Auf dem Nachttisch

[95] Auf dem Nachttisch liegen große und kleine Bücher, weiße Druckbogen, ungeheftete, eine Flasche ›Vichy-watten‹, so heißt das hier, Bobongs, und gar keine Zeitung, was das Leben wesentlich erleichtert. Die Bobongs schmecken nach Selterwasser, das Selterwasser nach Bonbons, die Bücher . . . wollen sehen.

Das dickste zuerst. Es ist der ›Große Brockhaus‹ A – Ast. Ja, soll ich mir da einen lachen? Mich hat neulich in der ›Neuen Bücherschau‹ Artur Rudolf rechtens darauf aufmerksam gemacht, ich solle meine Bücher lieber in Antiqua setzen lassen, obgleich doch diese Sammelbände nicht grade vom Ausland verschlungen werden, und in einem Brief hat mir Herr Rudolf meine alte Liebe zur Fraktur mit so kräftigen Argumenten erschüttert, daß ich sehr in mich gegangen bin. Die Fraktur deckt sich heute so recht mit der Reaktion, sagte er; sie will in der Welt und der Welt gegenüber etwas Besondres sein . . . wir benutzen doch auch keine Schreibmaschinen mit Frakturtypen . . . hat Brockhaus wirklich nötig, seine so große und gediegene Arbeit im Ausland selbst herabzusetzen? Ich denke: nein. Er schreibt mir: ja. »Der ›Kleine Brockhaus‹«, schreibt er, »ist bereits in Fraktur gedruckt. Bei dem ›Großen Brockhaus‹, dem Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, konnte ich mich dagegen dazu nicht entschließen, da das Werk nach meinen bisherigen Erfahrungen infolge seines Umgangs für einen Vertrieb im Ausland kaum in Frage kommt.« Nun, das ist ein Argument – wenngleichen es meinen Augen so scheinen will, als lese sich die Fraktur eben doch schwieriger als eine glatte Antiqua.

Soweit ich die Arbeit sonst beurteilen kann, scheint sie mir sauber und – was man in Deutschland leider hinzusetzen muß – neutral. Ich habe die 780 Seiten nicht alle gelesen, aber an keiner Stelle habe ich so etwas wie ›nationale Geschichtsschreibung‹ oder ›völkische Geographie‹ gefunden. Die Abbildungen muten etwas dürftig an – die Bildtechnik ist so weit vorgeschritten, daß das Konversationslexikon[95] nicht mehr das einzig gut illustrierte Werk des Haushalts ist. Es hat sich da überhaupt etwas geändert. Zwanzig Bände: ich glaube, die Zeit dieser Riesen-Nachschlage-Wälzer ist vorbei.

Ja, damals . . . Da sind wir denn also, wenn Papa nicht zu Hause war, hingegangen, haben uns den Schlüssel gemopst und reichlich bösen Gewissens nachgesehen, woher die Kinder kommen. Man mußte viele Bände nachschlagen; die kleinen Seidenpapierblättchen zwischen den Buntbildern fielen wie ein Hauch zu Boden, ›Zeugung‹ enthielt ›Wollust‹ (siehe diese), und es war gar nicht einfach; ein rechter Leitfaden ist das denn auch nicht gewesen. Aber abgesehen davon: das zwanzigbändige Nachschlagewerk fußt auf dem Bildungsideal des neunzehnten Jahrhunderts, und das ist dahin. Wir haben heute den Mut zu sagen, daß wir von einer Sache nichts verstehen, denn es gibt zu viel Sachen; und wollen wir uns länger und intensiver mit einem uns fremden Gebiet befassen, dann ist es das Speziallexikon, das den Sieg davonträgt. Für den Rest, mal schnell nachzusehen, was eine Akkomodationslähmung ist, genügt ein Vierbänder alle Tage. Das Postulat, alles zu wissen oder doch möglichst viel, ist heute ein Gesellschaftsspiel geworden und heißt ›Frag mich was‹, aber niemandem fiele es ein, danach die Bildung eines Menschen zu bemessen. Das Wort ›Lexikonsbildung‹ hat rechtens einen nicht guten Nebengeschmack, und wenn es nur eine Krücke sein soll, dann ist diese Form zu solid gebaut: eine Krücke aus Stahl, mit Silbereinlage und elektrischem Läutewerk . . . wir aber wollen laufen. Immerhin: wer es sich leisten kann, mags ja wohl kaufen.

