Ein Diktator und sein Publikum

[523] Das Noske-Stück hat in Deutschland keiner geschrieben: das Drama vom Sozialisten, der auf dem Rücken seiner Klassengenossen hochgewirbelt wird, oben sein bißchen Kopf und Charakter verliert und nun auf die alten Freunde schießen läßt . . . In Frankreich hat dieses Stück jetzt seine Premiere gehabt: ›Le Dictateur‹ von Jules Romains.

Die vier Akte zeigen den Aufstieg zweier Sozialisten aus den kleinen Bierkneipen in die hohe Politik – der eine, Herr Denis, wird von einem imaginären König in die Regierung berufen, nimmt an, übt Verrat an seinem alten Sozialistenfreund, den er verhaften läßt, weil es dem mit der Revolution ernst ist . . . Wie kommt uns das bekannt vor –! Und auch die Franzosen dürften sich, wenn im Stück von einem niedergeknüppelten Eisenbahnerstreik die Rede ist, an einen Minister erinnert haben, der mit dem Anfangsbuchstaben Briand beginnt . . . Aber lassen wir das Persönliche beiseite.

Man kanns nur nicht beiseite lassen.

Mit den Stücken, die eminent politisch sind und in einem erfundenen Lande spielen, mit einem erfundenen angenehm zivilen König, der sicherlich Porzellan sammelt, mit einer erfundenen hocheleganten Königin, mit einem erfundenen Kabinettschef – mit diesen Stücken ist das so eine Sache, Sie lassen, soweit die Politik in Frage kommt, leicht kalt. Denn die Entschuldigung, die es für die Politik gibt, ist die, daß sie real ist – politische Märchen sind fast immer nur Märchen. Fingierte politische Ereignisse wirken nie sehr stark.

Und es gibt keinen Zuschauer, der nicht Parallelen zieht, und es gibt keinen Dichter solcher Stücke, der nicht seinerseits Partei nimmt. Romains hat Partei genommen, und der Regisseur, der ausgezeichnete Schauspieler Jouvet, desgleichen.

Der ehemals sozialistische Parteiführer, der sich, oben angekommen, diktatorische Macht vom König geben läßt, vom König, der, wenn der Boden seines Reichs erzittert, vornehm wie ein Flammri mitzittert – der Diktator ist mit einem sympathischen Komödianten besetzt, also richtig. Der mahnende Freund, das dumme Aas von Revolutionär, aber hat ein schiefes Karpfenmaul und wird vom Publikum leicht ausgelacht.

[523] Und dieses Publikum war so:

Gut Abendbrot gegessen habend, saßen da weichmündige Herren und brave Damen und paßten hier und da auf, wenn sie nicht mit Recht schliefen, und klatschten. Wann –?

Immer dann, wenn ihr Konto, wenn ihr Automobil, wenn ihre Hausordnung verteidigt wurde; wenn gesagt wurde, daß alles so weiterlaufen müsse wie bisher. Und sie waren gar nicht zufrieden, wenn die Königin, in höchster Angst vor der Straße, zum sozialistischen Ministerpräsidenten gelaufen kam und zu miauen anfing wie ein Kätzchen, das den Durchfall hat. Was? Eine feige Königin? Das gibts gar nicht! Protest! Um mich herum zischelte es: »Idiotisch! Das ist eine Köchin!« Und es war doch eine Königin, und das soll ein ganz gewaltiger Unterschied sein, höre ich.

Da machte der König schon andre Figur. Voll Freude stellte das gutgekleidete Publikum fest, daß dieser Herrscher auch in Zivil vornehme Umgangsformen und majestätisch gestärkte Manschetten zur Schau trug, ein sauber gebadeter Familienvater und Klubmann mit weltmännisch leichtem Vollbart – enfin, ein König. Der Sozialist knickte vor ihm langsam, aber sicher zusammen – es war also alles in Ordnung. Als der neue Mann im Amt war, und der König ihn mit den Worten: »Mein lieber Präsident!« begrüßte, empfand ich das tiefste Mitleid mit dem ehemaligen Sozialisten: da hatten sie ihn. Da stand er, war der liebe Präsident und hatte verraten und war verkauft und war überhaupt ein armes Luder. Vergessen die feurigen Stunden in den möblierten Zimmern, die hitzigen Diskussionen mit den Freunden, die Treue, die Klarheit, der Funke – er verbeugte sich leise, mit etwas Männerstolz vor Königsthronen, wie das in Schöneberg so üblich ist, und er sagte einen Satz, mit dem der Übersetzer seine liebe Mühe haben wird. »Je m'excuse d'être si gauche.« Was heißt hier: gauche? Links oder linkisch? Wahrscheinlich beides.

