Wahnsinn Europa

[343] Im Jahre 1902 wird in der italienischen Kleinstadt Cerignola ein Proletarier geboren, der di Modugno heißt. Erst Landarbeiter, dann Bauarbeiter, gleitet der klassenbewußte junge Mensch rasch in die Gewerkschaftspolitik; er wird mehrere Male verhaftet, das erste Mal schon im Jahre 1921, also vor der Herrschaft der Faschisten, und als die ans Ruder kommen, lernt er ein Gefängnis nach dem andern kennen. Flieht im April 1927 aus Italien, denn es ist eine Flucht, die Italiener lassen ihn nicht heraus, ein Auslandspaß ist eine Gnade. Geht nach Frankreich, nach Luxemburg, arbeitet dort, geht wieder nach Frankreich und denkt: Italien, und hat eine Idee im Kopf: Italien. Denn in Italien sind Frau und Kind.

Nichts einfacher, als Frau und Kind nachkommen zu lassen? Das erlauben die Italiener nicht; Frau und Kind sind Geiseln für den Entflohenen, und überhaupt ›hat der Italiener im Ausland nichts zu suchen‹. Die Frau di Modugnos versucht es mit einer Wallfahrt nach Lourdes – man verweigert ihr dennoch den Paß. Sie bittet und beschwört die Behörden – man verweigert ihr den Paß.

Im Jahre 1927 macht di Modugno in Paris neue Anstrengungen. Das Spiel der Ämter beginnt von neuem. »Da müssen Sie erst . . . « Gesuch; Beglaubigung des Gesuchs durch die französische Polizei; Beglaubigung der Beglaubigung durch das italienische Konsulat; Formulare, Gänge, Warten, Warten . . . und dabei ist nie zu vergessen, daß das ein Arbeiter in seiner Freizeit macht, daß er müde ist, unausgeschlafen, gereizt durch all den Widersinn . . . Frau Modugno schreibt aus Italien: »Liebster, wieder ist mein Gesuch abgeschlagen, aber ich habe gute Beziehungen, und ich glaube, dieses Mal wird es doch gelingen. Ich habe einen Anwalt genommen . . . « Also um einen gewöhnlichen Auslandspaß zu erlangen, braucht man in der Ordnungszelle Italien einen Anwalt, denn es muß doch Geld unter die Leute kommen. Di Modugno wartet, in Paris.

Und eines Tages, als es gar nicht weiter geht, am 12. September 1927, steckt er einen Revolver zu sich und geht noch einmal aufs italienische Konsulat. Der Generalkonsul ist zu seinem Glück nicht da, den jungen Arbeiter empfängt sein Vertreter: ein Graf Nardini. Das kleine Büro ist von dem Warteraum nur durch eine dünne Wand getrennt. Die dort Sitzenden hören eine kurze Unterhaltung, dann die Stimme des Arbeiters, dann Nardini, auf italienisch: »Ich kann nicht! ich kann das nicht!« dann zwei Schüsse. Di Modugno hat den Konsularvertreter Italiens in Paris erschossen. Da sitzt er, auf der Anklagebank.

Der Flügel des Palais de Justice ist in weitem Umfang abgesperrt, drei Reihen Schutzleute sind zu passieren, ehe du heraufkommst – der Saal ist halb leer; in dem viel zu kleinen Zuschauerraum, der Formalität[343] halber, jene, die die Geduld gehabt haben, lange genug anzustehen; sehr viele Anwälte, auch weibliche, unter denen übrigens keine große Nummer ist; Zeugen, Presse, Polizei.

Di Modugno ist ein kleiner Mann, der recht kümmerlich vor seinen drei Wächtern in der Anklagebank hockt. Die drei Richter und der Staatsanwalt in roten Talaren; links die Geschworenen, mittleres und kleines Bürgertum. Die zwei Damen in Schwarz sind Frau und Tochter des Ermordeten, sie haben sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen, was nach französischem Recht möglich ist, wenn sie ein Interesse geltend machen; zu diesem Zweck wird, der Form halber, ein Franc Schadenersatz verlangt, und auf solche Art haben die natürlich nur moralisch Interessierten die Möglichkeit, mit ihrem Anwalt, Herrn Gautrat, in den Prozeß einzugreifen. Di Modugno wird von dem Donnerer Torrès und Herrn Lazurick verteidigt. Los gehts.