›Angeklagter‹ steht noch in diesem Band. Ein ganzes Buch über ihn, über die ›Justiz‹ liegt vor, hat zum Verfasser den wiener Advokaten Walther Rode (und ist bei Ernst Rowohlt zu Berlin erschienen). Das ist eine Herzerfrischung. Rode, dessen ›Beamtenpyramide‹ ein Pamphlet großen Stils ist, nennt das Kind und alle Kinder der Justiz bei ihrem richtigen Namen; daran können sich deutsche Anwälte, die dergleichen nie wagten, ein Beispiel nehmen. Gewiß wird in Österreich nichts so heiß getan, wie es geschrieben wird, aber es ist doch schon viel, wenn ein Anwalt so über die Richter spricht wie dieser hier. Nie, niemals brächte ein deutscher Anwalt den innern Mut auf, über das Reichsgericht zu urteilen wie jener über den Obersten Gerichtshof – und wie müssen sich beide ähnlich sein! Nur ist das Reichsgericht offenbar noch gefährlicher, weil es besonders in den letzten Jahren seine Rechtspolitik macht, ohne Widerstand zu finden. Rode bröselt das Paragraphengewebe von innen auf; er sagt, ›wies ist‹: er kennt die Faulheit der Richter, ihre Anmaßung, ihre ungeheuerliche Unbildung und ihre völlige Herzlosigkeit.

Er spricht auf zwei Seiten, den beiden ersten, über die Prozesse, die der Selige aus Doorn gegen Piscator angestrengt hat; solche Laute[96] sind bei uns zu Lande unerhört, wo man die steckengebliebene Untertanenhaftigkeit als Rechtsgefühl ausgibt, während Rode richtig dartut, daß einer, der sein Leben lang über dem Recht gestanden hat, nun nicht plötzlich wie eine Gemüsefrau klagen kann. »Man hat nicht das Amtsgericht anzurufen, wenn man beim Weltgericht sachfällig geworden ist.« Und: »Die Frage, ob man einen Exkaiser auf dem Theater spielen dürfe, wird umfaßt von der Frage, ob man einen Exkaiser aufhängen darf.« Kurz: der, der nie eine Rechtsperson im bürgerlichen Sinne gewesen ist, darf nun nicht auf einmal eine werden – er sei von nun ab rechtlos. Aber das bring du in deutsche Köpfe.

Das Kernstück des Buches – einen unaufgeklärten Todesfall – halte ich nicht für besonders glücklich. Es finden sich da Ansätze einer Psychologie, die der Verfasser den Richtern vorwirft; wie er zum Beispiel den Mann, den er für den Mörder hält, angreift, geht mir nicht ein. Da werden Indizien zusammengetragen, Bausteine einer Seelenkunde, die Rode, wendete sie ein Richter an, wahrscheinlich mit ebenso großem Temperament wie Geschick zerpflückte.

Aber warum sind Mut, Charakterstärke, Angriffsgeist und Einsicht in das Wesen der Justiz unter unsern Anwälten fast gar nicht zu finden?

Weil sie sich als ›Organe der Rechtsprechung‹ betrachten und gnade Gott, wenn ein Deutscher einem Beamten nacheifern will! Der deutsche Anwalt unterliegt einer ›Ehrengerichtsbarkeit‹, die, würde sie von stockreaktionären Richtern ausgeübt, nicht schlimmer sein könnte, als sie ist. So etwas von Verlogenheit, von falschem Amtscharakter, von gänzlich verkannter Standesehre war noch nicht da. Nehmt euch ein Beispiel an diesem Österreicher hier! eure heute klägliche Stellung vor den Gerichten wäre eine andre, eine ganz andre.

Wie kann sie aber anders werden, wenn sich manche Anwälte – wie viele! wie viele! – bei den Richtern mit den übelsten Mitteln anmeiern, für ihren Mandanten, gewiß, aber doch ist es kein schönes Schauspiel. Herr Kantorowicz aus Berlin verteidigt einen ehemaligen Kassierer des Verbandes für Freidenkertum, der 24000 Mark Verbandsgelder unterschlagen hat. Und führt als Entschuldigungsgrund an, »daß, wenn die von dem Angeklagten rechtswidrig entnommenen Beträge solchen Bestrebungen nicht zugute gekommen sind, dies nicht zum Schaden wahrhafter Kulturgüter geschehen sein kann«. Wonach also künftighin Unterschlagungen bei der staatlichen Lotterie straflos sein dürften. Aber wie muß so ein Anwalt die Richter einschätzen, wenn er ein solches Argument auch nur vorzubringen wagt!

