Provinz

[72] Wenn man eine Weile durch die Provinz trudelt, gerinnen bald die äußern Eindrücke zu einem bunten Knäuel, dessen Fäden immer wiederkommen: immer wieder ein Bahnhof, der aussieht wie eine gewaltige Stahlfabrik oder eine riesige Festung aus Stein; die Franzosen, deren Bahnhöfe Örtlichkeiten sind, die sie rasch durchschreiten, können sich gar nicht darüber beruhigen, was die Deutschen mit ihren Bahnhöfen treiben . . . aber da sind sie nicht ganz im Recht – zu tadeln ist nur, was auf den deutschen Bahnhöfen fehlt: nämlich eine Apotheke und ein Postamt und ein Geschäft, das kleine Reparaturen an Koffern ausführt . . . weil wir sonst keine Sorgen haben. Immer wieder[72] der große Bahnhof also, dann ein Hotel mit kleinen Fehlern, auf die offenbar alle Mitglieder des Reichsverbandes Deutscher Hoteliers vereidigt sind: kein Schuhlappen, Waschschüssel unpraktisch, Bidet vacat, wenn nicht Badezimmer, dann große Preisfrage: Wo tut man sich die Beine waschen? – und so fort. Vom Nebenlärm zu schweigen – darin sind sie unbelehrbar; zum Nebenzimmer muß eine Tür führen, die nur selten eine Doppeltür ist, so daß wir mit der Schreiberin eines Zeitungsbriefkastens seufzen dürfen: »Die alleinstehende Frau des gebildeten Mittelstandes begibt sich doch nicht auf Reisen, um die heimischen Geräusche eines zähneputzenden Mannes zu hören.« Bravo! Und wenn du dir morgens unweigerlich, in allen Städten ohne Ausnahme, die Finger am zu heißen Griff der Teekanne verbrannt hast, begibst du dich in das brausende Leben der deutschen Provinz.

Also so schlimm ist es nun nicht. Nämlich so schlimm, wie es die Kritischen unter den Provinzlern selber machen. Der Reisende aus der großen Stadt begegnet einer leisen Bewunderung, die sich oft dahin begibt, woher sie kommt: nämlich in das Neidgefühl. »Ja, Sie da in Berlin –! Und wir hier in der Provinz –!« Ich weiß doch nicht.

Es gibt in allen deutschen Provinzstädten, die ich gesehen habe, nicht zu kleine Kreise, die Gesinnung haben und arbeiten. Schwer genug wirds ihnen gemacht. Die Überbetonung von Mittelmäßigkeiten findet sich in jeder kleineren Gruppe, das ist ein soziologisches Gesetz und keine Sondereigenschaft der deutschen Provinzstädte. Wir treten von außen in ihren Kreis etwa wie jemand, der ohne Vorbereitung an einen Tisch sich zankender Verwandtschaft kommt: da sagt einer »Onkel Paul«, und ein gehässiges Rauschen geht durch die Runde, das kann sich der neue Mann gar nicht erklären, weil er die zehntausend Assoziationen nicht kennt, die hier bei der Namensnennung auftauchen – für jene ist Onkel Paul eine Welt, für uns nur ein etwas mäßiger Bürger. Sagt also einer in Stuttgart »Herr Klößli«, so ist ›Herr‹ tödlichste Ironie und ›Klößli‹: Schlachtruf, Fanfare, Feldgeschrei und Losung. Wenn wir Herrn Klößli nachher sehen, wundern wir uns ein wenig über so viel Lärm, denn wir haben nicht mit ihm und nicht neben ihm gelebt. Und ist das in Berlin etwa anders –?

Ich halte den Drang, um allen Preis ›hier heraus‹ und nach Berlin zu gehen, für Fahnenflucht und für einen Fehler obendrein. Die berliner Zeitungen, die einen merkwürdigen Lokalpatriotismus treiben, der der Stadt ihr Bestes nimmt und fremde Zutaten aufplustert, merken voller Stolz an: »Auch Herr Mann hat jetzt in Berlin seinen Wohnsitz genommen.« Sehr bedauerlich – denn dies ist eine Flucht. Eine Flucht aus München, natürlich, eine Flucht aus Stuttgart, eine aus Königsberg – und so verödet die Provinz. Das ist durchaus kein Sieg unsrer Gedanken – in Berlin sind die Fliehenden recht ungefährlich, man läßt sie machen, sperrt sie bestenfalls nicht ein . . . In Köln[73] aber könnten drei solcher Kerle dem Stadtrat ordentlich zusetzen, sie könnten da eine Macht sein, wo heute die andern unumschränkt herrschen, und sie herrschen!

