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[449] Namentlich hat Heine große Furcht vor dem reisenden Vaterlande.
Ludwig Wihl, Oktober 1837
»Jetzt war ich rund. Trat der Jungfrau von Orleans, die herausfordernd ihre goldene Standarte auf der Place Rivoli in die Wintersonne reckte, keck entgegen. Weise dich wieder aus, Dame! Kein gealteter Bernard Shaw macht als Symbol einer hysterischen Protestantin, kein Joseph Delteil dich uns Heutigen als Gleichnis einer geilen Kuhmagd, die nach Stall und –«[449]
Ja, wer tommt denn da –? Ja, wo hattu denn dein Wehwehchen? Wer ist hier so keck? So rund? So erschröcklich verwegen –? Es ist nur Sternheims Carl, den sie nach Paris hereingelassen haben, und das traurige Ergebnis ist ein Heft, »Heinrich Heines Unsterblichkeit gewidmet« und ›Lutetia‹ betitelt, ›Lutetia, Berichte über europäische Politik, Kunst und Volkswesen 1926‹. Das Buch ist nach dem Rezept jenes hamburger Maurermeister gearbeitet, der da sprach: »Erst bau ich 'n Haus, nöch? Und dann mach ich 'n büschen Stil an!« Dieser Stil zum Beispiel ist so:
»Jetzt wird Ordnung in mir, der Standpunkt ist klotzig da!« – »Dreißig bedeutende französische Menschen, mich mit ihnen bekannt zu machen, hatte ein pariser Bekannter abends zu sich geladen.« – »Und damit erscheint zu dem das westliche Europa vernichtenden, verpestenden Phänomen, aus Befangenheit vor erledigten Metaphern keine zeitgenössische Urteile bilden zu wollen . . . « – Am schönsten offenbart sich die Grammatik des ehemaligen Komödiendichters an der Stelle, in der man das Wort ›deutsch‹ beachten wolle: »Ich bat eine junge Dame, der ich auf den Fuß getreten hatte, um Verzeihung, Tut nichts, rief sie deutsch, man ist es, Männer denken, spazierengehend, Problemen nach, wieder gewöhnt.«
Dies ereignete sich dem Buch nach in Paris.
Was mir an den Besuchen des ›reisenden Vaterlandes‹ in Paris ausnahmslos auffällt, ist die maßlose Selbstüberschätzung, die hier ein wenig provinziell wirkt, sowie die Überschätzung der eigenen Wirkung. Sieht man von den jüngsten Beispielen ab, unter denen ein älteres Stiftsfräulein der deutschen Literatur abwechselnd als précieuse ridicule und als Schulamtskandidat Germaniae auftrat, so ist Sternheims Büchelchen der billigste Artikel in dieser Branche. Was er über Paris schreibt, ist von vorn bis hinten falsch.
»Am infamsten, wie der allgemeine Verzicht, selbständig zu sein und fühlen zu wollen, der Frau äußere Erscheinung in Grund und Boden gerammelt hatte. Jede war zu einer der Nachbarin aus demselben Milieu gleichenden Larve erstarrt und fertiggepinselt –« Falsch. Eben das gilt in einem kultivierten Lande nicht als Originalität, sich eine Zigarrenkiste auf den Kopf zu setzen, um nur ja anders auszusehen als der Nachbar, und eine Sechserindividualität verfängt in Frankreich kaum. »Immer noch werden bei Duhamel Hamp Radiguet Morand de Montherlant Valéry Cocteau . . . Spleene der Herrschenden verherrlicht.« Abgesehen davon, daß diese Reihe, deren Glieder ums Verrecken nicht durch Kommata getrennt werden, etwa der Zusammenstellung: Albrecht Schaeffer, Max Kretzer, Rilke, Loeser u. Wolff entspricht, soll der Monokeljunge eine Stelle, eine einzige, bei Pierre Hamp, dem Schilderer der menschlichen Arbeit aufzeigen, in der Spleene der Herrschenden verherrlicht werden. Er hat wahrscheinlich niemals ein Buch dieses Schriftstellers in der Hand gehabt.