Es gibt Ausnahmen. Ein Arzt und ein Anwalt – Franz Alexander und Hugo Staub – haben (im Internationalen Psychoanalytischen Verlag in Wien) eine Keule gegen die Richter geschwungen, die nur deshalb[97] nicht tödlich trifft, weil man Gummigötzen verbrennen muß. Das Buch heißt ›Der Verbrecher und seine Richter‹ – und als ich es gelesen hatte, kam mir die ganze Schande, die in dem neuen Strafgesetzbuch und in seiner Entstehung steckt, noch einmal voll zum Bewußtsein.

Ob jede dieser Theorien richtig ist oder nicht, ist nicht von Belang. Von Belang allein ist dieses:

Das neue Strafgesetzbuch ist überhaupt nichts. Es ist eine lächerliche Ansammlung von Polizeiverordnungen, sinnlos erwürfelten Strafmaßen und – wie hier klar nachgewiesen ist – aufgebaut auf Tatbeständen, die es nicht gibt. Alles, ohne Ausnahme alles, was in diesem Strafgesetzbuch über ›Vorsatz‹, ›Fahrlässigkeit‹ und dergleichen zu lesen ist, existiert nicht; es sind Sumpfblasen, falsche Laien-Vorstellungen über die menschliche Seele, schlecht verhüllte politische Absichten. Wenn man weiß, wie so ein Entwurf zustande kommt; welch kleiner Kreis überhaupt daran hat mitarbeiten dürfen – wenn man ferner weiß, aus welchem geistigen Milieu sich dieser Kreis zusammensetzt, Leute, unter denen der alte Kahl noch wie ein Mauerwerk aus alter Zeit aufragt, und drum herum fast nichts als Schlingpflanzen . . . dann hat man einen Begriff, was unsern Kindern und Kindeskindern als Recht über die Köpfe gehängt wird.

Es sind aber nicht nur die Untersuchungen über die Verbrechertypen, die in diesem Buch zu höchster Bewunderung hinreißen –: es ist vor allem eine Fundamentalwahrheit, der ich hier tausendmal Ausdruck gegeben habe, ohne sie jemals so exakt zu formulieren, wie diese beiden das tun.

»Der Kriminelle setzt seine natürlichen, unangepaßten Triebe, eben wie das Kind es möchte, wenn es nur könnte, in Handlungen um. Für die verdrängte, also unbewußte Kriminalität des Normalmenschen bleiben dagegen nur einige sozial harmlose Ventile, wie das Traum- und Phantasieleben, das neurotische Symptom und dann einige Übergangsformen bereits weniger harmloser Befriedigungsmöglichkeiten wie Duell, Boxsport, Gladiatoren- und Stierkämpfe bis zu dem freien Ausleben verdrängter Kriminalität im Kriege.« Und nun hör gut zu, deutscher Richter:

»Kein besserer Beweis für die allgemeine Kriminalität könnte erbracht werden als das gewagte Experiment, der spanischen Nation ihre Stierkämpfe, den Amerikanern ihren Box- und Rugbysport, dem alten Europa seine Soldatenspiele oder der Welt die Strafjustiz zu nehmen.«

Da ist es.

Es ist ja nicht wahr, daß sich diese Richter und Staatsanwälte »in den Dienst des Staates« stellen, so Arbeit und Leben der Allgemeinheit aufopfernd; es ist ebensowenig wahr, daß sie bewußte und reine Formen des Sadisten darstellen – sie wissen nicht, was sie tun. Aber sie tun. Wer einmal gesehen hat, wie die Spannung zwischen Vorsitzendem[98] und Angeklagtem fast körperlich fühlbar wächst, wenn der auf der Anklagebank ein Mann bleibt, sich nicht beugt, das Gericht nicht provoziert, aber auch nicht anerkennt – der weiß genug. Der tiefe Trieb, mit dem verhaßten Neben-Ich zu spielen wie die Katze mit der Maus, es die Macht fühlen zu lassen, die herrliche, steigernde und nach Blut schmeckende Macht – die eine Seite der Selbstbehauptung heißt Coitus, die andre Quälen. »Dem Richter«, steht dann im Nekrolog, »verschaffte seine Arbeit volle Befriedigung«, und das ist viel wahrer, als der Schreiber ahnt. Was die da treiben, was sie auf allen Kasernenhöfen treiben, ist verdrängte, sublimierte, sozial unschädlich gemachte, ja sogar hier und da nützlich gemachte Kriminalität.