Ich bin in Süddeutschland gewesen, und was mir in allen Städten aufgefallen ist, ist das Rascheln der Soutanen, die du durch alle Rayons hindurch hörst. Die Herrschaft dieser Spießer ist vollkommen; man glaube doch ja nicht dem Kaplan Fahsel und dem Herrn Muckermann und sonstigen Figuren, die die Firma im Schaufenster hat – drin werden ganz andre Waren verkauft. Die Reaktion, soweit sie in Deutschland geistig ist, kopiert, hier noch schämig, den Faschismus: Kampf gegen die gemeingefährliche Kirchturmpolitik des Zentrums ist eine ›peinliche Rückständigkeit‹, denn wenn einer Freiheit propagiert, antwortet ihm jenes neue, von der Rüstungsindustrie ausgehaltene Europa: »Was tragen Sie denn da noch für einen Schlips?« und es gibt genug Dummköpfe, die daraufhin ihre Fahne beschämt wieder einstecken . . . Ein Kampf um die Kultur aber muß nicht Kulturkampf sein, und wenn die jetzige Führergeneration der Sozialdemokraten durch Krieg und Inflation korrumpiert ist, so heißt das noch nicht, daß die Arbeiter und freiheitliebenden Bürger wehrlos den Pfaffen ausgeliefert werden sollen. Ob die wissen, was sie wollen, steht dahin – aber sie wissen wenigstens sehr genau, was sie nicht wollen. Sie haben die Schule; sie haben die Universität – und sie üben einen Einfluß auf den Rundfunk aus, der traurig mitanzusehen ist. Beim Rundfunk habe ich Männer gesehen, darunter auch Leute unsrer Generation, die ihr möglichstes tun, aber wie wenig ist das! Der Rundfunk, dessen Rolle und Einfluß in der Provinz noch viel größer sind als in dem ewig abgelenkten Berlin, besteht zu gut achtzig Teilen aus Angst – ist denn da keiner, der den pensionierten Obersten der alten Armee, den Nutznießern der neuen und den Kirchenmännern sagt: »Wenns euch nicht paßt, könnt ihr die Antenne erden«? Ernst Hardt in Köln hats ihnen gesagt – man muß ihm dafür Dank wissen. Die andern sind furchtsamer; denn sie fürchten ja nichts für sich, sie wollen nur nicht, daß die Wahrheit an die Massen herankommt, und nicht jeder hat so viel Charakter wie unser Ernst Glaeser, der im frankfurter Radio Briefe gefallner Studenten vorlesen ließ und einem ergrimmten Militär, der sich beschwerte, antwortete: »Wenden Sie sich bitte an den Briefschreiber. Er liegt bei Ypern.« Worauf keine Antwort mehr kam.

Im Theater ist das überall ähnlich. Die ästhetischen Streitereien haben mich nicht interessiert; ich ahne nicht, worum sie sich balgen. Speelt man god, habe ich mir gedacht. Aber die Herrschaft, die die Theaterkommissionen fast überall ausüben, ist katastrophal und eine Diktatur der Mittelmäßigkeit. Das wird noch dadurch verschlimmert, daß die meisten Vertreter der Sozialdemokratie nicht wissen, wo Gott wohnt, und daß die Kommunisten, in der falschen Erwartung, der[74] große Tag trete morgen ein, sich kaum um diese Dinge kümmern. Der Rest steht unter einer Diktatur, die um so beschämender ist, als sie von einer wirtschaftlich nicht immer mächtigen Minderheit ausgeübt wird. Die Angst dieses Bürgertums vor den Mächten von gestern ist groß; es ist, als fühlten sie, es seien diese wiederum die Kräfte von morgen, und da von den Druckereibesitzern der kleineren Zeitungen nicht viel Charakter zu erwarten ist und ihre Redakteure kaum zählen, so kann man sich das Zittern und Zagen vorstellen, das da ausbricht, wenn der ›Nationalverband Deutscher Offiziere‹ oder sonst irgend eine Emanation deutscher Stalluft und gottesfürchtiger Dreistigkeit protestiert. Bestenfalls ersticken solche Streitigkeiten im Kompromiß.