[450] Er spricht mit der Comtesse de Noailles, die das Unglück hat, deutsche Literaten in Flegel zu verwandeln: nach der letzten Unruhe nun dieser. Der nennt sie »eine herrlich aussehende Frau«, schreibt von ihr, sie habe ihn »unter den kaum vorgestellten, die uns gespannt umstanden, auf einen Stuhl« genagelt – im übrigen gleicht er vor ihr dem Liebhaber eines kleineren Sommertheaters.
»Der Sieger im Weltkrieg nimmt neugierigen Anteil an deutscher Literatur, den er nie vorher bewiesen hat.« Falsch. Bis auf eine gewisse Literatengruppe kümmert sich der französische Leser wenig um ausländische Literatur; vier pariser Salons sind noch nicht Frankreich, und die beiden Länder kennen sich nicht gut. Sternheim weiß von Paris wenig, aber dieses wenige hat er nicht verstanden. Unerträglich wird er erst, wenn er sich sein Monokel aufsetzt und pariser Restaurants, Frauen, Baulichkeiten, Läden und Theater vorbeidefilieren läßt, wobei sich denn freilich der heimliche Sachse, der in ihm steckt, offenbart, wenn er von einem Restaurant ›Boccardi‹ schreibt; zwar sind dort die Spaghetti weich, aber das B ist hart, und der Mann heißt Poccardi.
In dem Buch ist gleichfalls von Berlin, von München, von der Schweiz die Rede, und das mögen die einzelnen Orte mit ihm auspauken. Es lohnt nicht recht, denn er steht noch bei jenem wilden Inflationshaß auf Deutschland, bei jener kindischen Überschätzung der Fremde, weil sie die Fremde ist – und leider spricht er auf jeder dritten Seite auch von sich selbst, das ist keine sehr interessante Landschaft.
Wir hören von Van Gogh, »dessen Lebensbeschreibung aus meiner Feder im . . . Verlag das heutige Publikum nicht genügend liest«. Recht hats. Und wir erfahren, daß der Palmnickener Anzeiger für Stadt und Land an Dichter Sternheim eine Rundfrage gerichtet hat (»Gibt es eine christliche Dichtung und wie sehen Sie ihr Bild, oder was spricht dagegen?«) – und auf dieses Gelalle antwortet er mit einem Fleißaufsatz, dem die Note IV/V zu geben ich mich in die traurige Lage versetzt sehe. Und wir erfahren, daß er im Kriege zunächst in Belgien gewohnt hat . . . »Bei unserm Fortgang auf elendem Einspänner bei strömenden Regen hatte ein Teil der Dorfbevölkerung, unser belgisches Personal, das den Wagen umstand, Tränen in den Augen.« Das war damals, Carl, als dir die Köchin, die dir immer deine Aufsätze korrigiert, noch ein Buch auf den elenden Einspänner reichte: es war die deutsche Grammatik. Aber du wendetest dich ab und sprachst: »Nicht brauche sie ich« – und die Grammatik fiel in den Modder, und da liegt sie heute noch. Und wir erfahren, wie er massiert worden ist: »Meine Masseure im Bad waren so unvergleichliche Kerle, wie ich sie in der ganzen Welt nicht getroffen habe . . . Diese meist über fünfzig Jahre alten Burschen von morgens bis abends in heißem Wasser mit hundertundzwanzig Mark Monatsgehalt stehend . . . « Vor solchem Stil lob[451] ich mir die Kindsmagd Marie. »Jedes Mal bei der Fahrt durch das milchfließende Allgäu fällt mir unser niederbayerische Kindsmagd Marie ein, die, als ich sie beim Apfelkompottessen eines Verstoßes wegen zur Rede stellte, mir den Teller mit Mus auf dem Kopf plattschlug.« Selten habe ich bei einer dramatischen Situation so eine Befriedigung empfunden wie hier. Bravo, Marie!
