ehrhardt laufen läßt: diese Regierung sieht sich politische Heldentaten deutscher Richter an, die so aussehen:

Die Brigade Ehrhardt hat eine ›geheime Kampforganisation‹ und eine ›Feme‹, die sich über ganz Deutschland erstreckt; Bestrafungen erfolgen nicht. – Vier junge Revolutionäre aus Wilhelmshaven, W. Bock, K. Jörn, Fr. Tetens und Fr. Weiland, werden zu insgesamt 23 Jahren Festung verurteilt. Sie haben in den ersten Unruhen der Revolution, deren staatsrechtliche Bedeutung nie geklärt worden ist, ›Hochverrat‹ begangen. – Ein chemnitzer Schneider gibt einer münchner Entente-Kommission verborgenes Kriegsmaterial an: er bekommt ein Jahr Gefängnis wegen Verrats militärischer Geheimnisse (die diese militärisch gänzlich bedeutungslose Reichswehr gar nicht mehr hat). Die Verheimlicher der Waffen werden nicht genannt. – Borkumer Badegäste, darunter Angehörige der besseren Stände – vielleicht auch Richter? vielleicht auch Staatsanwälte? – reißen die schwarz-rot-goldene ›Judenfahne‹ von allen Strandburgen und prügeln die Insassen heraus. Eine Bestrafung erfolgt nicht, auch dann nicht, als eine Teilnahme von Reichswehrsoldaten an diesen Vergehen nachgewiesen wird. – In Hamburg reißt ein Deutschnationaler Student die Fahne der Republik bei einer Universitätsfeier herunter; der Staatsanwalt schreitet nicht ein. – In Düren holen drei Sozialdemokraten die Fahne Wilhelms II. herunter, mit der die Deutsche Volkspartei am Beisetzungstage der Exkaiserin gegen die Republik demonstriert. Sie erhalten jeder drei Monate Gefängnis. – Der kommunistische Parteisekretär Ewert sitzt sechs Monate in strengster Untersuchungshaft, dann wird er vom Reichsgericht von der Anklage des Hochverrats freigesprochen. – Ein Kriegskrüppel, der mit Zigaretten handelt, schlägt einen halben Pfennig auf die Zigarette zu viel auf und wird vor Gericht gestellt. – Zwei Beamte der Sicherheitspolizei, Schreiber und Donaty, ›beschlagnahmen‹ widerrechtlich Zigaretten (das heißt also: rauben sie) und verkaufen den Raub. Sie erhalten Mindeststrafen und Strafaufschub. – Die belanglosesten Mitläufer des mitteldeutschen Aufstandes erhalten[94] drakonische Strafen. – Adlige Waffenschieber werden sofort aus der Haft entlassen – eine Bestrafung erfolgt nicht.

So sieht die deutsche Justitia aus.

»Die Republik«, sagt Linke Poot in seinem außerordentlich witzigen Band ›Der deutsche Maskenball‹ (bei S. Fischer), »die Republik war von einem weisen Mann aus dem Ausland ins Heilige Römische Reich gebracht; was man mit ihr machen sollte, hatte er nicht gesagt; es war eine Republik ohne Gebrauchsanweisung.« Sie fehlt eben, und so stehen denn noch heute alle diese Regierungsrepublikaner herum und ahnen nicht, daß die schlimmste, die tödlichste Gefahr in ihren eigenen Ämtern hockt. Streng auf dem Boden der gegebenen Tatsachen.

Jagt die Republik einen solchen Richter fort? Ach, die Unabhängigkeit der Richter –! Und wie ist es mit der Unabhängigkeit der Gerechtigkeit?

Die Zweiklassen-Gerechtigkeit sitzt in den Köpfen jener Juristen so tief, daß sie sich gar keine Vorstellung mehr davon machen können, wie schief die Dame Justitia ihre Achtgroschen-Waage hält. Unverbindliche Gespräche gut gedrillter Korpsstudenten sind doch ›seffa-ständlich‹ keine Delikte, – wüstes Kneipengejohle verhetzter Arbeiter wird unnachsichtlich verfolgt. Preußische Minister des Innern hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor – nun, ein Bilderbuch von George Grosz (aus dem Malik-Verlag) ›Das Gesicht der herrschenden Klasse‹ haben sie – und schon ist es beschlagnahmt. (Die karikierten Opfer des genialen Zeichners laufen alle noch frei umher.) »Es scheint mir überhaupt ein Erbfehler der Deutschen«, hat der junge, im Kriege getötete Otto Braun einmal gesagt, »ihre Gemeinheiten immer ethisch rechtfertigen zu wollen.« Wir dürfen hinzufügen: auch juristisch tut man es.

Die Wirkung ist ganz, wie sie Roda Roda einmal, es war im Jahre 1906, geschildert hat: ein Mann erfindet ein Justizklavier, man stellt die Hebel ein, drückt – und unten fällt das fertige Urteil heraus. Aber . . . »Pedale muß das Justizklavier haben. Lassen Sie auf das Pianopedal etwa eine fünfzackige Krone malen und auf das Fortepedal lassen Sie schreiben: Sozialdemokrat!« –

Das Mädchen Justitia spielt munter auf dem Klavier. Piano und forte, wie es trifft. Es ist ein feines Mädchen. Mild ist sie gegen Adel, Studenten, Offiziere, Nationale.

Da wird nicht zugeschlagen.

Aber gegen die Arbeiter?

Allemal.


  • [95] · Ignaz Wrobel
    Welt am Montag, 05.12.1921.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 92-96.
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