Ein Schädling der Kriminalistik

[180] Ich habe Leute gekannt, die mir erzählten, daß sie bei jedem Verhör dasselbe schreckliche Gefühl in den Hoden hatten, das man verspürt, wenn man vor einem tiefen Abgrund steht. Jedes Inquisitorium beruht auf einer Ausnützung von taktischen Vorteilen, die man sich meistens auf ebenso unredliche Weise verschafft hat wie die Ausflüchte des in die Enge getriebenen Opfers unredlich sind. Doch Richter und Staatsanwalt erheben dabei den Anspruch auf Allwissenheit, und ihre Allwissenheit in Abrede stellen, heißt ihre Rachsucht bis zur Hoffnungslosigkeit entfesseln, so daß nur der Heuchler, der Zyniker und der vollkommen Zerbrochene noch Gnade vor ihnen finden.

Jakob Wassermann: ›Der Fall Maurizius‹


I

Es erscheint der Verfasser eines Wälzers und gibt an, zur Person:

»Ich heiße Heindl, Robert, nicht vorbestraft, ich bin Wirklicher Legationsrat und Vortragender Rat z. D. in Berlin; ich gebe zu, das Buch ›Der Berufsverbrecher, ein Beitrag zur Strafrechtsreform‹ verfaßt zu haben.«

Zur Sache:

Dieses schlecht gedruckte Buch gibt weniger über den Berufsverbrecher Aufschluß, als über den deutschen Berufsbeamten, und vorzüglich über den, der sich mit dem Strafvollzug beschäftigen darf. Das Buch ist, um seinen exorbitanten Preis zu rechtfertigen, künstlich aufgeplustert; es enthält Fotografien, die nur in losem Verhältnis zum Text stehen, und bei deren Anblick man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, als seien diese Schaueraufnahmen nur um der Sensation willen eingefügt. Für solche Bilder gibt es ja immer ein Publikum . . . Der Text aber verdient keinen Gaffer, der hochroten Kopfes die Bilder durchblättert, bis er eine Entspannung findet, wie sie höhern Offizieren nur noch der Krieg verschaffen kann – dieser Text verdient eine ernsthafte Kritik.

Er verdient keine ernsthafte Kritik, denn er ist unwissenschaftlich und schlecht geschrieben; er verdient dennoch eine, denn der Schreiber ist ein höherer, einflußreicher Beamter im deutschen Strafvollzug und ist heute noch in der Lage, Unheil anzurichten.


Heindl will mit seinem Buch dartun, daß Verbrecher, die keinesfalls mehr zu bessern seien (Gewohnheitsverbrecher oder Berufsverbrecher) in lebenslängliche Sicherungsverwahrung genommen werden müßten, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Das betrifft die §§ 55 ff. des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, insbesondere den § 59:

[180] »Wird jemand, der schon einmal zum Tode oder zum Zuchthaus verurteilt war, nach § 78 als ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Strafe verurteilt, so kann das Gericht daneben auf Sicherheitsverwahrung erkennen.«

Der § 60 fügt hinzu: »Die Unterbringung dauert so lange, als es ihr Zweck erfordert« – und nach Absatz 4 des § 60 besteht die Möglichkeit, die Sicherheitsverwahrung in einem Arbeitshaus auf Lebenszeit auszudehnen. Die dem neuen Gesetz beigegebene ›Begründung‹ ist keine: ihr Text wiederholt im großen ganzen nur die vorgeschlagenen Gesetzesbestimmungen und tritt sie in kümmerlicher Weise breit; einen Grund für diese fast unglaublich erscheinende Maßnahme zum Beispiel wird nicht gegeben. Für eine solche lebenslängliche Verwahrung nun tritt Heindl ein.

Der Mann ist viel gereist: er kennt den französischen Strafvollzug in Neu-Kaledonien, den in der Südsee; den englischen Strafvollzug auf den Andamanen; den australischen Strafvollzug und den in Kanada. Von diesen Reisen berichtet er zunächst.

Wer – wie wir – unter schwierigen Umständen so oft für Frankreich eingetreten ist, nimmt sich das Recht, zu sagen, daß Frankreich mit einem wirklichen Kulturmakel behaftet ist: mit der Deportation seiner Sträflinge in eine tropische Kolonie. Heindl hat sich die Beobachtung drüben leicht gemacht. Er hat sich von den französischen Beamten offizielle Angaben machen lassen, hat das Material der Verwaltungsbehörden erbeten und erhalten . . .

