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[148] Der Kandidat der Gottesgelahrtheit Jonathan Tallywags aus der Grafschaft Sussex verbrauchte in seinem ersten Semester allabendlich 1 Gläschen Whisky, in seinem zweiten Semester 1 Glas, in seinem dritten 4 Gläser, in seinem vierten 1 Flasche, in seinem fünften 4 Flaschen, in seinem sechsten nur 5 Flaschen (da war er einem Methodistenprediger in die Hände gefallen); nunmehr stand er in seinem zweiundzwanzigsten[148] Semester und bei einer Gallone Whisky auf den Abend. Es war ein Mann in den besten Jahren.
Da starb sein Vater, der ehrwürdige Mister Tallywags aus Nutmegs (Sussex), und Jonathan sah sich vor die unangenehme Aufgabe gestellt, als einziger Sohn in den Nachlaß zu treten. Dieser zeichnete sich dadurch aus, daß er nicht vorhanden war. Nun war guter Whisky teuer. Der verlorene Sohn ging nach London. In einer schlaflosen Nacht, in der J. Tallywags sternhagelnüchtern war und dementsprechend litt, kam er auf den abenteuerlichen Gedanken, zu arbeiten. Sie können sich das Gelächter vorstellen, das sich erhob, als er diesen seinen Plan am nächsten Morgen im ›Fireship‹ am Tisch ankündigte; der besorgte Wirt kam herbeigelaufen, ob den Herren etwas fehle – so einen Krach machten sie! Schließlich verliefen sie sich, um anderswo weiterzusaufen, und Tallywags blieb traurig am Tisch zurück.
Da näherte sich ihm ein älteres Männchen, demütig, den Kopf leicht vornüber geneigt, flüsterte so etwas wie »Guten Tag, lieber Herr!« und setzte sich unaufgefordert an den runden Tisch, auf dem der Schnaps in großen Lachen stand. Tallywags sah ihn aus milde verglasten Augen an, seine Unterlippe zitterte leise – er wartete. Ja, sagte das Männchen, er habe am Nebentisch ein bißchen zugehört; das sei nicht recht vor Gott, gewiß, man könne es geradezu eine Sünde nennen – aber die Herren hätten so laut und deutlich gesprochen . . . Tallywags schluckte. Und er hätte gehört, sagte das Männchen, daß Herr Tallywags arbeiten wolle – und er, Männchen, habe einen Freund, der sei Verleger, und der habe einen Auftrag zu vergeben und suche demgemäß einen gelehrten Mann. Und der Herr, mit dem er hier zu sprechen die Ehre hätte, wäre doch, seinem ganzen Aussehen und seiner feinen Bildung nach zu urteilen, ein Mann der Wissenschaft, wie wäre der Name? Tallywags, sehr angenehm, sehr angenehm, er hieße Gingambobs, Abraham Gingambobs, und wenn der Herr Tallywags wolle, dann könnte man gleich zum Verleger gehn, wie . . . ?
Tallywags stand auf, weil der andere aufstand; er zahlte nicht, weil der andere zahlte – und er schlurrte hinter ihm drein, wohin jener ihn zog. Sie landeten in einem trüben, geduckten Durchgangshaus, kletterten vier gewundene Treppen empor und standen schließlich vor einer Tür, an der hing ein blaues Schild:
Nelson
Publisher
Hinein. Zwei Männer, die sich vergeblich den Anschein zu geben versuchten, als seien sie zwei Herren, ließen sich vorstellen, wurden vorgestellt, gaben vor, Brüder zu sein und Nelson zu heißen – Platz nehmen? Bitte? Ja –:
Es handele sich um ein Wörterbuch. Um ein deutsch-französisches Wörterbuch. He? Um ein deutsch-französisches Wörterbuch. Ob Herr[149] – Herr – hm – Tally . . . Tallywags – man werde ein Pseudonym wählen müssen – doch wohl deutsch und sicherlich auch französisch . . . ? Der Alte knuffte den Kandidaten in die Seite, der gab einen Laut von sich, den man bei nebligem Wetter als Ja auffassen konnte, Manuskripte raschelten. Bücher kollerten vom Tisch und wurden wieder heraufgeholt . . . und als sie die Treppe heruntergingen, war Herr Tallywags im Besitz eines Auftrages, ein Lexikon herzustellen, und eines Vorschusses von vier Pfund. (Diese Geschichte liegt lange zurück.) An diesem Abend besoff er sich wie eine Segelschiffsmannschaft, die nach zwei Monaten widriger Winde in einem Hafen einläuft. Acht Wochen später war das Lexikon fertig. Tallywags hatte ein paar befreundete Kapitäne konsultiert, die ihrerseits solche Lexika in der Kajüte mit sich führten und sie unter gewaltigem Fluchen heraussuchten – er hatte sich ferner der regen Mitarbeit einer gewissen Kitty Cauliflower zu erfreuen, die ihn in strittigen Fällen liebreich belehrte. Nunmehr senkt sich die Geschichte aus den Wolken dichterischer Einbildungskraft auf den Boden jener Realität, wo rechts gefahren wird.
Denn dergleichen, sagt sich der kluge Leser, gibt es nur in Romanen. Solch versoffene Kandidaten gehören Dickensschen Zeiten an; eher will ich, sagt der Leser, an einen verzauberten Drachen glauben als an einen Verleger, der Vorschuß gibt – was sind das für Geschichten . . . ! Gut und schön –: aber das Lexikon halte ich in Händen. Hier liegt es:
Neues
Taschen-Wörterbuch
Deutsch-Französisch
und
Französisch-Deutsch
von K. Ashe
Nelson, Editeurs
183 rue Saint-Jacques
Paris.
