Der Mann, der ein Kind ertränkt

[291] Sa devise était pas d'histoires!


Pierre de Rayssac ist aus Avignonet, aus dem Süden Frankreichs, dreiunddreißig Jahre alt, schlank, lange Nase, schmaler Kopf, glattrasiert, ein junger Mann aus dem französischen Landadel.

Joséphine Machicot ist ein Dienstmädchen, geschiedene Frau, mit einem Kind, das dem Vater zugesprochen ist – dient in der Familie der Rayssacs. Bringt Herrn Pierre eines Tages die steifen Kragen, die sie gewaschen hat. – »Die haben Sie aber besonders gut geplättet, Joséphine!« und ein Kuß auf den Hals und das übrige. Als es soweit ist, wirft die Familie das Mädchen hinaus. Das Kind kommt in Carcassonne zur Welt; es ist ein kleiner Junge. Herr Pierre hat sich inzwischen verheiratet und hat selbst ein Kind. Die Joséphine, die nach französischem Recht nicht auf Alimente klagen kann, schreibt deund[291] wehmütige Briefe: bekommt mehrere Male Geld – einmal zweitausend Francs, dann zweihundert, dann noch einmal dreitausend. Dann nichts mehr. Verdient zweihundert Francs monatlich – die Unterhaltungskosten für das Kind betragen einhundertundsechzig. Die Briefe gehen monatelang hin und her – Zusammenkunft des Paares in Toulouse, wohin das Kind gebracht worden ist. Pierre de Rayssac versucht, es bei der ›Assistance Publique‹ unterzubringen. Da er aber seinen Namen nicht nennen will und keine Papiere beibringt, so mißglückt das: die Behörde verweigert die Aufnahme. »Also gib mir das Kind«, sagt er zu ihr, »ich werde es schon . . . « und wirft ihr das kleine Tuch zu, womit das Kind eingewickelt war, setzt sich in sein Auto, fährt ab. Es war ein blondes, dickes Kind, das schon die ersten Ansätze zu sprechen machte – es war anderthalb Jahre alt. Dieses Kind hat Pierre de Rayssac in den Canal du Midi geworfen. Deswegen steht er in Toulouse vor den Geschworenen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Herz eines Volkes klopfen zu hören: ein großer Kriminalprozeß ist eine davon.

Was der Angeklagte selbst zu sagen hatte, war lamentabel. »Ich habe nie geglaubt, daß ich der Vater sei . . . « und »Ich weiß selbst nicht . . . « und »Ich bitte die Gesellschaft um Verzeihung . . . « Aber der Vorsitzende, der, wie fast alle Vorsitzenden, die Rolle des Staatsanwalts übernahm und die Geschworenen beeinflußte, wußte mehr. »Sie haben der Mutter gesagt, daß Sie nicht zahlten, keinen Pfennig – und daß Sie so ein Kind nicht einmal zum Bedienten haben wollten?« – »Ja, das ist wahr.« – »Sie haben das Kind, bevor Sie es ins Wasser geworfen haben, ausgezogen?« – »Ja, das ist wahr.« Eine Welle läuft durch das Publikum, ein Publikum, das diesem Mörder übrigens nicht ganz und gar feindlich ist – denn Herr Pierre ist in seinem Dorf beliebt gewesen; er war so nett zu den Leuten . . . »Sie haben das Kinderkleidchen versteckt . . . ?« – »Ja, das ist wahr.« – »Noch etwas?« – »Nichts.« Die Zeugen.

Joséphine, ein in Trauer gekleidetes Nichts. »Ich habe ihn nicht geliebt – aber er ist eben stärker gewesen.« Es war so eine Art Überschreitung ihrer Haushaltungspflichten, die sie etwas weit kalkuliert hatte. »Ich habe nicht erpreßt.« Der Angeklagte: »Sie hat zu erpressen versucht!« Doch wo sind die Briefe? Die Briefe sind nicht mehr da . . . die französische Familie soll erst noch geboren werden, die solch einen Brief nicht sorgfältig aufhebt. Die Sache steht nicht gut. Aber man hat nicht umsonst Herrn de Moro-Giafferi bemüht, eine Zierde des Barreaus, dessen faltige Talarärmel sich schon in so vielen Prozessen wie Fledermäuse erhoben haben. Die Rayssacs haben Geld, und also Herrn de Moro-Giafferi und so viel Entlastungszeugen, wie gewünscht wird. Joséphine hat nur ein Wolltuch und eine Erinnerung. Die Entlastungszeugen.