»Angaben von Sträflingen und unzufriedenen freien Einwanderern, kurz jeden für mich unkontrollierbaren Bagnoklatsch habe ich unberücksichtigt gelassen.«

Schon aus diesem Satz spricht die maßlose Überheblichkeit des typischen Beamten, für den die ausländischen Berufskollegen Orakel, die unmittelbar Betroffenen aber sämtlich unglaubwürdig sind und bleiben. Die Mühe – wie etwa Albert Londres –, den ›Bagnoklatsch‹ nun wirklich an Hand der Wirklichkeit zu prüfen, diese Mühe hat sich Heindl nicht gemacht.

Das französische Gesetz sieht für schwere Zuchthausstrafen Deportation vor. Wer bis zu acht Jahren Strafe zudiktiert bekommen hat, muß dieselbe Zeit, die er abgesessen hat, noch einmal als ›freier Mann‹ in der Kolonie verbringen – wer über acht Jahre hat, darf überhaupt nicht wieder nach Europa zurück. Von der fürchterlichen Korruption, die nach einstimmiger Aussage aller freien und gefangenen Beobachter dort herrscht, weiß Heindl nichts zu vermelden – ein Beamter stiehlt nicht.

Neu-Kaledonien hat als französische Strafkolonie aufgehört zu existieren; seit der Journalist Jacques Dhur vom ›Journal‹ das Land bereist hat und mit einer honigsüßen Schilderung und dem Aufschrei[181] zurückgekommen ist: »Viel zu schön für die Herren Gefangenen!« schickt man die zu ›traveaux forcés‹ Verurteilten nur noch in das schreckliche Guayana, wo sich die Sträflinge für drei Francs einen tuberkulösen Auswurf kaufen können, um mit dem in die Sprechstunde des Arztes angerückt zu kommen . . .

Die Heindlsche Schilderung des Kolonie-Elends geht von der Idee völliger Rechtlosigkeit der Strafgefangenen aus. An keiner Stelle – an keiner einzigen – ist ein Wort der Kritik der fremden Behörden zu finden; auch da nicht, wo deren Roheiten offen zugegeben werden, wo diese Roheiten jedes denkbare Maß übersteigen. Einmal zum Beispiel nahm in Neu-Kaledonien die dort stets grassierende Selbstverstümmelungs-Epidemie durch Massensuggestion tolle Formen an. Ein Sträfling fing an. Er stach sich die Augen mit einem Dorn aus.

»Eine Woche darauf ahmten ihm vier Kameraden nach. Dann kam etwas anderes; es wurde Mode, sich einen Fuß oder eine Hand abzuschneiden, sich einen Arm aus den Gelenken zu lösen usw. Es war schrecklich! Das ganze Camp drohte eine Gesellschaft von Krüppeln zu werden. Man mußte reagieren.«

Wie wurde das gemacht?

»Das Camp war zu jener Zeit, von der ich spreche, von einem energischen Mann, M. V . . . befehligt. Er machte nicht viele Umstände; für die Blinden ließ er eine Art Zirkus errichten und nötigte sie, dort täglich acht Stunden mit einem Sandsack auf dem Rücken im Kreis herumzutrotten. Die Einarmigen wurden vor Karren gespannt, und ähnliches für die andern erdacht. Dank dieser Therapeutik neuen Genres nahm die Epidemie rasch wieder ab.«

Prügelstrafe. Denn wenn es etwas gibt, was hassenswerter und niedriger wäre als dies hier beschriebene infame Verbrechen, so ist es die lässig-saloppe Schilderung durch einen deutschen Beamten, dem die Tropen nicht gut bekommen sind. Ich bekenne, in der gesamten kriminalistischen Literatur noch niemals auf eine solch infernalische Roheit gestoßen zu sein. Und das in einem Lande, in dem immerhin Leute wie Bonhoeffer sorgfältige und durchdachte Theorien über das Wesen von ›Simulanten‹ aufgestellt haben.

Heindl bekommt Gelegenheit, an der Holzwand eines Lagerhauses zuzuhören, was sich die Strafgefangenen, die nachts allein gelassen werden, erzählen.

