Journalistischer Nachwuchs

[13] Woran es in Deutschland so merkwürdig mangelt, das ist die Möglichkeit für einen jungen Mann, in der Praxis und an der Praxis zu lernen: also arbeitend von einem Erfahrenen belehrt zu werden. Das Ideal aller Berufe ist die ›Hochschule‹ – irgend etwas der veralteten Universitätsform Nachgeäfftes, mit Professoren, Studenten, Studentenverbindungen und einem Examen. Dieses Examen soll dem Kandidaten die ›Berechtigung‹ geben, seinen Beruf auszuüben; er versteht das meist falsch und leitet ein Recht daraus her, wo doch nur eine theoretische Vorbereitungszeit gewesen ist. Am liebsten möchten sie eine ›Hochschule für widernatürliche Unzucht sowie deren Abarten‹ haben.

Wie sieht, zum Beispiel, der Nachwuchs im Journalismus aus –?

Kümmerlich. Und das kann gar nicht anders sein.


Wer jemals einlaufende Post auf einer Redaktion gelesen hat, der weiß, wie so ein Einlauf aussieht. Wenig Hoffnungen, viel Entwürfe – sehr[13] viel Dilettanten, sehr viel Männer und Frauen, »die gar nicht einsehen, warum sie sich in dieser schweren Zeit nicht etwas nebenbei verdienen sollten«, die aber niemals auf den Gedanken kämen, sich etwa nachmittags zwei Stunden lang als Ingenieure einem Elektrizitätswerk zur Verfügung zu stellen. Schreiben kann jeder. Wie wird man Journalist –?

Man wird Journalist durch innere Berufung, weil man es werden muß. Und man kann es werden: durch Ermunterung. Die bleibt meist aus.

Ob das in andern Berufen auch so ist, weiß ich nicht: der deutsche Zeitungsmann ist ein sehr ungeduldiger Mensch. Das mag der Beruf so mit sich bringen – er wartet jedenfalls nicht lange ab, experimentiert selten, hält nicht aus. Gleich oder gar nicht. Das kann man nun mit jungen Menschen nicht machen, die ermutigt werden sollen, gefördert, beraten und geführt. Die Arbeitgeber im Zeitungsgewerbe aber wollen möglichst fertige Leistungen sehen, und da alle es wollen, also fast niemand halbfertige, entwicklungsmögliche Arbeiten druckt, so herrscht in der Zeitung der Routinier.

Das Gros der Redakteure liest Arbeiten wie Schulaufsätze; und zensiert sie. Ja – oder Nein: darüber hinaus gehts selten. Daß sich der Redakteur, der immer überlastet ist, mit seinen Leuten wirklich beschäftigt, ihnen die Unarten austreibt, ihnen nicht nur sagt, wie man es nicht machen darf, sondern anschaulich erzählt, wie man es machen solle. So züchtet man Nachwuchs.

Die Presse macht sichs bequemer und jammert hinterdrein, daß ›keiner da ist‹. Natürlich ist keiner da – sie jagen ja die meisten davon.

Da ist zunächst die Herrschaft der Geronten. Es ist gradezu kläglich, mitanzusehen, wie eine falsch angewandte Treue alte Knacker im Betriebe läßt, die schon in der Blüte ihrer Mannesjahre den Durchschnitt niemals überragt haben; Männer, die gar nicht alt werden können, weil sie nie jung gewesen sind. Arthur Holitscher oder Alfred Kerr oder Karl Scheffler werden niemals ›passé‹ sein – das welkt nicht. Dagegen hat bei irgend einem Dutzendschreiber die Sache mit dem fünfundsechzigsten Jahr gewöhnlich ihr Ende; wenn er je die Berechtigung hatte, überhaupt so lange zu schreiben, so waren es die Manneskraft, das Handgelenk, das handwerkliche Können, und die lassen etwa um diesen Zeitpunkt erheblich nach. Aber das klebt und nimmt jüngeren Leuten die Plätze fort; mit dem ganzen starren Eigensinn des vergreisten Alters sitzt das und sitzt, und die Verlage sind auf einmal so zartfühlend, so scheu, so duldend . . . Nie hat man sie so gesehen. (»Wen meint er –?« Ein System.)

Der Lernende aber läuft neben dem Betrieb her und wird nur selten herangelassen. Das Beispiel S. J.'s, der, noch nicht zwanzigjährig, als Theaterkritiker an die ›Welt am Montag‹ zugelassen worden war, ist fast unerhört. Wo aber, in aller Welt, soll sich der deutsche junge Journalist die Feder glatt schreiben?