Warum? Warum haben Sie das getan –?

Di Modugno beginnt in einem harten Französisch, das er im Gefängnis gelernt hat, zu erklären . . . sein Temperament entlädt sich ungeschickt, er erzählt zu viel, zu viel Einzelheiten, die hier keinen Menschen interessieren, die für ihn aber Lebensfragen, Todesfragen gewesen sind: Italien und die Faschisten und die Gefängnisse . . . Die Rolle des Vorsitzenden, des Herrn Warrain, ist nicht beneidenswert; da sitzen Vertreter der italienischen Botschaft, sehr viel italienische Presse schreibt im Saal, und ein Angriff des Herrn Torrès ist kein Zuckerlecken. Trübe ist der Tag, die elektrischen Lampen glühen, sie leuchten nicht, die braune Holztäfelung schwimmt im Dunkel, da steht ein Fotograf und hält dem Angeklagten seinen Kasten vors Gesicht; die Anwälte gemahnen unfehlbar an Daumier, was mögen sich diese Schauspieler der Gerechtigkeit wohl nachher hinter den Kulissen beim Frühstück erzählen? Warum übrigens alle Gerichtssäle der Welt so schlecht gelüftet sind, bleibt ein ewiges Rätsel.

Di Modugno hat viel zu reden, aber nicht viel zu sagen. Man errät die unendliche Qual der Paßplackerei; er hat Pech, er ist kein ›sympathischer Angeklagter‹ und außerdem hat er, wie das immer so geht, einen Mann getötet, der wohl einem System angehörte, aber selbst kein enragierter Faschist gewesen ist. Es trifft immer die Falschen.

Die Zeugen. Der Anwalt der Nebenklägerinnen hat Belastungszeugen zusammengeladen, aber sehr viel kommt da nicht zusammen. Der uralte Trick, den Ermordeten in hellstem Licht erstrahlen zu lassen, vor dem sich dann der Täter um so schwärzer abhebt, fällt ziemlich wirkungslos zu Boden: Torrès lobt den Grafen Nardini in den höchsten Tönen, übrigens werden dessen Qualitäten von niemandem bestritten. Die Belastungszeugen sollen aussagen, daß der Graf Nardini ihnen immer geholfen, daß er die Not der Emigranten nach Möglichkeit gelindert[344] hat, daß er sehr wohltätig gewesen ist, das ist alles unbestreitbar. »Hat er jemals den Eindruck gemacht, als ob er die Faschisten bevorzuge?« Nein, sagen die Zeugen. Das brauchte er auch gar nicht; das tat schon das Reglement, das etwa 150000 Italiener in Paris ohne Paß läßt; Mussolini hat diese Leute sämtlich ihrer Nationalität beraubt, und was das heute in dem papierwütigen Europa bedeuten will, weiß nur der, der einmal darunter gelitten hat: so einer hat die gesamte Beamtenpest auf dem Halse. Torrès steht langsam auf. »Sind Sie, Herr Zeuge, Faschist oder Antifaschist?« fragt er lauernd. Und kriegt eine dicke Abfuhr. »Ich bin Italiener, Herr Rechtsanwalt!« sagt der Zeuge. Immerhin, er hats aus Angst gesagt, denn auf den Bänken horchen die italienischen Journalisten und die in Paris befindlichen Antifaschisten – es ist keine sehr freundliche Situation.

Die Entlastungszeugen. Hier ist zu sagen, daß im französischen Strafprozeß die Redefreiheit aller Beteiligten viel großer ist als im deutschen. Torrès hat Tod und Teufel vorgeladen: Cesare Rossi, den sie neulich aus der Schweiz mit Hilfe einer Frau zunächst in eine kleine italienische Enklave und dann nach Italien verschleppt haben, wo es ihm nicht gut ergehen wird, natürlich ist er nicht gekommen; Arbeiterführer und Journalisten und Politiker . . . Leute, die nur sehr mittelbar mit der Sache zu tun haben. Der Vorsitzende läßt sie reden. Er ist, hör es, o Deutschland, nur Leiter der Verhandlungen und kein Staatsanwaltsersatz. Die Stellung des französischen Verteidigers und die des deutschen . . . welch ein Unterschied! Dort ein geduckter Mann, der immer in leisem Verdacht der Mittäterschaft steht, von den strammen Vorsitzenden auch so behandelt wird und es sich gefallen läßt. Wie ja überhaupt das deutsche ›Standesbewußtsein‹ nie da funktioniert, wo es gefährlich wäre – etwa dem Brotgeber, dem vermeintlichen ›Vorgesetzten‹ gegenüber, sondern mehr auf Kongressen, in Reden und auf Wohltätigkeitsbällen. Dort also als Anwalt ein Mann Nummer sechs, hier eine Redefreiheit, die jedem deutschen Richter undenkbar vorkäme.

