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[440] Mir ist in ganz Frankreich, in Paris und in der Provinz, ein Menschentyp aufgefallen, den es in Deutschland kaum noch gibt –: der Neutrale. Das ist so:
Am Sonnabend nachmittag kommt eine Hausbesitzerin aus ihrem kleinen Haus herausgestürzt, in dem sie wohnt, und macht unten dem[440] Posamentierwarenhändler große Vorwürfe: er verbrauche zuviel Wasser, um das Trottoir zu reinigen. Die Frau scheint angetrunken und vollführt auf der Straße großen Spektakel – beides für hiesige Verhältnisse eine außerordentliche Seltenheit. Drum herum stehen etwa zwanzig oder dreißig Personen, die da auf Bekannte warten, Leute, die in der Nähe Einkäufe machen, die schon vor dem Zusammenstoß da gestanden haben. Und nun begibt sich . . .
Und nun begibt sich gar nichts.
Nicht einer mischt sich ein. Nicht einer gibt laut sein Urteil ab. Nicht einer belehrt die Frau, den Posamentierwarenhändler, die andern. Alle bleiben neutral. Der Zank ist eine Sache, die nur die Beteiligten angeht.
Und das kann man in Frankreich tausendfach sehen: auf der Straße und in der Bahn, im Restaurant und im Theater. Die Leute kümmern sich nicht um einander. Um das ganz zu verstehen, muß man sich die Lage in Deutschland vergegenwärtigen.
Da kümmern alle sich um alles. Jeder reibt sich an jedem. Benimmt sich einer schlecht, so sind gleich zwanzig da, die ihm das sagen, dreißig, die Partei gegen die zwanzig nehmen, und hundertundfünfzig, die ihre individualpsychologischen, wirtschaftspolitischen und allgemeinen Erwägungen an diesen Fall lehrhaft knüpfen. Das gibts hier nicht.
Denn der Deutsche ist nicht nur ein Schulmeister, sondern vor allem ein öffentlicher Schulmeister. Er belehrt die Welt, er nimmt sie entsetzlich ernst, und besonders da, wo sie das gar nicht verdient, wo es nicht lohnt. Bei deutschen Zwischenfällen hat man immer das Gefühl, als seien sie nur Anlaß zur Entladung aufgespeicherter Energien, die nur darauf gewartet hätten, herauszupuffen. Die Deutschen sind mit Offensivgeist getränkt. Der Aufwand an Radau steht meist in gar keinem Verhältnis zur Sache – aber das Prinzip, das Prinzip muß durchgefochten werden.
Die allgemeine Nervosität, die viel mehr ist als nur das, liegt auf der Lauer. Die Luft ist geladen. Ein unbedachtes Wort – und der Straßenbahnwagen verwandelt sich in eine Tobsuchtszelle. Belehrend, protestierend, gegen den Protest aneifernd, schreiend, rechthaberisch – so keifen sie durcheinander.
Schwer, einem solchen Volk begreiflich zu machen, daß die ›Atmosphäre‹ eines französischen Coupés, eines Restaurants, eines Wartesaals nicht vorhanden ist. Man kann es nicht anders ausdrücken: sie ist nicht vorhanden.
Die Leute sitzen stundenlang nebeneinander und sprechen kaum ein Wort mit Fremden. Sie fahren lange zusammen und zanken sich nicht über Politik. Kommt überhaupt ein Gespräch zustande, so bleibt es höflich-neutral, bewußt an der Oberfläche, sehr, sehr zurückhaltend. Es ist eine Wohltat für deutsche Nerven.
[441] Haß und Liebe werden nicht öffentlich begründet. Man spricht Frauen nicht auf der Straße an; sie mögen es nicht einmal. Das ›Ekel‹ ist so gut wie unbekannt. Die Leute noch in den kleinsten Städten sind viel großstädtischer als die Berliner, die sich gar so viel darauf einbilden. Die Franzosen wissen aus einem jahrhundertealten Instinkt heraus, daß es nicht lohnt, jede Kleinigkeit bis zum Äußersten zu verfolgen, daß es sich mit Höflichkeit bequemer lebt, daß es praktischer ist, sich anständig zu benehmen. Nur abgeschliffene Steine stoßen sich nicht.
Was geschieht bei einer französischen Auseinandersetzung?
Die Gegner versuchen, einander zu überzeugen. Es wird materielles Recht abgehandelt, keine Prozeßordnung. Es wird gesagt: »Dieses Glas hat einen Fehler – ich mag nicht den vollen Preis bezahlen!« Und: »Alle meine Gläser sehen so aus – urteilen Sie selbst!« Und: »Dann sind eben alle Ihre Gläser fehlerhaft – ich kann dafür nicht den vereinbarten Preis bezahlen!« Es wird aber nicht gesagt: »Vor allen Dingen benehmen Sie sich mal in diesem Geschäft anständig!« Es wird aber nicht gesagt: »Ich verbitte mir . . . « Und das dritte Wort ist: Arrangement. Capus: »Alles im Leben endet mit einem Arrangement.« Im französischen Leben unbedingt.