[14] In der Provinz –? Da ist die Position des angestellten Journalisten viel kümmerlicher als man gemeinhin ahnt – ich besinne mich noch auf jenen journalistischen Schützling S. J.'s, der von Berlin an einen großen Generalanzeiger Süddeutschlands ging und mit der ›Weltbühne‹ einen Tauschverkehr verabredete. Die ›Weltbühne‹ ging heraus; der Generalanzeiger kam nicht. Anfrage. »Es ist mir leider nicht möglich, meinen Verlag zu überzeugen, daß . . . « Poincaré anrüpeln, das können sie; vor dem Zimmer des Verlagsprokuristen hören der Spaß und die Allmacht auf. In der Provinz wird der junge Mann nicht viel lernen, weil mit Ausnahme von ein paar Blättern das politische und künstlerische Gesichtsfeld dieser Zeitungen viel zu eng, die drückende Herrschaft der Abonnenten viel zu groß ist. Wir möchten schon, aber wir dürfen nicht . . .

In Berlin dürften sie schon eher. Aber wer hilft den jungen Menschen? Man müßte glauben, daß die sozialistischen und kommunistischen Blätter dazu noch am ehesten prädestiniert wären. Über die ›Rote Fahne‹ als journalistisches Erzeugnis ernsthaft zu reden, ist leider nicht möglich – ich sage ›leider‹, weil mir ihre Grundgesinnung sehr nahe ist. Aber wie sieht das aus! Wie ist das geschrieben! – Der ›Vorwärts‹ ist heute noch so verkalkt wie damals, als ich bei ihm anfangen wollte – über ein paar Glossen hinaus habe ich es da nie gebracht, und beim mechanischen Abdruck ist es geblieben. Von Ermunterung war wenig zu spüren.

Bleiben die großen demokratischen Zeitungen. Pro domo kann ich mich nicht beklagen – aber hier gehts um die Sache. Gewiß, es gibt hier und da junge Leute, die die große Zeitung weiter treibt; aber sehr häufig wird man den Eindruck nicht los, als habe das, was da steht, nur deshalb Wert, weil das Blatt eine so hohe Auflage hat. Lernen diese jungen Leute wirklich etwas? Beschäftigt man sich mit ihnen? Nicht schulmeisterlich, sondern fördernd? Mit wirklicher Zuneigung zu dem, was da entstehen will? Mit dem ›Annehmen‹ ist es eben nicht getan, man muß so einen Menschen bilden, ihm Fingerzeige geben, ihn in die Schule nehmen (und ihm nicht auf die Schulter klopfen). Wer tut das –?

Ich glaube, daß der journalistische Nachwuchs in Deutschland nicht gut ist. Es wäre hübsch, wenn der Durchschnittsredakteur, der schwer von seiner Gottähnlichkeit überzeugt ist, seinen Stolz auf die Tarifverhandlungen verlegte und den Kollegen hülfe, nicht, wie man armen Leuten hilft, sondern indem er seine, ihre, unsere Sache fördert. Konkurrenz –? Aber ich wünschte, die Besatzung der ›Weltbühne‹ bestände aus lauter Genies – das käme noch dem schwächsten Mitarbeiter zugute. Starwesen ist nicht nur geschmacklos – es ist dumm.

Es ist aber nicht nur die Angst vor der Begabung, nicht nur Eitelkeit und Greisenhaftigkeit.

[15] Es ist auch häufig die Angst der Verlage, der Mann könne nach der Ausbildung davonlaufen. Aber das hat S. J. mindestens zehn Mal erlebt, und er hat nicht nachgelassen. Da ist weiter die Furcht, den Leser mit einer halbfertigen Leistung vor den Kopf zu stoßen. Grade eine Redaktion, deren Beiträge häufig anonym erscheinen, hat die Möglichkeit, kollektiv zu verbessern. Und da sind wir am Angelpunkt. Es wird zu wenig kollektiv gearbeitet. Lassen wir einmal die ›Frankfurter Zeitung‹ beiseite –: in den meisten Blättern ist die Leistung zu individual aufgefaßt; sie ist Einzelarbeit eines einzelnen, der sich gegen alle andern durchsetzen will, nicht: Resultat einer Gruppe, Deutschland hat die meisten Gruppen der Welt (Vereine, Verbände, Parteien, Orden), Deutschland ist das Land, in dem die Leute so schwer miteinander arbeiten. Sie können nur: untereinander und übereinander. Koordination ist hierzulande eine seltene Sache.

Ich glaube, daß sich ein starkes journalistisches Talent wie zum Beispiel Friedrich Sieburg auf alle Fälle durchsetzt. Aber der mittlere Mann, der fleißige, begabte, anständige Arbeiter – wo bleibt der –? Wer kümmert sich um den? Wer hebt den herauf? Wer beschäftigt sich mit ihm –?

Man hebt einen Stand am besten dadurch, daß man sich eine gute Konkurrenz schafft.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 03.01.1928, Nr. 1, S. 12.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 13-16.
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