»Joséphine ging jeden Abend tanzen!« – Ein Dienstmädchen hat[292] nicht zu tanzen. – »Ich habe sie einmal nachts um ein Uhr mit einem Mann gesehen, das war aber nicht Herr de Rayssac.« – Aha! – »Das war keine anständige Frau, Herr Vorsitzender!« – Und dann, als Perle, ein alter Geldbriefträger: »Herr Pierre ist das Opfer einer Klosett-Messalina geworden! Ich tadele ihn nicht – er tut mir leid!« Dies ist wörtlich übersetzt.

Die Familie tritt in spärlichen Exemplaren auf. »Die Sittenstrenge und die starre Auffassung vom Wesen der Ehe . . . Der Familienrat beschloß . . . . Unsere Aufregung über den Skandal . . . Was werden die Leute dazu sagen . . . « Ganz leise scheint sich der Aspekt des Prozesses zu verschieben. Würdige ältere Damen sind auf einmal da und halten das Banner des Familienlebens hoch, verächtlich kräuseln sich ihre Oberlippen, die von kleinen, schwarzen Schnurrbarthaaren besetzt sind . . . ein Dienstmädchen! Die Auskünfte der Polizei über das Dienstmädchen sind gut; aber sie hat keine Entlastungszeugen, sie hat kein Geld . . . So daß Herr de Moro-Giafferi eines dieser meisterhaften Plädoyers halten kann, die so viel für seine routinierte Klugheit und so wenig über den wahren Tatbestand aussagen . . .

Der Anwalt beginnt mit einem eminent geschickten Schachzug. Er bittet um Verurteilung. Um desto sicherer die mildernden Umstände herauszubekommen. Alle Schuld auf den kleinen Kopf der ›Person‹ – und alles Licht auf den Scheitel des Mandanten. Die Ärmel flattern – die Stimme rollt – und hier begibt sich nun etwas so Französisches, daß es schwer sein wird, es in einem anderen Lande richtig zur Geltung zu bringen.

Die fünf Gendarmen, die in der Anklagebank hinter dem Mörder sitzen, fangen an zu weinen. Sie weinen je einen Tassenkopf voll, als Herr de Moro-Giafferi spricht – den harten Kriegern tropfen die Tränen in die Bärte – und der ganze Saal weint mit. Aber der ganze Saal hatte am Tage vorher genau so geweint, als der Staatsanwalt das Andenken des kleinen dicken Babys heraufbeschworen hatte – die Taschentücher waren naß zum Auswringen, es war alles so schön rührend . . . !

Die Geschworenen beraten. Totschlag; mildernde Umstände. Die Richter beraten. Zehn Jahre Zuchthaus.

Zehn Jahre Zuchthaus heißt: Guayana. Guayana für einen Adligen heißt: Druckposten. On s'arrangera – und man wird für den Mann schon eine Beschäftigung finden, ein kleines Amt in einem Büro – irgend etwas, was ihm ersparen wird, an einer Straße zu arbeiten, die nie fertig wird, weil sie hinter den Arbeitenden im Sonnenbrand immer wieder zuwächst . . . Herr de Rayssac ist immerhin fertig.

Die pariser Presse heulte laut auf. So etwas –! Da war kaum ein Wort der Entschuldigung zu finden; aber Paris ist nicht Frankreich, Paris ist nicht Frankreich. Was da auftauchte, war nicht nur ein kleiner Fall – hier war eine ganze Schicht zu spüren: ein Teil der französischen höheren Bourgeoisie.

[293] Bei aller Humanität gibt es da einen Punkt, wo das Gefühl einfach aussetzt: die Grenze fällt ungefähr mit der untersten Steuerstufe zusammen. Da hört es auf. Man darf sich diese ›témoins de moralité‹, die moralischen Entlastungszeugen, nicht etwa als blindwütige ›Burschui‹ vorstellen – nichts wäre verkehrter. Aber der junge Adlige hatte angenehme Manieren, war ›bon garçon‹ – und das vergaßen sie ihm nicht. Für die Mutter . . . nichts. Und der schlug nicht etwa die Tatsache des unehelichen Kindes zum Unheil aus – so kleinherzig ist kein Franzose. Aber wenn hier das Geld mit dem Nichtgeld zusammenstößt, dann gibt es noch böseren Klang als anderswo, und es geht selten gut aus.

Wie kleine Ritterburgen stehen die Familien der Großbourgeoisie da; da bröckelt kein Stein, da hebt sich keine Zugbrücke, wenn einer das Paßwort nicht weiß, und das feste Gefüge des bürgerlichen französischen Lebens hat hier eine seiner Hauptstützen. Solche Zwischenfälle wie dieser werden übersehen. Gewiß, der Prozeß war überlaufen auch von Damen, gerade von Damen – »elles n'ont pas même l'hypocrisie de l'évantail«, hat der ›Matin‹ einmal vor zwanzig Jahren in der Mordsache Solleillant gesagt, sie halten sich nicht einmal den Fächer vor . . . gewiß, es gibt ein Zeitungsgeschrei, aber das schwillt bald ab. Die Familie steht.