»Ich werde mich hüten, die schrecklichen Gespräche wiederzugeben, die ich dem rätselhaften ›Argot‹ entnehmen konnte, das dort geredet wurde. Man kann sie mit zwei Worten charakterisieren: Bestialität, Sadismus.«

Wessen –?

»Von Zeit zu Zeit, wenn eine Pause eingetreten war, ließ eine schwache Stimme, die Stimme eines Greises, Betrachtungen fallen,[182] die einen ganzen Traum von Blut und Unflätigkeit zusammenfaßten.«

Das ist das, was ein Strafvollzugsbeamter über die unendliche schwierige und leidvolle Frage der Gefangenen-Sexualität zu sagen hat. Er gibt dann wohl zu, daß diese Lager von päderastischen Tragödien geschüttelt werden – außer ein paar Witzen, die nachts gegen drei auf einer Kneipe brüllendes Gelächter wecken würden, hat er dazu nichts zu vermelden.

Was vor allem an diesen Schilderungen durch den Geheimen Rat auffällt, ist eine Schnoddrigkeit des Tons, die nicht mehr Roheit zu nennen ist. Es ist Unmenschlichkeit schlechtweg. Die Gefangenen werden häufig ›Gentlemen‹ und – hochkomisch! – ›Herren‹ genannt, als ob, Mensch halt dir feste! solche Kerle ›Herren‹ sein könnten. ›Herr‹ ist man von Gehaltsstufe IX aufwärts, allenfalls. Ob man aber Mann ist, das ist eine andre Frage.

Die Sträflinge in Neu-Kaledonien konnten, nach gewisser Zeit der Strafverbüßung und unter gewissen Kautelen, weibliche Strafgefangene heiraten. Die Schilderung dieser Vorgänge durch Heindl ist ein einziges dreckiges Grinsen:

»Der Kiosk hat zwei Eingänge, einer führt ins Weiberdepot, der andre ins Freie. Der Heiratskandidat tritt durch diesen ein, während die lieblich errötende Braut durch die andre Pforte vorgeführt wird.«

Es fällt mir gar nicht ein, vor einem französischen Sträfling niederzuknien, und ihm unter »O Bruder Mensch!« – Geschrei die Füße zu küssen, und ich begreife sehr gut, daß man die Vorgänge im Bagno kalt ansehen kann (man sieht dann nämlich mehr). Wie man aber an wehrlosen, niedergedrückten, verkommenen Menschen seinen ohnmächtigen Witz üben kann – das freilich zu verstehen maße ich mir nicht an.

Die Bilder der weiblichen Gefangenen sind reproduziert. Sie sehen häßlich aus, verwüstet, lange nicht so schön, wie man das von ihnen verlangen kann. Bildunterschrift:

»Der Damenflor, aus dem die neukaledonischen Bräute sich rekrutieren.«

Der Herr Vortragende Rat irrt. ›Damenflor‹ ist eine Gattung, die nur auf offiziellen Gesellschaften von Ministerialdirektoren vorkommt, aber der Unterschied zwischen der Schwägerin eines Ministerialrats und zwischen einer ›môme‹ aus Belleville ist viel kleiner als dieses Polizeigehirn ahnt. Hohn? Hohn auf Zerstoßene?

Aber wem Roheit Herzensbedürfnis ist, der freut sich auch noch an der Mißhandlung gefaßter Verbrecher, und mit welcher Freude ist das hier geschildert:

»Er wechselte Geld, griff im ›psychologischen Moment‹ durchs Schalterfenster nach einem Bündel hochwertiger Banknoten und[183] rannte damit davon. Er hatte allerdings den stämmigen Portier Alois Kreuzpointer aus Klais bei Partenkirchen, 1,87 m groß, Handschuhnummer 9, bei der Kalkulation seines Verbrechens nicht in Rechnung gestellt. Dieser sonst etwas phlegmatische Türhüter hielt den Flüchtling am Hauptportal der Bank an und bat ihn zu sich in die Portierloge, und ich erinnere mich heute noch, wie der Bankräuber bei der polizeilichen Vernehmung unaufhörlich: ›my head – my head‹ wimmerte und sich seinen verbeulten Schädel abtastete.«

Hähä. Wie da klobige Rachsucht, Freude am niedrigsten Oberbayern, Bourgeoisgier am Besitz und frisch-fröhliche Kriegssehnsüchte durcheinanderlaufen, das macht einen doch aufhorchen: warum sitzt so einer drüben und nicht hüben? Weil er sich legitimiert austoben kann.