Streitende wissen hier aus Instinkt, daß nie einer ganz recht hat und der andre ganz unrecht. Man trifft sich in der Mitte. Und man kann das umso leichter, als jeder Franzose das ist, was unsre Kaufleute ›kulant‹ nennen. Und er kann das sein, weil seine ›Ehre‹ nicht davon berührt wird, wenn er nachgibt. Wer etwas durchgesetzt hat, ist kein Sieger – wer nachgegeben hat, kein Unterlegener. Diese Betrachtungsweise fällt hier fort – sie mutete den Franzosen etwa so an wie die Frage, ob das neue Musikstück mehr auf den schwarzen als auf den weißen Tasten gespielt wird. Die Frage stellt sich nicht.
Es sind keine Engel – und zutiefst ist das Verhältnis des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber ökonomisch begründet, wenn auch patriarchalisch abgeschwächt. Es ist ein ›Noch‹ – es ist kein ›Schon‹. Nur ist dieses vollendete ›Noch‹ dem durchlöcherten ›Schon‹ tausendmal überlegen. Und aus Klugheit, aus Weisheit selbst, sind so viele Beziehungen zwischen Menschen in Frankreich neutralisiert.
Da wird nicht ›Stellung genommen‹, da wird nichts ein für allemal entschieden, wenn ein kleiner Hund in den Briefkasten fällt, da wird nicht zur Geschäftsordnung gesprochen, und da gibt es keine Probleme, keine Einstellung und kein Holterdipolter. Es gibt – in allen Schichten – nur vernünftige, sehr klare, sehr rationelle Menschen, die in Kleinigkeiten keine Prestigefragen kennen.
Ich las neulich, daß der deutsche Rundfunk doch auch Anstandsunterricht geben könne, etwa: wie man den Kellner behandeln soll, wie man ihn zum Zahlen zu rufen habe . . . Unmöglich, das einem Franzosen[442] klarzumachen. Eine Fragestellung über solche Dinge liegt außerhalb seiner Vorstellungswelt. Zum Kellner spricht er wie zu aller Welt: ohne verhaltenen Grimm, ohne Oberhoheit, neutral. Das macht: er ist kein Ritter, der im Visier schlottert und daher mit dem Schwert rasselt, wie es der Selige zu tun pflegte. Er ist ein Mensch, einfach ein vernünftiger Mensch. Es ist die Humanität, die in Frankreich in ausnahmslos allen kleinen Vorgängen des Lebens siegt. Gewiß nicht immer in den großen.
Und wie viele Deutsche im Leben unendlich weit von Humanität entfernt sind, weil sie glauben, Menschlichkeit und Sentimentalität sei eins, das merken wir erst im Ausland.
Es ist selbstverständlich nicht richtig, wenn etwa behauptet wird, im Ausland klappe alles besser, sei alles besser, schmecke alles besser. Dergleichen sagen kleine und große Moritze aus Frankfurt am Main.
Aber das öffentliche Leben im westlichen Ausland spielt sich geräuschloser ab, glatter, geölter. Man findet viel mehr Bereitwilligkeit bei allen Leuten, und die ist ganz grundsatzlos, nicht etwa diktiert von dem Wunsch, ›durch gesittetes Benehmen den für das Land nützlichen Faktor des Fremdenverkehrs zu heben‹. Davon ist gar keine Rede. So lange man von den Franzosen nichts weiter will als eine Auskunft, als für sein Geld zu fahren und zu sitzen, zu plaudern und zu leben – so lange gehts ausgezeichnet. Aber das ist schon sehr viel, Welch eine Fülle von Arger in Deutschland, von Nervenbelastung, von Konfliktstoff! Und wie unnütz und überflüssig ist das –! Wie vertan der Aufwand, lächerlich das Gespreize, gockelhaft das Kollern von Männern, die ihren Bezirkskommandos gegenüber nie gewußt haben, was Freiheit ist –! Sklaven auf dem Maskenball, als freie Männer verkleidet. Freigelassene.
Ich bin dem Herausgeber dieser Blätter dankbar, daß er meine hymnischen Ergüsse aus meinen ersten pariser Tagen nicht zum Druck befördert hat. Sie waren verständlich – ich kam aus dem schlimmsten Inflations-Deutschland in die Freiheit –: aber sie waren falsch, weil gar zu subjektiv. Heute hingegen nach Jahren, wo der erste Rausch verflogen ist, und wo ich Frankreich nüchterner, aber viel klarer ansehe als damals, wo ich auf den Knien lag und so nicht viel sehen konnte – heute erkenne ich, was den ungeheuern Vorzug dieses Landes ausmacht. Es ist die Humanität, die Neutralität des öffentlichen Lebens.
Wir aber sind auf unsre Fehler stolz und bemühen uns – oho! –, sie nach Kräften zu vergrößern.
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