Bei näherer Bekanntschaft

[473] Praesentia minuit famam


Von ferne gleichen die Großen im Geist

den Göttern, den hehren.

Solange du nichts von ihnen weißt,

kannst du sie verehren.

Doch hast du mit Deutschlands Musenpracht

erst nähere Bekanntschaft gemacht,

dann schick deine Illusionen man pennen:

Du mußt sie nicht kennen! Du mußt sie nicht kennen!


Der flicht an der alten Griechen Statt

die tragische Kette –

doch verreißt ihn das ›Nordhausener Tageblatt‹,

dann fällt er aus't Bette.

Der meckert im Alter wie ein Bock

und kriecht einer Tänzerin unter den Rock.

Und was sie an Damen ihr Eigen nennen:

Du mußt sie nicht kennen! Du mußt sie nicht kennen!


Denn mit etwas hat Gott sie schön angeschmiert:

mit ihren Frauen.

»Mein Mann, mein Mann!«

Dergleichen blamiert:

ein Weibstück, scheeläugig und verschmiert,

in den himmlischen Gauen.

Der sitzt in der Höhle, ein krötiger Greis,

der spricht nur von sich, weil er sonst nichts weiß . . .[473]

Von weitem! Laß sie am Himmel brennen!

In Büchern und an Rundfunkantennen . . .

Aber: Du mußt sie nicht kennen. Du mußt sie nicht kennen!


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 03.08.1926, Nr. 31, S. 192, wieder in: Mona Lisa.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 473-474.
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