Das Buch ›Der Verbrecher und seine Richter‹ verdient, von allen gelesen zu werden, denen neben der Rechtsprechung das Recht am Herzen liegt.

Diese staatlich approbierte Kriminalität kommt rein zum Ausdruck in dem Buch Max Hölzens ›Vom Weißen Kreuz zur Roten Fahne‹ (im verdienstvollen Malik-Verlag zu Berlin erschienen). Ein Zeitdokument ersten Ranges.

Das Buch ist anständig geschrieben, worauf es gar nicht ankommt; eine demokratische Zeitung gab dem ›Stil‹ Hölzens eine Note zwischen kaum genügend und schon mangelhaft, und es ist ja sicher, daß Furtwängler besser dirigiert als Hölz schreibt – »es geht eben nichts über die gedieschene Kultur in einem guten jüdischen Bürscherhaus –«. Wir aber wollen etwas von der Zeit erfahren, in der wir leben, vor allem: von dem Land, in dem wir leben. Und das sagt uns Hölz.

Dem kriegsgetrauten Husaren mit Braut (auf der Rückseite des Bildes die taktisch geschickte Reproduktion einer Seite aus seinem Militärpaß) sieht man nicht an, daß dieser brave Soldat einmal die preußische Justiz durcheinander bringen würde. Seine revolutionären Taten wird er heute wahrscheinlich selber unter einem andern Lichte sehen; diese aufflackernden Aufstände konnten keine Revolution sein, weil die geistigen Vorbedingungen fehlten, die wirtschaftlichen waren fast überall vorhanden, doch die genügen eben nicht. Was Hölz aber da gemacht hat, war tapfer und anständig, mehr: es kam aus dem Herzen. An keiner Stelle hat man das Gefühl wie etwa bei der Lektüre von Generalsmemoiren: »Und du –?« Der Mann hat im Bürgerkrieg sein Leben riskiert.

Mehr noch nachher. Ich halte seine Verteidigungsrede vor Gericht, die keine gewesen ist, sondern eine der schärfsten Anklagen gegen diesen Staat und seine Justiz, für ein Meisterstück an Mut, an Charakter, an Temperament, an Mannhaftigkeit. Hölz hat um seinen Kopf gespielt: er konnte ja nicht wissen, ob sie ihn nicht hopp nehmen würden – er hat sie ausgelacht. Der Vorsitzende, der damals seinen Kopf verlor und in einem murksigen Wutanfall kläglich vor Hölz zusammenbrach[99] – der hat den Prozeß verloren, seine Klasse hat ihn verloren. Hölz hat ihn gewonnen.

Er hat es bitter gebüßt. Ich werde auf die Einzelheiten dieses Buches noch einmal zurückkommen – so leicht wollen wir es dem Strafvollzug nicht machen. Was da dem Staat mit Peitschenhieben ins Gesicht geschrieben wird, ist nicht mit der Ankündigung von »Reformen für einen humanen Strafvollzug« gutzumachen; hier muß noch etwas andres geschehen. Ich habe mich geschämt, ein Deutscher zu sein, als ich das gelesen habe –: wie! ein paar Meilen vom Parlament, von der Wilhelmstraße, von den Premieren der feinen Leute, die vor Kultur bald zerplatzen, darf sich das abspielen!? Das? Eine solche klare sadistische Quälerei von Wehrlosen durch das unterkietigste Gesindel der Welt? Und schuld sind nicht etwa nur diese kleinen, schlechtbezahlten Wachtmeister mit dem gestörten Triebleben; schuld sind in weit größerem Ausmaß die ›Kontrollorgane‹, die Direktoren, die Geistlichen und vor allem: die Ärzte. Wo sind eure Standeskammern? Wo eure Standesehre? Wo euer feierliches Getue, das ihr vor Kurpfuschern, also vor der Konkurrenz, aufführt – hier, hier solltet ihr euch die Kollegen langen und sie verhören und ausfragen und konfrontieren und aus euerm Stande ausstoßen, den sie beflecken! Die Martern, die man Max Hölz zugefügt hat, die man seinen gefangenen Kameraden zugefügt hat und noch heute zufügt – sie schreien zum Himmel. Und daß Max Hölz diesen Schreiern seinen Mund geliehen hat –: das ist sein großes Verdienst. Welche Rolle spielt er heute in der Partei? Ich glaube: er stört.