Ich wette um die gesammelten Werke eines Akademikers, daß dieses Buch auf keinem andern Wege als auf dem vorbezeichneten zustande gekommen sein kann. K. Ashe ist selbstverständlich ein Pseudonym, die Nelsons sind inzwischen nach Paris gezogen, und ein vollsinniger Mensch kann dieses Lexikon, das mir ein freundlicher Leser zugesandt hat, nicht verfaßt haben.
Deutsch ist bekanntlich da am schönsten, wo es an den Rändern gen den Wahnsinn hin verschwimmt: aus Kinderfehlern kann man mehr über die Muttersprache lernen als aus dem ganzen Goethe – und dieses Lexikon hat mir viele Abende verkürzt. Abgesehen von ›Söndagsnisse Strix‹ und ›The New-Yorker‹ habe ich lange nicht so gelacht. Schlag auf, lies:
Was ist ›abarten‹? Dégénérer. Gut, aber was ist ›abäschern‹? Was[150] ist ›Abbiß‹? Was: ›abblatten‹? Und tief betroffen liest du weiter. ›Mutzen‹? können Sie mutzen? Ich kann es nicht, oder doch nur selten. Und was mag das sein: ›Diskretionstags‹? Eher verständlich ist schon ›fragselig‹ und ›erbittlich‹, willkommene Bereicherungen der deutschen Sprache. Auch ›Hausverstand‹ und ›Leichenbuch‹ gehören in jedes Handwörterbuch; von ›Strafengesetz‹ und der ›Facklei‹ schon nicht zu reden. Dann aber wird es bewegter. Nachdem wir noch den ›Bahnzug‹ und die ›Sicherheitsanstalt‹ sowie das ›Seitengespräch‹ genossen haben, erfreuen wir uns an leichten Sprachstörungen der beteiligten Gehirne, die dem Herrn Kandidaten Tallywags geholfen haben auf seiner schweren Fahrt. Er schreibt:
»Die großblumische Esche«, was darauf schließen läßt, daß hier ein Kapitän aus der großen Seestadt Frankfurt am Main mitgetan hat; er schreibt die »Schüppe« und der »Kupferstüchsammler«, was richtig ist, weil man ja auch der Schürm und der Mülschreis sagt. Was aber ist eine ›Demutspflanze‹? Das ist eine Mimose.
Soweit das Deutsche. Nun ist da aber noch das Französische, und auch dies will gekonnt sein. »Parquet« heißt ›Spiegelfeld‹, und »profil« natürlich ›Durchschnittsansicht‹; daß aber ›Muff‹ »aboiement sourd«, ein dumpfes Gebell ist . . . das kann man nur nachts um vier Uhr verstehen, wenn der Whisky ölig-gelb in den Gläsern schaukelt. Man muß eben übersetzen können – und welcher Seemann könnte das nicht! Die helfenden Kapitäne haben ganze Arbeit gemacht. So, wie »sans-culottes« ›Hosenlose‹ heißt, so heißt ›Perlmutter‹ »mère de perles« – das leuchtet ein. Und das wimmelt von ganz alten französischen Wörtern, wie »tépide« für lau; und »portraiture«, was es gibt – sowie »maudissible«, was es nicht gibt, und was ›fluchwürdig‹ heißen soll – unrichtig ist nur »wurst«, was seltsamerweise ein ins Französische übergegangenes Wort ist und ›kleiner Munitionswagen‹ bedeutet. Das mag alles noch angehen.
Aber stürmisch wars, und die Nacht ging hoch, der Wind heulte an den Fensterscheiben, Kitty Cauliflower hatte auch ihrerseits den Kanal voll, und nun schlug die Wortkunst hohe Bogen.
Was um alles in der Welt ist ein ›Hühnerwerter‹? Was ein ›Leichmann‹ ist, weiß jeder, der es einmal gewesen ist; warum aber ›Gänze‹ nicht nur »tout« heißt, sondern auch »gîte non exploité«, eine nicht ausgenutzte Lage . . . das muß ein guter, alter Whisky gewesen sein, ein alter, guter . . . Und wie darf man, so man nicht van de Velde heißt, »Depot« mit ›Hinterlage‹ übersetzen? Und in jener Nacht, als Kitty in der Ecke lag und so herzbrechend schluchzte, daß sich die Katze ängstlich unter den Tisch zurückziehen wollte, was sie aber nicht konnte, weil dort Herr Tallywags lag und bellte, da entstand die Übersetzung für »sauvage«. Wild? Nein – »sauvage« heißt ›leutschen‹ – fragen Sie mich nicht, ich bin zu ergriffen.
[151] Es ist ein schönes Lexikon, und mein freundlicher Leser hats bei Herrn Delépine in der rue St. Antoine gekauft, also muß es doch wohl im Handel sein. Und mich verfolgt in den schwedischen Nächten, wo es nie ganz dunkel wird und die ganze Erde nachts aufbleiben darf, wie die Kinder, wenn die älteste Schwester heiratet – dann plagt mich eine Frage:
Woher bezieht man solchen wundervollen Whisky –?
Ich bin ein alter Hühnerwerter – aber das mutze ich nicht.
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