Es erscheinen nacheinander:

Antifaschisten, die die Geschworenen über Italien aufklären, soweit das noch nötig ist – und immer sind die Geschworenen die Hauptpersonen, nicht der Vorsitzende, der zuhört, schweigt und zuhört. Der große Journalist Albert Londres erzählt von Verzweiflungsszenen, die er in Spanien gesehen hat, wo sich paßlose Emigranten vor den Türen der Konsulate herumwälzten; der etwas zweischneidige Arbeiterführer, Herr Jouhaux . . . und ei! wer kommt denn da –?

Fräulein Margueritte Durand. Sieht auch so aus. Wie ein französisches Gretchen Schulze: das ist die Dame, die mit Herrn Rossi nach der Schweiz gereist ist, wo er dann – wie der Zufall spielt! – von den Italienern im Auto verschleppt worden ist. So sieht das also aus, wenn[345] die Spitzel Eros spielen lassen – hm. Eine spitze Nase, Fältchen um die Augen, ein böser Mund; hinter mir sagt eine Anwältin: »Sehen Sie sich die Frau an – gar nicht übel!« aber Frauen haben ja Frauen gegenüber meist einen merkwürdigen Geschmack. Fräulein Durand spricht mit leiser Stimme: »Ja, ich bin wochenlang in Rom eingesperrt gewesen . . . « Worauf sich einer der Geschworenen erhebt und freundlich fragt: »Und warum, verehrtes Fräulein, hat sich eigentlich der französische Konsul nicht um Sie gekümmert?« Sie habe an den Konsul geschrieben, sagt sie; aber der Brief muß wohl nicht angekommen sein. Ein beneidenswertes Metier.

Das Spiel geht weiter. Welch ein Kino der Justiz! Wie alles für die Geschworenen hergerichtet wird, bengalisch beleuchtet, verdunkelt oder ans falsche Licht gezerrt! Hier gilt es als eine Empfehlung, gegen die Bolschewisten zu sein – da ist es ein Verbrechen, sich mit Politik befaßt zu haben, denn das dürfen die europäischen Kinder nicht, dafür haben sie ihre Politiker, die Gott erleuchtet hat; und nun wird die Sitzung bewegter und bewegter. Maître Gautrat verschafft uns den seltenen Anblick eines Mannes, der eine Metapher zur Wahrheit macht: zum erstenmal sehe ich einen Redner, dem in der Tat der Schaum vorm Munde steht, seine Zähne zermalmen alle patriotischen Abstrakta mit einem Mal. Der leis grollende Donner von Maître Torrès schwillt an, der Mann hat das, was die Schauspieler ›eine gute Röhre‹ nennen, und er macht brausend Gebrauch davon. Die kleinbürgerlichen Vorstellungen der Geschworenen werden von beiden Parteien nicht schlecht gekitzelt: Sentimentalität, Mutterliebe, Witwentränen und arme Waise, die leidende Familie in Italien, des Ernährers beraubt – hier wird noch die Wahrheit zur dramatischen Lüge. Übrigens leidet die Familie di Modugnos in Italien wirklich: aus Wut über den Mann, der nicht zu fassen ist, hat Mussolini Frau und Kind auf eine böse Insel geschickt, in die Verbannung – ›de l'ersatz‹, wie die Franzosen seit dem Jahre 1916 sagen.

Jetzt ist die Verhandlung ganz und gar politisch geworden.

Die Stimmung für die Italiener ist in Frankreich zur Zeit dieses Prozesses nicht günstig. Mussolini, Nobile und die ungeschickten Nachahmungen französischer Pseudofaschisten, die keine Rolle spielen, aber doch eine spielen wollen – und so sang neulich ein Chansonnier im Cabaret:


Nobil' serait Américain,

Suédois, Portugais, Norvégien,

En parler serait très possible;

Mais précisément le Destin

A voulu qu'il fût Italien –

Ils sont si, si, si susceptibles![346]


Il est parti l'premier . . . mais ça

Bien des Italiens en sont là!