Es ist übrigens nicht unsre Aufgabe, zu prüfen, ob Max Hölz ein ›großer Mann‹ ist – darauf kommt es gar nicht an. Er ist es nicht, und er will es gar nicht sein, und das ist eine traurige Geschichtsbetrachtung, die auf Aktschlüsse aus ist. (Euer Bülow war ja wohl ein großer Mann . . . ) Und traurig genug, wenn sich ein Arbeiter seine Bildung stückweis nachts stehlen muß; wenn ihr ihn halb, viertel, ein achtel gebildet herumlaufen laßt. Was Hölz ist, ist er trotz der ›Ordnung‹, in der er lebt, geworden. Seine Leiden aber gehen restlos auf ihr Konto.


Nun ist es spät, der Wind saust um das Haus, und obgleich ich nicht schwedisch kann, verstehe ich ihn ganz gut. Immer noch besser als das, was zur Zeit als Lyrik ausgeschrien wird – wer will denn das lesen! Große Generalausnahme, die nicht vom Nachttisch herunterkommt, die da wohnt, in der ich mich abends betrinke, eine ganze Bar voller Lyrik:

›Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring‹ (erschienen bei S. Fischer in Berlin). 252 Seiten – mir viel zu dünn.

Ich schwöre, daß ich mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert bin – aber dies sind doch jene Seiten, bei denen es mich eben ›hat‹. Es kann nicht nur die Musik sein, die mir bei vielen Chansons einfällt – jene wundervollen Musiken von Friedrich Hollaender[100] und W. R. Heymann – die haben ja doch noch allerhand andre Lieder komponiert . . . die Musik allein kann es nicht sein. Mehring hat in seinen Versen einen völlig neuen Ton in die Literatur eingeführt; das ist an manchen Ecken vom Französischen beeinflußt, aber das erklärt den Ton nicht. Diese Verse sind seltsam irreal, gläsern, manchmal würgt einem eine Papierwendung, die ganz bewußt gesetzt ist, den Hals zu; manchmal reißt der Rhythmus – dieser Dichter kann noch den Herzschlag seiner Leser beeinflussen, wenn er will. Es ist ja immer ein gutes Kriterium, zu sehen, was herausgekommen ist, wenn der andre das gleiche Thema bearbeitet. Hier ist zum Beispiel so ein Fall. Wir haben einmal beide, zu verschiedenen Zeiten und ohne voneinander zu wissen, walzende Tippelkunden singen lassen. Ich machte einen spaßigen Klamauk; Mehring hat Verse, Rhythmen, Assoziationen gefunden, die alles weit übertreffen, was mir je dazu eingefallen wäre.

Der Weg ist weit – wir haben Zeit

und:

Hallélujah! Wir Kinder der Chausseen

und:

Und eh wir unters Joch den Nacken biegen

Und eh sie uns zu einer Arbeit kriegen:

Da fressen wir gestoßenen Paprika

Hallélujah! Hallélujah!


Man sieht schon aus diesem Beispiel: das hat mit Naturalismus nichts zu tun. So spricht kein Tippelkunde – aber es ist, sagen wir mal, die platonische Idee des Tippelkunden . . . Mehring, lach nicht! Wie soll ich den Leuten erklären, wie zauberhaft das alles ist! Laß mich mal blättern.

Im ›Ketzerbrevier‹ herrlich gereimte Lieder, von einem in Deutschland fast nie gesehnen Wortreichtum, und diese Worte fliegen dem nur so zu; dann die Lieder von der großen Stadt – da hat er übrigens etwas Schönes angerichtet. W. M. ist nämlich nicht nachzuahmen, wird aber dauernd kopiert, etwas ganz und gar Grausliches. Es gibt wohl kein modernes Cabaret mehr, das auf sich hält, wo nicht in abgehackten Rhythmen, zer-fetzt, die Stras-se schreit – der mo-der-ne Rhythmus der-Zeit . . . na, es ist ganz furchtbar. Aber bei Mehring ist es neu und erstmalig und Ausdruck eines Kunstwillens. In den ›Music-Hall-Balladen‹ das wie von Grosz gezeichnete ›Oberammergau‹, wohl die blutigste Satire, die je auf den wilden Vulksstamm der Bayern geschrieben worden ist, mit einer falschen Treuherzigkeit, mit der vollen Entlarvung dieses Betriebes . . . das ist eine Pracht. Und in den ›Legenden‹ überirdisch schöne Lieder. Unfaßbar die Technik, wie der Refrain an die Vorstrophe herangeflogen kommt – vom Himmel hoch, da kommt er her . . .[101]