Hier kann etwas getan werden.

Berlin hat eine Schuld an die Provinz – wir sollten ans Werk gehen.

Es gibt so viel guten Willen in der Provinz, so viel junge Leute, die suchen, so viele, die dem ersten besten Rattenfänger auf den Leim gehen, weil kein andrer da ist. Laß einmal die fragenden Augen auf dich gerichtet sein, sei ehrlich genug, ihnen zu antworten: »Auch ich suche. Auch ich bin weder ein Prophet, der die fix und fertige Lösung der Lebensrätsel in der Tasche hat – unter der Bedingung, daß die Herren seine Terminologie benutzen und die Damen mit ihm schlafen – noch bin ich der Patent-Organisator, Zahlung des Mitgliedsbeitrages genügt, komme sofort, Angehörige unsrer Organisation leiden an keinerlei metaphysischen Beschwerden . . . « Hab Mut und sag das. Und hilf. Wie –?

Die jungen Leute der deutschen Linken, die in Berlin wohnen, sollten viel mehr in die Provinz fahren, als sie es heute tun. Es gibt Hunderte von Gruppen, Kreisen, Bünden und Vereinen, die gern für die Reisekosten aufkommen – am Geld kann das nicht scheitern. Sie sollten fahren: als Lernende, nicht etwa als Belehrende; als Nehmende und als Gebende, ohne Großstadt-Hochmut, als gute Kameraden. Sie werden, wenn es die richtigen Kerle sind, überall willkommen sein. Wo seid ihr –? Warum laßt ihr die Freunde im Lande allein? Warum läuft sich vieles tot, was ihr in Berlin macht, in Berlin, wo ihr immer dasselbe Publikum habt, eines, das viel, viel kleiner und ganz bedeutend einflußloser ist als ihr denkt? Wo bleibt ihr –? Wo seid ihr –?

Ihr könnt Einfluß haben; ihr könnt wirklich gefährlich sein – aber nicht in W 50. Ihr seid es im Augenblick, wenn ihr das, was unter euch schon selbstverständlich ist, in Bitterfeld aber eine Kühnheit, in die mittleren und kleinen Städte tragt – da ist eine Kampfbahn, deren Zuschauer auf euch warten, im guten wie im bösen. Die guten stehen zum Teil mutig auf verlorenem Posten; die bösen lassen euch das billige Vergnügen, in Berlin radikal zu sein (»Bei uns in Greifswald gibts so etwas nicht!«) – zeigt ihnen, daß es das auch in Greifswald,[75] grade in Greifswald gibt. Dazu gehören Takt, Bescheidenheit den Freunden, Mut den Feinden gegenüber. Geht in die Provinz – stärkt die Freunde und seht etwa, was die Richter an den kleinen Amtsgerichten treiben, anonym, niemand kontrolliert sie, kaum einer widerspricht. Ihr, die ihr von den Provinzmächten nicht abhängt, könnt aussprechen, was denen verwehrt ist, weil sie finanziell abhängig sind; weil die Rücksicht auf die Eltern es erfordert; weil eine Stellung gewünscht wird, weil »man nicht immer so kann« . . . Ihr könnt immer so. Fahrt in die Provinz – kommt, seht und siegt. Ihr werdet Hunderte finden, die aufatmen, wenn ihr Wahrheiten sagt, die für uns simpel sind – Tausende denken so wie wir, können es aber nicht aussprechen. Sprecht es für sie aus! Und wenn ihr auch mitunter enttäuscht werdet – laßt euch nicht enttäuschen. Euer vierzehntägiges Wirken in einer mittlern Stadt klingt länger nach als alles, was ihr während eines halben Jahres in Berlin treibt.

Ein Sieg in der großstädtischen Zeitung ist keiner. Der Feind muß auf seinem Felde aufgesucht, angegriffen, geschlagen werden.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 28.05.1929, Nr. 22, S. 818.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 72-76.
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