Aber wenn er sich entschuldigte, links zu sein – er war es nicht mehr. Die Wände des Ministeriums hatten schon angefangen, zusammenzurücken, sie engten ihn ein, strahlten jene geheimnisvolle Luft aus, die die Besten verdirbt – und als der Freund aus bessern, schlechtem Tagen kommt, ihn zu warnen, er solle nicht auf die meuternden Arbeiter schießen lassen: da bricht er aus.

»Hier stehe ich – ich kann auch anders! Mein Lieber, an diesem Platz, in diesem Zimmer fühlt man erst die ganze Verantwortlichkeit, die auf einem lastet! Der Staat! Der Staat muß erhalten bleiben! Hier dieses Kursbuch! Wie sieht es mich plötzlich an, wie schwer drückt es – Politik hin, Politik her:

Il faut que les trains partent –! Die Züge müssen laufen!«

Il faut que les trains partent –?

Nein!

[524] Die Züge sollen auf offener Strecke verrosten und verkommen – il faut que les trains partent? Es ist gänzlich gleichgültig, ob der Betrieb stockt oder nicht. Das Standesamt muß funktionieren? Die Gerichtsbarkeit darf nicht angetastet werden? Handel und Wandel dürfen nicht gestört werden?

Daran erkenn ich meine Pappenheimer. Stationsvorsteher, Weichensteller, Bürobeamte, armselige Hampelmänner eingebildeter Pflicht. Il faut que les trains partent –? Aber das setzt voraus, daß der Unterbau, auf dem die Züge dahinrollten, gut war; daß alles aufs beste bestellt war, daß es der großen Masse des Volkes so gut ging, wie es Menschen gehen kann; daß sie Gerechtigkeit hatten, Licht, Luft, Selbstbestimmungsrecht . . .

Nichts von alledem hatten sie. Eingepfercht in schmutzigen kleinen Stuben, deren Zinsnutznießer mit feinem Schmatzen Utrillos sammelten, dumm gemacht von dem tobenden Schwachsinn ihrer Straßenpresse, geduckt von Polizisten, verfolgt und gequält von ihren infamen Richtern, betrogen von den eignen Parteiführern – so lebten sie dahin. Man hatte sie gelehrt, daß das ›Ordnung‹ sei – und wer wollte es wagen, die Ordnung zu stören! Il faut que les trains partent! Hochaufgerichtet stand das Diktatorchen da, hinter ihm der König: der Chef und sein Prokurist – der Herr und der Hund.

Und an dieser Stelle brauste der Beifall des gesättigten Publikums auf: der Beifall gegen die Kerls, der Beifall gegen alles, was den lichten Wohnraum, die Geltung, die Polizeiverbrechen stören könnte – der Beifall der wahrhaft echten Internationale: der des Besitzes.

Als der Diktator seine Gewissensskrupeln heiß kochte, als er schmerzlich die Augen mit den Händen bedeckte: wie schwer hat mans mitunter, die besten Freunde muß man verhaften lassen, wenns die Pflicht gebeut, ach ja, auch wir harten Diktatoren haben ein reich ausgestattetes Innenleben, man merkts nur nicht immer . . . da nuckelten die Leute gleichgültig mit dem Kopf. Das mochte er mit sich abmachen. Wenn er nur funktionierte. Einer im Parkett rief: »Huhu! Nieder mit der Diktatur!«, und da wachten sie auf, und ein vornehmer Mann mit Monokel sprach verächtlich: »Allez! Pauvre ridicule!«

Oben stand der Diktator und blickte visionär in den ersten Rang. Der Freund in den Händen der Gendarmen, draußen die brüllende Straße, die er nun zusammenschießen lassen wird. »Du beginnst immer mit Lyrik und endest dann mit einem Ultimatum«, hatte der Freund gesagt. Das schwarze Jackett straffte sich, und eine harte Hand faßte den Telefongriff . . . Jeder Zoll ein Hofhund.

Junge Huren – alte Betschwestern. Junge Sozialisten – alte Ministerpräsidenten. Die einen kuschen, demokratisch, wie man sie hat, vor den fremden Diktatoren und machen die Fremden im Lande rechtlos, aus Angst, aus Angst – die andern geben Position auf Position[525] auf, bekommen den Hintern ausgehauen, werden heimlich und offen verlacht; aber sie sind Minister. Realpolitische Minister, Realpolitiker, getreue Diener ihrer alten Herren; aus Untiefen bricht, schäumt das Untertanenblut auf, und Selbsthaß und enttäuschte Liebe verwandelt sich in Roheit und Schuftigkeit.

Man sollte das Stück von Romains in Deutschland aufführen. Zum Schluß steht da der Diktator, preßt die Lippen aufeinander – und wenn er nicht gestorben ist, regiert er heute noch als Untergebener einer Reichswehr oder als Minister des Innern.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 19.10.1926, Nr. 42, S. 608.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 523-526.
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