Au Pôle il fait un froid terrible . . .

Qu'est-c'que vous voulez, le pauvr' vieux,

Il a eu peut-êtr' froid aux yeux!

Ils sont si, si, si susceptibles!


Auf diese Empfindlichkeit nimmt eigentlich nur der Vorsitzende Rücksicht, der »nicht duldet, daß von einer Schwesternation so gesprochen wird, von einer befreundeten Nation, von einer verbündeten Nation . . . « und Torrès donnert weiter. Wie angenehm aber auf allen Seiten die Anerkennung der Regeln für Florett und schwere Säbel, gegenüber dem Mangel an Ritterlichkeit in deutschen Gerichtssälen, wo man fast immer das Gefühl hat, einer polizeilichen Vernehmung beizuwohnen, nicht aber einem Kampf der Meinungen.

Und die Plädoyers rollen: die brausende Orgel des Zornes, die säuselnde Vox humana der Empfindsamkeit, Harfe des Herzens, Flöte des Spottes und die ganze türkische Musik. Wer hat hier recht –?

Du sollst nicht töten. Blut ist selten eine Lösung; erklärlich bleibt die Tat, zu loben ist sie nicht. Aber:

Die Anarchie der Staaten quält die Zwangsabonnenten zu Tode, und hier hat sich einmal einer gewehrt. Vergeblich weist Torrès auf die Verhandlungen in Genf hin, wo man für alle diese Menschen ›zwischen den Staaten‹ einen Völkerbundspaß schaffen wollte, so wie es ja schon heute in seltnen Fällen einen Nansen-Paß gibt; dieser große Mann hatte ein Herz und keine Nationalflagge vor den Augen. Was ist es mit den Fremden in Europa?

Sie sind rechtlos.

Wäre es noch die verständliche Eifersucht der einheimischen Arbeiter, die für ihren Arbeitsmarkt fürchten und so mithelfen, die Freizügigkeit aufzuheben – wäre es nur das! Aber es ist der Wahnsinn einer übergeschnappten Bürokratie, die, um sich zu erhalten, längst Selbstzweck geworden ist, ohne Sinn, ohne Ziel, unfähig, auch nur ihre eignen Leute vor den Hochstaplern zu schützen, die sämtliche Pässe der Welt in Ordnung haben; unfähig, aber schikanierend; mit der Zeit und dem Geld der Steuerzahler, die den Apparat erhalten müssen, umgehend wie die Tyrannen, die sie sind.

Von Zeit zu Zeit entfesseln die pariser Zeitungen eine wilde Woge von Fremdenhaß, auf Bestellung, aber die pariser Presse ist vielerlei, unter anderm ein gutes Geschäft und ein Machtmittel – durchaus nicht Frankreich. In diesen Diskussionen gibt es nun ein Wort, das wir nicht mehr hören möchten –: das ist das Wort ›Gastfreundschaft‹. »Er genießt hier bei uns Gastfreundschaft . . . «

Das ist nicht wahr! Der Fremde zahlt im fremden Land Steuern wie[347] ihr; er arbeitet wie ihr; er gibt dort sein Geld aus wie ihr – also habt ihr, solange er die Gesetze des Landes befolgt, kein Recht, ihn hinauszuwerfen! Er genießt nicht die Bürgerrechte – das ist ein andres Kapitel –, aber er ist auch nicht euer Gast. Denn es geht heute nicht mehr an, Europa in kleine Festungen aufzuteilen, wo man ›maître chez soi‹ ist – und wenn hier einer einwirft, daß die Russen es auch nicht anders halten, so sei ihm gesagt, daß die Russen dann eben falsch handeln; wobei ihnen die wirklich vorhandene Verteidigungsstellung gegen eine Welt eingeräumt sei.