Denn so, wie sich, nach einem tiefen Wort Roda Rodas, der Psychiater von seinem Patienten nur durch die Vorbildung unterscheidet, so gibt es in allen Ländern einen Polizistentypus, den man den ›invertierten Verbrecher‹ nennen darf: er hat genau dieselben Anlagen wie jener, dieselbe haltlose Freude am Abenteuer, die Gleichgültigkeit gegen den Mitmenschen, wenn ein Zweck erreicht werden soll, und das alles noch verschärft durch jenen sonderbaren, in sämtlichen Ämtern der Welt gedeihenden Sadismus, dessen größenwahnsinniger und feiger Träger sich hinter die anonyme Kollektivität des Staates verkriecht. Da ist er sicher; aus diesem Hinterhalt ist gut schießen. Und er schießt.

Ein bayerischer Gefangener fertigt im Stumpfsinn seiner Haft Schmalzlerglaseln aus geknetetem Brot an. Fotografie. Überschrift:

»Die Vergeltungs- und Rechtsstrafe als Förderin der schönen Künste.«

Das ist so der Humor kleinerer Burschenschaften.

Das Buch, das in vielen Einzelheiten erstaunlich schludrig gearbeitet ist, enthält außerdem falsche Angaben, und zwar solche einer bestimmten Tendenz.

Von dem Komplicen Haarmanns, Grans, anzugeben:

»Beruf: Händler mit von Ermordeten abgelegten Kleidern . . . «

sagt nur über die Beschaffenheit eines Polizeigehirns etwas aus. Erstens stimmt es nicht, denn von den zwanzig Jacken hat der Junge natürlich niemals leben können, und zweitens ist die Formulierung kindisch. Was aber Haarmann selbst angeht, so fehlt in der moralischen Bildunterschrift, die mit den Worten schließt: »Zu arbeiten hat er nie versucht«, eine winzige Kleinigkeit. Zu arbeiten hat er nie versucht? O doch, Haarmann hat schon gearbeitet. »Haarmann war der Polizei als Päderast bekannt?« Er war ihr noch als ganz etwas andres bekannt – nämlich als ihr eigner Spitzel, und durch diese Tätigkeit, die er unter Herrn Noske ausübte, gelang es ihm, sein Leben wesentlich einfacher[184] zu gestalten . . . »Herr Kriminal!« nannte ihn die ganze Straße. Es verschwanden, sagt Heindl, Dutzende von Menschen, ohne daß eine Untersuchung angestellt wurde, »ohne daß überhaupt ein Mordverdacht geäußert und eine Anzeige erstattet wurde«. Das ist eine blanke Unwahrheit. Man lese das ausgezeichnete Buch Theodor Lessings über den Fall Haarmann: wie da die armen Eltern auf die Polizei kamen, das Verschwinden ihres Jungen meldeten, angeschnauzt wurden – wie jeder Verdacht gegen den Herrn Kriminal im Keime erstickt wurde . . . Das braucht Robert Heindl, der sorgfältige Forscher, nicht zu wissen. Wahrscheinlich ist es Bagnoklatsch.

Heindl bekommt es ja allerdings auch fertig, den schrecklichen Fall des Massenmörders Denke auf das Konto ›Gewinnsucht‹ zu buchen, ein offenbarer Wahnwitz, den kein Gendarmerieunteroffizier in die Akten zu schreiben wagte. Der Mann war ein Oger, ein Raubtier, eine entartete Spezies Mensch – die meisten Kleidungsstücke seiner Opfer fanden sich bei der Entdeckung vor. Das braucht Herrn Heindl nicht zu kümmern.

Genug.

Dieser Beamte ist nach solcher Leistung als für seinen Beruf ungeeignet anzusprechen, ein schlechter Schriftsteller dazu – aber was will er mit diesem dicken Buch? Geld verdienen? Sein gutes Recht. Er will aber noch etwas, und das ist ein schweres Unrecht. Das wollen wir in acht Tagen sehen.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 31.07.1928, Nr. 31, S. 167.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 180-185.
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