Karin

trägt zwei rote Schuhe,

Karin

träumt von einem Kuß –


und dann die ›Schaubude‹, eine Köstlichkeit, die man auch ohne die Musik Hollaenders tief in sich eingehen läßt. Die ›Schafherde‹ hingegen . . . ja, warum wird das alles nicht gesungen? Warum nicht noch einmal und immer wieder ›Die Kälte‹, ich kenne allerdings niemand, der es so sagen könnte, wie ich es höre; und wer ›Charité‹ sprechen kann, der muß wohl erst noch geboren werden. Ich habe vorher nie gewußt, daß es eine berlinische Trauer gibt. Aber es gibt eine. Warum nicht ›Wiegenlied‹? Mit diesen spiralförmig angedrehten Versen:


Es liegt eine Leiche im Landwehrkanal,

Fischerin du kleine –,


aber wer kann mit diesen bunt kolorierten Zeilen tragisch wirken? Wer? Paule Graetz hats einmal in ›Heimat Berlin‹ getroffen, dem berlinischsten Gedicht, das mir bekannt ist:


Denn wer nu mal mit Spree jetooft,

Durch alle Länder Weje looft,

Der fährt

immer mal wieder

Mit der Hand übern Alexanderplatz –


Das ist Berlin. Ob die pariser Chansons Paris sind, kann ich nicht beurteilen. Ich sehe Paris so völlig anders, daß wir in diesem Punkt, wie Karl Valentin sagt, »eine andre Weltanschauung haben« – diese Lieder sind mir nicht eingegangen. Aber die andern, aber die andern: warum führt das keiner auf?

»Sein Se witzig.« Weil die Cabarets von dem merkwürdigen Ehrgeiz gepackt sind, aggressiv sein zu wollen, ohne anzustoßen; und weil das Publikum das angeblich nicht will; und vor allem, weil keine Leute da sind, die das sprechen können. Ihr habt das Publikum nicht nur auf diese fatalen Poängten dressiert – ihr habt es auch verdorben. Da kommt irgend so eine bleichgesichtige Nutte heraus und drängt sich, uninteressant wie sie ist, zwischen Text und Hörer; da benutzt Herr Schauspieler Krachke den Text als Sprungbrett, um aufzufallen – er soll gar nicht auffallen, er soll erst einmal verstehen, was er singt, fühlen, was er bringt, begreifen, was da steht . . . keine Ahnung. »An der Stelle werde ich niesen – passen Sie mal auf: das wirkt.« Sicher: zum Abführen. Wenn aber Granowski so ein Ding wie die ›Jiddische[102] Schweiz‹ in die Finger kriegte – ist denn das so schwer? Liegt nicht alles klar zu Tage? Ein richtiger berliner Junge hätte die Vorstrophe zu singen, mit sonen eingebeulten Hut:


Sonntachs mitm neien Schlipps,

Jehn wa an de Ecke ›Jipps‹

und

Juhn abend allerseits! –

Draußen schneits!


Und dann, aus dem Hintergrund vortobend, drei total irrsinnig gewordene Judenjungens, die den Berliner spottend umgrölen:


As de Levone

De treifne Melone

Schaint in de jiddische Schweiz!


Und das dreimal, mit allen Varianten, mit einem vokalreich klagenden Chor, und ihr sollt mal sehen –.

Ich verliere mich. Wir haben kaum Ansätze zu einem Cabaret. Mehring steht im Buch – diese große Begabung verbleibt im Buch und auf dem Papier, wo in Deutschland alles steht. Grund genug, diese besten Chansons, die nicht von Kipling sind und nicht von Villon und nicht von Herrn Lax . . . Grund genug, diese Chansons doppelt zu lieben.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 18.06.1929, Nr. 25, S. 935.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 95-103.
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