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[421] »Dieser unaufhörliche Musiktrieb gab ihm zu denken. ›Der Blinde hört gut‹, fiel ihm ein. An Stelle des verkümmerten Sehens scheinen die meisten Menschen eben mit etwas musikalischem Schwachsinn behaftet. Auch ist ja insofern Musik die bequemste Kunst, als ihre Reproduktion bereits die Illusion selbständiger Schöpfung gibt. Schließlich gilt es schon beinah als eine Art Leistung, in einem Konzert gewesen zu sein. Er dachte: schlappschenklig dasitzen, dösend recipierend, ohne daß die dicken Augenlider dabei aufgehen müssen, das ist bei übriger Denkfäule und Stagnation noch eben möglich. Hatte aber etwa ein Fremder hier noch nicht jedes Musikwerk und in jeglicher Bearbeitung gehört, wich man vor ihm zurück wie vor einem Aussätzigen, kam sich maßlos überlegen vor.«
Sir Galahad
Der Bürger mitteleuropäischer Staaten hat es mit der Kunst; darauf ist er sehr stolz. Das macht er so:
Papa liest in den Abendstunden ein ›gutes Buch‹, womöglich eines, das seiner alten Schulbildung schmeichelt und über das man nachher wunderschön reden kann. Mama liest den neuen Roman, in dem sie die Fährnisse der Geschlechtlichkeit erlebt wie ein alter Matrose die Beschreibung fremder Stürme – Ellychen liest denselben Roman heimlich, und dabei puppert ihr nicht nur das Herz; Karl war in der Kunstausstellung und erklärt die grünen Bilder für ›blödsinnigen Kitsch‹ und die roten für ›außerordentlich modern‹. So tut jeder, was er kann.
Das bliebe ja nun das Privatvergnügen der Herrschaften, wenn sie sich nicht noch gar so viel darauf einbildeten. Sie halten diesen Kunstrummel ernsthaft für das, was sie in ihren Salons ›Kultur‹ nennen – und sie glauben ebenso ernsthaft, es sei bereits etwas, wenn einer mehr oder minder gescheit über Hodler, die Epigonen C. F. Meyers, Honegger und Rodin mitreden könne. Es gibt auch schon eine ganze Menge Familien, in denen die Kunst ohne Snobismus gepflegt wird, recht vernünftig und gemessen – aber welche Überschätzung dieses Tuns –!
[421] Es ist natürlich immer noch besser, wenn sich kleinere Gesellschaften über Strawinsky unterhalten, als daß sie pokern. Ich halte nur den Unterschied nicht für gar so gewaltig. Um das begreiflich zu machen, denken wir ein bißchen an eine Salon-Unterhaltung aus dem achtzehnten Jahrhundert, die wir imaginär miterleben wollen. Eine halbe Stunde unsichtbarer Gast in einem solchen Kreis, der sich die Zungen über die kleine Modeliteratur des Tages, über die Malerchen und Musikerchen zerbricht – und wir sprächen: »Sonst haben die Herrschaften keine Sorgen –? Das ist es, womit ihr euch beschäftigt? Seht ihr nicht um euch? Wie es den Bauern geht? Wie es in euern verlausten Gefängnissen aussieht? Wie die Warenproduktion geregelt ist? Daß Mädchen von ihren Aushältern gequält werden –?« Indigniert hätten sich alle Lorgnonträger abgewandt . . . Welch ein kulturloser Flegel!
Es ist heute genau so.
Sie sind nicht nur stolz auf die Tatsache, daß sie Kunst genießen – noch viel stolzer sind sie, wenn sie ein Urteil fällen. Ein junger, begabter Dramatiker Frankreichs, Marcel Belvianes, schrieb mir jüngst: »Der Leser fühlt sich dem Autor überlegen, einfach durch die Tatsache, daß er sein Urteil über ihn abgibt.« Moderne Literatengespräche, moderne Kunstgespräche unterscheiden sich in nichts von einer Börsenunterhaltung: notierte und unnotierte Werte schwirren in der Luft umher, der ist gut, jener ist besser, der dritte ist ganz schlecht – und eine hitzige, völlig sinnlose Debatte hebt an und endet nie. »Wie findest du Rilke? Wie, du findest ihn gut? Findest du ihn noch gut oder schon wieder gut? Malt Klee besser als Cézanne? Und ich sage dir, Pfitzner ist kein Wert für die moderne Musik . . . « Man kann das jahrelang fortsetzen. Der Kunsttrottel aber ist in seinem Kram so befangen, daß er ehrlich glaubt, mit diesem Geschwätz eine Leistung vollbracht zu haben.
Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte. Er sehe sich einmal alte literarische Zeitschriften an, ältere Kunstbücher – und er wird staunend erkennen, wie wenig bleibt: die Vokabeln, die Begriffe, die Schlagworte haben gewechselt, zergangen ist alles wie Staub im Wind.
Und es ist mit Recht vergangen.
Fragt mich einer nach den letzten schweizer Musikern, so fangen meine Gedanken an, zu wandern, und ich frage dagegen, ob es wahr ist, daß in gewissen schweizer Gefängnissen absolutes Sprechverbot besteht. Besteht es, dann können mir sämtliche schweizer Kunstbewunderer den Buckel herunterrutschen und ihre braven Frauen hinterdrein. Besteht es nicht, dann wollen wir weiter sehen.
Kunst ist in gemäßigten Bürgerkreisen ein Gesellschaftsspiel. Sie hat genau den Wert eines solchen und wiegt nicht ein Gramm mehr.[422] Richard Strauss, die Wertung des Kellerschen Einflusses auf die moderne Prosa, blinde Kuh, italienische Frühgotik und französische Spätrenaissance – es geht alles in einem hin. Dafür gibt es einen schlüssigen Beweis.
In dem Augenblick, wo solche Kunst Tendenz wird, spielt der Bürger nicht mehr mit. Er, der so entsetzlich stolz ist, wenn in seinem Literaturvereinchen Georgesche Verse mit denen Valérys verglichen werden, erstarrt zu Eis, wenn solche Verse etwa den Aufschrei einer vom Arbeitgeber gequälten Kreatur wiedergeben. Nur sehr große Snobs sprechen dann noch von der ›Schönheit der Form‹ –. Die andern gehen lieber zu Proust über. Nur nichts ändern –!
Und diesem Getu ist entgegenzusetzen: alles ändern.
Das bürgerliche Kunstspiel ist die Ablenkung vom wesentlichen. Es führt zu gar nichts, als ohnehin satten Leuten die Zeit zu vertreiben. Es ist an sich vielleicht nicht schädlich – aber es wird maßlos überschätzt, und es wird bewußt überschätzt, weil es so schön ungefährlich ist, weil kein Zinswucher, keine Ungerechtigkeit des Besitzes an Grund und Boden, keine Agrarreform damit verbunden ist. Ein Musikenthusiast frißt selten andre Menschen.
Soweit also die bürgerliche Kunstduselei keine Lüge ist, die den vom Wucher ermatteten Kaufmann abends freundlich aufheitert wie der Rundfunk und ihm die Möglichkeit gibt, einen richtigen – denken Sie nur! – ›Salon‹ aufzutun – ist sie gleichgültig. Hie und da unnütz. Auf alle Fälle unbeträchtlich.
Nicht das ist Kultur, daß irgendein Oberlehrer schöne Verse nachzuschmecken vermag, ein Musikstück versteht, ein Gemälde zeitlich richtig einordnet – nicht das ist Kultur. Das ist überkommenes Spiel.
Wertvoll darf heute ein Volk genannt werden, wenn seine Polizei in Ordnung ist. Wenn seine Geschworenen keine Mörder freisprechen, die unbequeme Reformer aus Rache ermorden. Wenn seine Arbeiter arbeiten können und dabei ihr Auskommen finden. Wenn die Verteilung von Einkommen und Lasten gerecht verteilt ist. Dann mögen sich die Leute die Köpfe über die Lyriker heiß reden. Aber erst dann.
Denn es kommt eben nicht mehr darauf an, welches Land die schönsten Theaterstücke, die besten Tänzer, die kompliziertesten Musiker hervorbringt, sondern es kommt darauf an, daß jeder tätige Mensch gesund und anständig wohnt, sich gut nährt, sich waschen kann und sein Leben nicht den Wirtschaftsoperationen des Staates schuldet. Dafür zu sorgen ist wesentlich undankbarer, weniger amüsant, mitunter gefährlicher als Fräulein Minna die Schönheiten Thomas Manns schwärmend auseinanderzusetzen.
Die Kultur fängt da an, wo Bankdirektors aufhören: bei der tätigen radikalen Politik, die die Welt nach oben reißen will.
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Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
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1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
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