Übrigens hat der Stilkünstler einen durchaus kongenialen Kollegen, und mit dem ist es so: »Denn vor kurzem schrieb mir mein Kamerad Kasimir Edschmid, dessen deutsche Prosa ich von der zeitgenössischer deutscher Autoren mit am höchsten schätze, Baden-Baden stehe vor wirtschaftlichem Zusammenbruch . . . Ich schrieb ihm, sich als Kur- und Theaterdirektor an die Spitze aller dortigen Veranstaltungen zu stellen, Behörden und Einwohnern Baden-Badens wenn nicht zeitgenössische Ideen, doch Umgangsformen beizubringen.« In schlaflosen Nächten hat mich oft die Frage geplagt, was man mit Edschmid um Gottes willen beginnen solle, wenn diese Sorte Literatur ihren Mann nicht mehr ernährt. Ich hatte auf Barbier geraten, auf Damenschneider für ältere Amerikanerinnen . . . jetzt weiß ich es endlich: dieser Mann ist der geborene Kurdirektor, und auch Sternheim wäre als Renommiergast nicht eben schlecht zu gebrauchen.
Über dieses lächerliche Heft wäre zur Tagesordnung überzugehen, aber nicht ohne daß im Ernst einige Worte über Herrn Sternheim hinzugefügt werden.
Der Hypothekenfürst bildet sich ernsthaft ein, überlegen-weltmännisch, international, mondän, kurz etwas zu sein, was man in seinen Kreisen ›große Klasse‹ nennt. Er ist nicht groß, und er ist nicht Klasse, und ich will ihm sagen, was er ist. Er ist ein Kommis Wilhelms des Zweiten. Er ist genau dieser Typus des zum Reserveleutnant als unerreichbarem Ideal heraufschielenden Heringsbändigers aus dem Kaiserreich, der nichts mit einem anständigen kaufmännischen Angestellten, aber alles mit der Karikatur einer schlechten herrschenden Klasse gemein hatte. Kommishaft das fatale Grinsen, mit dem pariser Absteigequartiere beschrieben werden, kommishaft das Sonntagsmonokel, kommishaft dieser erste Gedanke beim Anblick junger Amerikanerinnen: »Bestimmt waren sie nicht lesbisch, weil es anstrengend persönlich, darum shocking gewesen wäre.« Kommishaft die schmatzende Wonne, mit der Mayonnaisensauce, Van Gogh, Paris und die eigene Wohlhabenheit genossen werden, kommishaft der Jargon, die kindlichen Übertreibungen, für irgendeine Clique ›Paris‹ zu setzen, Kommis der ganze Kerl.
Und es gibt eine Stelle in dem Buch, die nicht der literarische Kritiker, sondern jener Chauffeur, der Herrn Sternheim zu seiner größeren Sicherheit abends in Bayern begleitete, rezensieren sollte,[452] und das mit der größten Handschuhnummer. Es ist von der Beerdigung Eberts die Rede, und die Stelle lautet: »Daß dem Sarg des einstigen Sattlers erzgeschiente Bataillone, Schwadrone, berittene Haubitzbatterien vorausgingen und folgten, schien denkerisch unfaßbar.« Die Form der Beerdigung des ersten Reichspräsidenten ist diskutierbar wie der ganze Mann, und ich weiß, daß der politische Gegner das Recht hat, die politischen Fähigkeiten Eberts auf das schärfste zu verneinen. Einen Sozialdemokraten aber, der sich von unten nach oben gearbeitet hat, nur deshalb zu brandmarken, weil er einmal Sattler gewesen ist, scheint mir die niedrigste Art politischer Betrachtungsweise und daß die möglich ist, beweist, daß Herr Sternheim fremde Länder, die ehrlich demokratisch sind, ohne Erfolg besucht hat. Sie ist so recht die Äußerung eines verkleideten Freigelassenen im gutsitzenden Frack.
Ich habe den deutschen Handlungsgehilfenverbänden viel abzubitten, wenn ich Herrn Sternheim als das bezeichne, was er ist: einen rasenden Kommis.
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