Ein Paß ist keine Gnade – und keine Regierung hat das Recht, ihre Leute bei sich einzusperren und sie etwa zu lebenslänglichem Italien zu verdonnern. Da gibt es ein italienisches Gesetz aus dem Jahre 1926, das bedroht den, der ohne einen sehr, sehr schwer zu erlangenden Paß die Grenze verläßt, mit einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und Geldstrafe bis zu zwanzigtausend Lire. Da gibt es Schikanen gegen Armenier, Weißrussen, Rotrussen, Italiener – es ist nicht richtig, daß der Fremde nur ein geduldetes Wesen zu sein hat! Selbstverständlich hat er, entgegen allen nationalen Vorstellungen von dem, was ›taktvoll‹ sei, auch das Recht, die Einrichtungen eines fremden Landes zu kritisieren; wir in Europa sind kapitalistisch längst eine große Familie, und die Einteilung in Staaten, wie sie heute sind, ist eine anachronistische Kinderei, eine gefährliche und eine unehrliche dazu. Wer ist hier im Recht?

Französische Geschworene haben sicherlich schon Fehlurteile gefällt. Aber sie haben eines vor den deutschen voraus: sie pfeifen oft auf die Autorität und unterliegen nicht sklavisch der Suggestion eines kleinen Landgerichtspräsidenten. Diese hier hatten auf folgende Fragen zu antworten:

1. Hat der Angeklagte eine Körperverletzung begangen?

2. Hat die Körperverletzung einen tödlichen Ausgang zur Folge gehabt?

3. Hatte der Angeklagte den Vorsatz zu töten?

4. Hat er die Körperverletzung vorsätzlich begangen?

Und nun geschah etwas sehr Charakteristisches. Die Geschworenen antworten nicht blind, sondern fragten zurück: »Welche Folgen hat es, wenn wir die einzelnen Fragen bejahen?« Der Vorsitzende klärte sie auf, worauf sie zugunsten des Angeklagten nur die erste Frage bejahten, alle andern aber verneinten – also entgegen dem klaren Tatbestand die Tötung leugneten. Witwe und Tochter des Erschossenen saßen in Trauer daneben.

Zwei Jahre Gefängnis – Anrechnung der Untersuchungshaft von einem Jahr.

Und ein Krach in der pariser Presse! Die Geschworenen hätten sich miteinander in Verbindung gesetzt; einer hätte den andern abends in[348] seiner Wohnung besucht . . . das wird auch gar nicht geleugnet. Der ›Matin‹ war drauf und dran, die Institution der Geschworenengerichte überhaupt abzuschaffen; der ›Ami du Peuple‹ des wohlriechenden Herrn Coty betonte, daß am selben Tag ein unehrlicher Steuereinnehmer wegen Unterschlagung zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden sei – als ob diese Justiz nicht immer Eigentumsvergehen am schärfsten geahndet hätte! Die Polizei stürzte sich mit Feuereifer auf neue Reglements gegen die Fremden, denen sie, wiederum nicht ganz zu Unrecht, vorwirft, einen etwas reichlichen Prozentsatz bei allen pariser Verbrechen zu stellen – und nun ging es auch jenseits der Alpen los.

Rede Mussolinis in der Kammer; Telegramm an die Witwe; Zähneknirschen, geschwungene Fäuste und drohende Reden – die soeur latine kreischte aus vollem Halse, und die französische Nation antwortet der Schwester lächelnd etwas, was ungefähr unserm ›Na und –?‹ entspricht: »Et ta soeur –?«

Und keiner sieht den wahren Grund dieser Affäre.

Zugrunde liegt der Irrsinn einer nicht mehr haltbaren Idee: der absoluten Souveränität der Staaten. So wie überall durch die mangelnde Arbeitsgelegenheit, die übertriebene Einschätzung einer armseligen ›akademischen Bildung‹ und der zunehmenden Sucht, sich schwerer Arbeit zu entziehen, ein Beamtenpartikularismus aufflammt, der das Leben von Tag zu Tag unerträglicher macht, so stemmt sich jedes dieser Staatengebilde mit aller Macht gegen die Entwicklung. Es wird ihnen nichts helfen. Es kommt das föderalistische Europa – trotz Genf.

Inzwischen weist Preußen lästige Ausländer nach Hamburg aus; Frau di Modugno darf nicht nach Frankreich kommen; die Engländer untersuchen in Newhaven die ankommenden Fremden auf Geschlechtskrankheiten – und unter einem Wald von flatternden Fahnen, blitzenden Messingwappen und herrlich bunt angestrichenen Generalen erbraust der Wahnsinn Europa.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 18.12.1928, Nr. 51, S. 903, wieder in: Lerne Lachen.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 343-349.
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