Was daraus folgt? – Nicht übermäßig viel für die Beurteilung Frankreichs. Die meisten mir bekannten deutschen Schilderungen französischer Provinz und französischer Sitten, sind ein ausgezeichneter Führer durch die deutsche Seele – nicht etwa durch die französische. Sie sagen über den Beurteilenden mehr aus als über das Beurteilte. Es ist so weit von Berlin nach Paris! viel viel weiter als zwanzig Stunden Bahnfahrt. Und doch gibt es aus diesem Prozeß etwas zu lernen.

Wenn wir uns in Deutschland erst wieder die Geschworenengerichte erkämpft haben werden, die wir zur Zeit nicht haben; wenn die Deutschen wieder, unbeeinflußt von den Juristen, urteilen dürfen, eine Freiheit, die ihnen offenbar gar nicht zu fehlen scheint –: dann mögen sie um der Humanität willen eines nicht vergessen.

Was heute vor den Strafgerichten an Moral vorgebracht wird, um einen Angeklagten zu entschuldigen und zu beschuldigen, ist eine Komödie, die mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie wenig zu tun hat und mit der wahren Beschaffenheit der menschlichen Seele noch weniger. Was da an ›belastendem Material‹ herangeschleift wird, spottet jeder Beschreibung. Dahin gehört zum Beispiel das Verhalten des Mörders nach seiner Tat, deren unvermeidliche Begleitumstände fast immer höher gewertet werden als die Tat selbst. »Der Angeklagte hat das Kind ausgezogen, bevor er es ins Wasser geworfen hat!« – verschärft dergleichen einen Mord? »Der Angeklagte ist ruhig nach Hause gegangen!« – »Der Angeklagte ist unmittelbar nach dem[294] Mord ins Weinhaus gegangen!« – »Der Angeklagte blieb während der Vernehmung der Mutter stumm.« (Rohling.) »Der Angeklagte vergoß während der Vernehmung bittere Tränen.« (Krokodil.) Und so in infinitum.

Die bewährte Technik mancher Anwälte, auf den Ermordeten so viel ungünstige Aussagen zu häufen, wie möglich – das aber nicht zu tun, wenn es sich nur um einen Mordversuch handelt; die Spekulation auf fatale Kino-Instinkte der Geschworenen; dieses abgenutzte und im tiefsten falsche Vokabularium von ›Reue‹, ›kalter Überlegung‹, ›Geistesverirrung‹ – und das allerschlimmste: das Sammelsurium der sogenannten moralischen Indizien. Es gibt, einschließlich des Schreibers, keinen Leser dieses Blattes, aus dessen Leben man nicht eine Reihe kleiner Anomalien herauspflücken könnte, die an sich ganz harmlos sind, die aber im Augenblick, wo ein schwerer Verdacht auf dem Betreffenden ruht, zu einer Würgekette von Beweislast werden. Was sich in Toulouse begeben hat, begibt sich in allen Ländern alle Tage: eine Fibelpsychologie richtet über Seelen, deren Struktur sie nicht kennt. Ihr sollt nicht richten. Ihr sollt die Gesellschaft schützen.

Herr de Rayssac ist schuldig, und hier ist nun einmal kein Fehlurteil ergangen. Soweit man aus der sehr inexakten französischen Gerichtssaal-Berichterstattung sehen kann, hat der enge Geist eines Dorfes nicht über die Sittlichkeit gesiegt. Was den französischen Strafvollzug angeht, so versage ich es mir, über ihn etwas zu sagen, so lange der unsere nicht in Ordnung ist. Guayana aber ist eine Schande.

Als das Urteil in Toulouse verkündet wurde, pfiff der Saal. Es erschien den Leuten zu leicht – die beantragte Todesstrafe war ausgeblieben, eine Sensation war ausgeblieben, aber auch eine volle Befriedigung des Rechtsgefühls, das sich in diesem Falle aus Mitleid und Rache zusammensetzte. Der Prozeß ist typisch für Frankreich, weil der gesunde Menschenverstand annähernd das Rechte getroffen hat – nicht wegen der Prozeßführung, sondern trotz der Prozeßführung.

Aber es gibt auch anderswo Gerichtshöfe, deren Türen uns Sling erschlossen hat; Sling, dessen Herz und dessen Verstand allen ehrlichen Justizkritikern eine Erbschaft bedeuten möge.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 03.11.1928, Nr. 521.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 291-295.
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